Martina Ogrisek (17)

Begegnung im Zug

Der Zug fuhr ein. Ich hatte bereits mehr als eine halbe Stunde, in der Kälte schlotternd, auf ihn gewartet. Kleine Dampfwolken stiegen aus meinen Nasenlöchern auf, es war wirklich ziemlich kalt. Der Zug hielt. Seine Maschinen pfauchten und pfiffen, die Bremsen quietschten, Schnell stieg ich ein, um der erbarmungslosen Kälte zu entrinnen.

Drinnen war es warm und beinahe wie ein Schock. Die trockene Zugluft, die heute wohl schon unzählige Menschen ein- und ausgehaucht hatten, schnitt mir für einen Moment den Atem ab. Mit aller Gewalt stemmte ich die Abteiltür auf. Unerträglich still war es, und die Stille schien dennoch zu flirren und zu vibrieren, als hätte sie ein Eigenleben, das sie, verhalten atmend, vor mir zu verbergen suchte.

Der Waggon war leer. Ich ging ein paar 4-er-Gruppen weit und ließ mich schließlich auf einen Platz fallen, der mir geeignet erschien. Ohne rechten Gedanken starrte ich einfach nur leer aus dem Fenster. Bald würde der Zug losfahren. Ich fühlte mich unwohl, so als würde mich dieses Stahlmonster beobachten. Unruhig trommelte ich mit den Fingern auf dem kleinen Brett unter dem Zugfenster. Ich konnte nicht stillsitzen. Wie ein kleines Kind wippte ich auf den Fußballen auf und ab, setzte mich alle paar Sekunden anders hin, summte kurz eine Melodie, nur um mich nach wenigen Takten verschämt umzublicken, ob mich wohl auch niemand hören konnte.

Die Abteiltür quietschte gequält, und ein junges Mädchen trat mit schwungvollem Schritt ein. Ich erschrak, und der Kaugummi, den ich ohne Unterlass zermahlte und von einer Seite auf die andere Seite meines Mundes schob, blieb mir fast im Hals stecken. Das war praktisch unmöglich! Selbstsicher kam sie den Gang entlang, und, obwohl der ganze Waggon leer war, steuerte sie meine Sitzgruppe an und ließ sich wortlos auf den Sitz mir gegenüber fallen. Ich starrte sie wohl noch immer verwirrt an, denn über ihre Lippen glitt ein leichtes Lächeln und verschwand genauso schnell wieder.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Ich dachte nach. Dieses Mädchen sah so aus wie ich! Sie war wie ich, und doch ganz anders. Das konnte ich auf einen Blick erkennen. Sie war so, wie ich immer sein wollte. Wie ich mich immer bemühte zu sein. Ihr Haar war so rot gefärbt wie meines, sie war geschminkt wie ich, ja Teufel, sie trug haargenau die Sachen, die ich heute anhatte. Dennoch waren wir wie Tag und Nacht. Sie schien nicht zu merken, wie ähnlich wir uns sahen, oder es interessierte sie nicht. Sie strahlte etwas aus, was ich selbst an mir nicht finden konnte, es umgab sie wie ein fließender Stoff, der die Haut nicht zu berühren, sondern gleichsam auf ihr zu schweben schien; es strahlte durch sie hindurch, wie Morgenlicht durch eine beschlagene Scheibe. Nicht von unbesiegbarer Angst getrieben, von Unsicherheit zurückgelassen und von innerer Ruhelosigkeit vorwärtsgepeitscht.

Verstohlen betrachtete ich sie, und mit Greuel stellte ich fest, dass sie wohl auch mich musterte. Es war als wäre ich einer Güteklasseprüfung unterzogen, und mein Magen krampfte sich zu einem unentwirrbaren Knäuel zusammen. Auf ihren Schuhen hatte sich von dem Matsch, der auf allen Straßen lag, ein Schrnutztand gebildet. Mein Blick heftete sich an diesem Fleck fest, und es war mir unmöglich, meine Augen davon zu lassen. Sie fühlte wohl, wie mein Blick sie quasi wie ein Messer durchbohrte. Gelassen blickte sie an ihrem Bein herab, lokalisierte die Stelle und fuhr mit einer beinahe unsichtbaren Bewegung über den Schuh. Der Fleck war verschwunden, und wie eine Katze räkelte sie sich in ihrem Sitz zurecht, ohne sich auch nur im Geringsten um ihre schmutzige Fingerkuppe zu kümmern. Ihre Ruhe machte mich noch nervöser. Sie blickte aus dem Fenster. Sie hob den Kopf, und für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich unsere Blicke. In ihren schwarzbraunen Augen, die meine sein hätten können, sah ich etwas, was mir ein noch nie erlebtes Gefühl vermittelte. Es lief mein Rückgrat hinunter, fuhr in meine Fingerspitzen und kribbelte auf meiner Haut.

Der Zug wurde langsamer. Die Bremsen quietschten, heulten wie eine im Kerker vergessene Seele. Ich nahm meine Tasche und stand auf. Entschlossen zog ich die Abteiltür auf. Öffnete die Tür des Waggons und erlebte wieder den Schmerz, der meine Lungen wie Tausende kleine Nadelstiche durchfuhr. Ich trat in die kalte Abendluft. Als der Zug wieder losfuhr, und ich mich umwand, konnte ich das Gesicht des Mädchens, das mir so ähnlich sah, nicht mehr ausmachen. Ich fühlte mich wie noch nie in meinem Leben.

Ich fühlte mich wie sie.