Stephanie Pongratz (14)

Revolte
Für eine Kultur des Friedens

(Eine Zukunftsgeschichte)

Überall Menschen, die es nicht bereuen, auf dieser Welt zu leben, es herrscht friedliches Zusammenleben, kaum Kriegen und Konflikte, die Umwelt blüht regelrecht auf …

Plötzlich zucke ich zusammen. "Quentus Mox, begeben Sie sich zu Compaxter 712.129 Quentus, in Raum 19 bitte, reißt mich die blecherne, mechanische Stimme aus meinen Träumen. Meinen Wunschträumen. Denn die Realität sieht anders aus, ganz anders…

"Geben Sie Ihren SON-Code ein, und wählen Sie anschließend das gewünschte Programm, ertönt die kalte Compaxterstimme erneut. Widerwillig befolge ich den Befehl, um einen neuen Schultag zu bewältigen.

Als ich die Tür des Schulgebäudes hinter mir schließe, hüllt mich der alles absorbierende Smog gnadenlos ein. Ich muss husten. Der Anblick, der sich mir bietet, ist erschreckend.

Es ist Stoßzeit; schimpfende und hupende Menschen versuchen vergebens, dem Stau zu entkommen. Eine dünne Hecke von verdorrten, grauen Büschen soll "die Schönheit der Straßen bewahren", wie es die Politiker ausdrücken. Auf mich haben sie eine gegenteilige Wirkung. Sie wirken, als hätte ihnen die beißende Zerstörung der brutalen Realität auch noch den letzten Lebensfunken ausgelöscht. Ich fühle mich ähnlich. Mutlos. Und schwach.

Auf der anderen Straßenseite entdecke ich, wie eine Gruppe von Dingos rücksichtslos beginnt, auf einen hilflosen Farko einzutreten. Früher wäre ich hingerannt und hätte dem kleinen Jungen geholfen – heute halten mich drei tiefe, große Narben, sie stammen von Messerstichen der Dingos, davon ab.

Niemand kümmert sich darum, wenn ein Mensch schwer verletzt oder sogar sterbend am Straßenrand liegt; jeder scheint nur für sich selbst, der Notwendigkeit wegen zu leben. Menschen streifen meinen Blick – Menschen mit verschlossenen, nichtssagenden Gesichtern und harten, kalten Minen.

Niemand sagt, was ihn an unserer Weit stört, niemand führt angeregte Gespräche – es wird alles hinuntergeschluckt. Kommunikation ist auf ein Minimum abgeflaut. Man hört keinerlei Liebesgeständnisse oder Streitereien mehr, die einzigen Gespräche werden auf neutraler, gefühlskalter Ebene geführt: Wann ein Termin stattfindet, oder welche Bande den letzten Anschlag durchgeführt hat.

Ars ich an den neu erbauten Wohnsilos vorbeikomme, springt mir ein Mann ins Auge, der ein kleines Mädchen hinter sich herzieht. Es versucht, sich zu wehren, will anscheinend nicht mit ihm mit. Es scheint ziemlich verzweifelt zu sein – es schreit, weint und versucht, sich loszureißen. "Ich will das nicht", schluchzt sie. "Du hast kein Recht, deine Meinung durchzusetzen", fährt er sie an, "Außerdem hör endlich auf, so blöd rumzuheulen. Das ist ja peinlich. Du darfst nicht weinen!" schreit er, als das Mädchen laut aufschluchzt.

"Weinen ist böse und schlecht und nicht akzeptabel! Es ist nicht erlaubt, Gefühle zu zeigen, hast du das noch immer nicht verstanden?! Du bist so dumm."

Das Mädchen ist verstummt, und lässt sich willenlos von ihrem Vater mitziehen. Plötzlich wird mir klar, dass ich als kleines Kind genauso war: aufstrebend, stur, auch sentimental, ich hatte vor, die Welt zu verbessern … und mir wird klar, dass mir die gleichen Anstandsregeln eingehämmert wurden: Du darfst unter keinen Umständen Gefühle zeigen, du musst den Mächtigen gehorchen, nie widersprechen, und du musst alles Notwendige über dich ergehen lassen. Alles hinunterschlucken.

Und mir wird bewusst, dass ich all diese Regeln befolge, akzeptiere, sogar respektiere. Ich lasse meinen Kopf gegen eine Hausmauer sinken. Da ist nur Leere – schmerzende, beißende, mächtige, mich übertrumpfende, über mich triumphierende Leere. Plötzlich kommt die Wut, und entgegen allen Vorschriften lasse ich sie zu. Dieses Gefühl, das mich auf einmal überrollt, ist stärker als alle Gesellschaftsregeln – nur weiß ich nicht mit ihm umzugehen.

Meine Fäuste beginnen wie automatisch gegen die Mauer zu hämmern – und irgendwie befreit mich das. "Revolte!" schreit mein Herz. "Revolte, Revolte!!!"

Vernunft, Akzeptanz und Anpassung befiehlt mein Kopf.

Erst. als dicke Blutstropfen eine Spur auf der Mauer hinterlassen, überwältigt der Schmerz. Ich bin wieder gefangen. Ich spüre, wie Tränen in meine Augen schießen – aber mein Verstand herrscht wieder über mich, und er drängt und verbannt diese Gefühle, die nicht sein dürfen, in den hintersten Winkel meines Bewusstseins.

Am Dachboden meiner Stief-Großmutter bin ich gerne. Hier ist alles zugelassen – hier bin ich in meiner eigenen Welt. Es liegen viele alte Dinge herum, teilweise Jahrhunderte alt.

Plötzlich entdecke ich etwas Seltsames: ein dicker Stoß eingebundener Blätter – das muss ein Buch sein! Vorsichtig nehme ich es in die Hand und blase die millimeterdicke Staubschicht weg. Buchstaben tauchen auf. "Unsere Zeit in Bildern", herausgegeben im Jahr 2013. Oh mein Gott, das ist fast 400 Jahre her! Ich schlage es auf, und beginne zu lesen.

Was ich in dem Buch entdecke, erscheint mir vollkommen surreal. Kleine Kinder, die lachend spielen, ohne dafür bestraft zu werden, riesige Menschenmassen, die feiern, ohne sich gegenseitig die Messer in die Rücken zu stechen; eine scheinbar unendliche Blmenwiese, und eine unglaubliche Tiervielfalt. Keine Bilder von unendlichen Kriegen auf der ganzen Welt, ein üppiger Regenwald, Schwarze und Weiße, Christen und Juden, die nebeneinander wohnen, ohne die anderen ausrotten zu wollen, und Menschen, die sich lachend umarmen. Ich denke, wir haben das Lachen verlernt.

Auf der letzten Seite finde ich einige Sprüche: "Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet und der letzte Fisch gegessen ist, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann" und "Wacht auf! Es ist fünf Minuten vor zwölf".

Und ich weiß: Es ist zu spät. Es ist fünf Minuten nach zwölf.

Ich spüre erneut, wie Tränen in meine Augen steigen – aber jetzt verfluche ich bewusst alle Regeln, und lasse die Trauer zu. Wie ein Vorbote rinnt eine Träne über meine glühende Wange, zuerst schluchze ich zaghaft, und dann fließen die Tränen, sie stürmen regelrecht.

Und mit ihnen, wahrscheinlich auch durch sie, wird alles Belastende nach außen geschwemmt.

Ich weiß nicht, wie lange ich weine, aber es kommt mir ewig vor.

Und ich spüre, dass ich mit jeder Träne freier werde – und dass ich nie wieder gefangen sein werde. Ich merke, dass dieser Wunsch, den ich so lange unterdrücken musste, wieder auftaucht: etwas zu tun für eine schöne, bessere, humane und lebenswerte Welt. Für eine Kultur des Friedens. Und plötzlich weiß ich aus einer tiefen Überzeugung heraus, dass es noch nicht nach zwölf ist.