Stefanie Panzenböck (16)
1. Preis

Graue Monde

Das erste Mal sah ich sie am Schulbeginn in der dritten Klasse. Sie war neu, und ich hatte das Gefühl, dass sie von niemandem beachtet werden wollte.

Sie bekam einen Platz in der ersten Reihe. Während des Unterrichts starrte sie entweder konzentriert auf die Tafel oder in ihr Heft. Sie sagte kein Wort, und es stellte ihr auch niemand eine Frage.

Ich wusste nicht einmal, wie sie wirklich aussah. Beinahe ihr ganzes Gesicht war hinter einer dicken, fast schwarzen Brille verborgen. Wenn sie in der Pause in einer Ecke stand, schien es, als würde sie niedergedrückt vom Gewicht dieser Brille. Sie passte nicht. Eigentlich wirkte sie fast komisch, vielleicht lächerlich. Aber sie trug sie mit einer Ernsthaftigkeit, die mich beeindruckte. Ihre schmalen Lippen lagen wie ein gerader Strich zwischen Nase und Kinn, und ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, machte mir beinahe Angst. Sie war mir unheimlich, diese kleine Person mit dieser zu großen Brille. Manchmal beobachtete ich sie aus den Augenwinkeln, und jedes Mal, wenn sie sich zufällig umdrehte, glitt mein Blick an ihren schwarzen Brillengläsern ab, und ich ging weg.

Ich wurde unruhig bei dem Gedanken, dass ich zwar nur zwei schwarze Flächen, eine unauffällige Nase und einen roten Strich in ihrem Gesicht sah, sie aber alle Regungen meinerseits wahrnehmen konnte, wenn sie wollte; denn woher sollte ich wissen, in welche Richtung sie gerade schaute.

Ich fühlte mich nackt in ihrer Nähe, so als würde sie die Haut von meinem Gesicht ziehen und meine Augen ausschaben und alles dahinterliegende erkennen können. Ich fühlte mich auf eine unangenehme Weise durchschaut, und doch konnte ich mir nicht vorstellen, was sie denn überhaupt Interessantes durchschauen könnte. Aus welchem Grund sollte sie außerdem gerade mich ins Auge gefasst haben bzw. in das, was sich hinter diesen schwarzen Flächen befand.

Manchmal zweifelte ich, ob sie überhaupt Augen hatte.

Das erste Mal sprach ich mit ihr beim Einsteigen in eine Straßenbahn. Eine Stimme sagte plötzlich neben mir: "Könntest du mir helfen?" Und als ich mich umdrehte, erkannte ich sie, und wie selbstverständlich legte sie ihre Hand in meine, und noch etwas überrascht half ich ihr die Stufen hinauf in den Waggon. Sie bedankte sich, und ich stammelte ein verwirrtes "Aber gern."

Als sie mich wieder los ließ, spürte ich ein eigenartiges Wärmegefühl in meinen Fingern, das langsam vom Unterarm bis zu meinen Schultern kroch.

Sie hatte sich schon längst auf einen Sitz ganz hinten gesetzt. Ich nahm weiter vorn Platz, so dass ich mit dem Rücken zu ihr saß.

Ihre Stimme war sehr tief gewesen. Sie passte zu ihrer Ernsthaftigkeit und zu ihrer vollkommen schwarzen Kleidung, aber auf keinen Fall zu ihrer zarten, noch kindlichen Statur.

Auch ihre Haare waren schwarz. Bis auf einen hellen Streifen der Stirn, dem Kinn, dem roten Strich als Mund und ihren Händen hatte fast alles an ihr die Farbe ihrer Brillengläser.

Als ich das zweite Mal mit ihr sprach, war sie schon völlig blind. Das war drei Jahre später; sie hatte inzwischen die Schule gewechselt.

Ich saß auf einer Parkbank und wartete auf einen Freund, der vielleicht kommen sollte. Ich starrte auf meine Schuhe und schob Kieselsteine hin und her. Irgendjemand ging vorbei, ich reagierte nicht; dieser Jemand blieb stehen, drehte sich um; verwirrt hob ich den Kopf.

"Hallo", sagte sie. Ich starrte sie nur an, starrte sekundenlang auf ihre schwarzen Brillengläser, dann auf ihre gelbe Armbinde mit den drei Punkten, dann auf den dünnen, langen Stock in ihrer rechten Hand. Sie sah sehr alt aus, und ihre dünnen Lippen schienen noch schmäler geworden zu sein, so dass jede Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war. Ihre Anwesenheit flößte mir noch immer Unbehagen ein.

Sollte ich etwas sagen?

Sie setzte sich neben mich.

"Wieso hast du mich erkannt?" fragte ich, nur um irgendetwas zu sagen.

"Du riechst noch immer so nach Kirschen", meinte sie.

Ich schüttelte etwas verwundert den Kopf.

"Kirschen sind deine Lieblingsspeise, nicht wahr; du hast sie auch immer in der Pause gegessen."

Sie wurde mir immer unheimlicher. Die Tatsache, dass sie offensichtlich blind war, änderte nichts daran, dass sich in mir wieder dieses Gefühl von geistiger Nacktheit einschlich.

Ich hätte sie gern gefragt, ob sie nicht ihre Brille abnehmen könnte, nur um festzustellen, ob sie Augen hatte.

Plötzlich lächelte sie. Dieser dünne, rote Strich zog sich langsam auseinander, bog sich ein wenig nach oben und teilte sich in zwei schmale, lange Linien.

"Wie sieht das aus, wenn ich lache?" fragte sie. "Ich habe schon so lang in keinen Spiegel mehr gesehen. Ich habe dünne Lippen, nicht wahr?"

Ich nickte. Ob sie es gemerkt hatte? Sie seufzte.

"Du brauchst nicht zu lügen, wenn es hässlich aussieht", sagte sie.

"Nein, nein, das tut es nicht", bemühte ich mich zu sagen, "das tut es ganz bestimmt nicht."

Sie sah auf eine eigenartige Weise schön aus, wenn sie lächelte. Ungeniert starrte ich eine Weile auf ihre Lippen, nur um eine Beschreibung für dieses Lächeln zu finden.

"Starr mich nicht so an", meinte sie nach ein paar Sekunden genervt. "Ich sehe dich vielleicht nicht mit meinen Augen, aber ich fühle genau, was du machst. Du findest mich lächerlich, oder etwa nicht? Du hältst mich für dumm, beschränkt, weil ich nichts sehe, vor allem weil du glaubst, dass ich nichts sehe. Du siehst mit deinen Augen, aber ich, ich habe viel mehr Möglichkeiten, etwas zu sehen. Mit meinen Händen, meinen Lippen, manchmal sogar mit meinen Haaren. Kannst du mit deinen Haaren sehen?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Wenn ich in der Straßenbahn stehe, und alle Leute stehen eng aneinander gedrängt, und meine Haare berühren den Mantel einer Frau neben mir, weiß ich welche Farbe er hat… meistens weiß ich es", fügte sie hinzu.

Sie rückte näher zu mir, und ihre Haare streiften meinen Pullover.

"Er ist rot, nicht wahr?" und irgendwie war ihre Stimme jetzt so leise, fast bittend.

Ich zögerte.

"Ja, sagte ich dann, "er ist dunkelrot. Dunkelrot wie die Kirschen, die ich immer in der Pause esse."

Ich wusste nicht, ob sie mir glaubte, was hätte es geändert, wenn ich ihr gesagt hätte, dass der Pullover dunkelgrün war. Und wie sollte ich ihr erklären, dass ich eigentlich diejenige war, die sich dumm fühlte.

"Es wird schon kühl, und es dämmert, ich glaub’, ich wird’ nach Hause gehen", sagte ich und stand auf.

"Willst du den Mond berühren?" fragte sie plötzlich.

Sie stand auch auf und nahm mich bei der Hand; wir gingen in die Mitte eines großen Asphaltplatzes. Eigentlich wollte ich lieber nach Hause. Sie war anscheinend irgendwie verrückt.

"Der Mond ist hier oben, nicht wahr, du siehst ihn ja schließlich", meinte sie etwas spöttisch.

"Mach die Augen zu, und jetzt fällt er zu mir herunter, ich fang ihn auf, verstehst du?"

Ich hatte die Augen nicht geschlossen, und jetzt sah ich, wie sie ihre Arme um eine imaginäre, riesige Kugel schloss, sie streichelte, sich mit ihr drehte, "Fang ihn auf!" schrie sie, und machte eine leichte Schleuderbewegung in meine Richtung, und ich öffnete meine Arme, um den Mond nicht fallen zu lassen. "Na, wie fühlt er sich an?"

Ich wollte nicht sagen, dass ich gar nichts fühlte, und ich wollte nicht schon wieder lügen, also stand ich eine Weile unschlüssig herum.

"Wirf ihn zurück", meinte sie dann etwas bedrückt. "Du siehst einfach zu viel."

Ich versuchte eine Wurfbewegung Richtung Himmel, und war beruhigt, als ich den Mond wieder dort sehen konnte.

Sie hatte sich schon umgedreht, und war zur Bank zurück gegangen. Ich folgte ihr.

Sie hatte ihre Brille abgenommen.

Ihre Augen sahen aus, wie zwei graue Monde. Aber das sagte ich ihr nicht.

"Du siehst schön aus, wenn du lächelst", sagte ich nur.

Sie seufzte. "Dein Pullover ist trotzdem dunkelgrün."

Und dann mussten wir beide lachen.

Sie nahm schließlich ihren Stock von der Bank. "Bis bald", sagte sie, und ging weg.

Ich hörte noch eine Weile das Kratzen ihres Stockes auf dem Parkweg und ging dann in die Gegenrichtung davon.

Ich hätte noch gern weiter mit ihr mit dem Mond gespielt.