Sara Passler (17)

Für einen Bruder

Ich sitze im Gras und Tränen laufen mir über die Wangen. Stumm bin ich.

Ich vermag es nur, das Rauschen des nahegelegenen Bächleins in mich dringen zu lassen und mich ganz meinen Gefühlen hinzugeben.

Der Gedanke an Rußland schmerzt. Es ist kein kurzer stechender Schmerz, sondern er ist weich und tief und verschmilzt in der Tiefe mit dem höchsten Glücksgefühl zu einem Strom der Gegensätze. Er will herausströmen, doch er ist eingesperrt in meinem Körper und ich in meinem Land.

Aber ein Stück von dem Strom verließ meinen Körper, verließ dieses Land vor langer Zeit und ist in Rußland – und wacht über dich, über meinen Bruder.

 

 

Verträumter Schatten

Verträumter Schatten
Blinzelst der Sehnsucht entgegen
Wind streifst Alltag aus den Sinn
Läßt atmen ungetrübte Luft

Kann Harmonie ersinnen –
Fließe über
Leg Schleier ab –
Versteckspiel hab ein End’.

Find mich in Gedanken
Laß sie frei – sie verschmelzen
Eingebunden in den Kreis
Alles erfüllt – alles eins.

Verträumter Schatten
Sehnsucht jäh gestillt
Beschränken nur noch Zeit und Raum
Mein augenblicklich Sein.

 

Dahinter

Allgemeine Informationen: Ich bin außenstehend. Ein Haus, eine Familie. Pro Mensch ein Zimmer und pro Zimmer ein Fernseher. Ein Einzelfall? Ich weiß nicht…

Eintritt. Lärm, aber ich sehe niemandem. Alle Türen sind geschlossen. Ein greller Schrei stößt aus der ersten Tür zu meiner rechten. Erschrocken trete ich ein ohne anzuklopfen. Ein Mann liegt gekrümmt am Boden. Er drückt beide Hände fest an seinen Brustkorb. Zwischen seinen Fingern quillt Blut heraus. Er wimmert. Vor ihm liegt ein Knabe, den Mund weit geöffnet, die Augen auf den Sterbenden fixiert. Ohne irgendeine Reaktion starrt er in den Kasten. Er scheint seine Umwelt nicht mehr wahrzunehmen. Ist auch er tot? Ich kann mich nicht bemerkbar machen, denn ich bin außenstehend, außerhalb von seiner Welt.

Ich gehe.

Nächste Tür.

Ein Schlafzimmer, zwei Betten, zwei Menschen, ein Mann und eine Frau. Auf der Kommode stehen Tausende Menschen mit Plakaten und Fahnen, Trillerpfeifen und Lautsprechern. Sie fordern: » Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!«. Der Mann drückt auf den roten Knopf. Die Gemeinschaft wird von einem schwarzen Loch verschluckt. Das Licht geht aus. Sie schlafen – Rücken an Rücken. Ich kann mich nicht bemerkbar machen, ich bin ja außerhalb.

Ich gehe.

Nächste Tür.

Ich vernehme angenehme Musik. Ich trete ein – leise – um niemanden zu stören. Ein Säugling sitzt in einem Wippstuhl vor dem altbewährten Familienfreund mit beruhigenden Farbkonstellationen und dazu pädagogisch wertvoller Musik. Ich bin leise. Der Kleine bewegt sich. Er dreht mir seinen kleinen Kopf zu und beginnt zu japsen. Er hat mich bemerkt, er läßt sich nicht täuschen. Aber ich bin doch außenstehend, in einer anderen Welt. Wie kann er mich wahrnehmen?! Er muß es auch sein, muß den Plan durchschaut haben. Ich sage: »Hallo Freund. Wir sind außerhalb, aber in Wirklichkeit sind wir innen, in der wahren Welt.« Und ich binde ihn von seinem Stuhl los und wir gehen.

Niemand hat uns bemerkt.

Und die Musik spielt weiter.