Elisabeth Neuwirt (17)

Der Zaun

Vor neun Jahren muss etwas passiert sein, etwas, das schrecklich war oder zumindest abstoßend, aber wenn ich einen Erwachsenen frage, der damals kein Kind war so wie ich, erhalte ich keine Antwort. Ich kann mich auch nicht mehr daran erinnern, wie es auf der anderen Seite des Zaunes aussieht oder ausgesehen hat. Ich besuchte noch die Grundschule, da war er plötzlich da, über vier Meter hoch, ein Drahtzaun mit grüner Abdeckung, durch die man nicht hindurch schauen konnte. Oben gerollter Stacheldraht. Polizeikontrollen in der ganzen Stadt oder nur in dem Teil, den wir kontrollierten? Wer waren wir? Damals, vor neun Jahren, als ich noch ein kleines Mädchen mit langen Zöpfen war, wusste ich es nicht.

Und heute?

Ich erinnere mich, die Klasse war fast leer, als ich an diesem Tag in die Schule kam, die Lehrerin ruhig und gefasst. Wo die anderen sind? Auf der anderen Seite der Grenze, Kinder, wir haben Krieg, das sind jetzt unsere Feinde. Und was sind Feinde? Wir kannten sie doch, jeden einzelnen, und mit fast jedem hatte ich schon einmal gespielt, sie lebten doch in unserer Straße, auf der anderen Seite. Gut, sie waren schon anders als wir, trugen andere Kleider und hatten einen komischen Akzent, aber waren sie wirklich anders? Wir Kinder haben den Unterschied nicht bemerkt.

Erst, als der Zaun errichtet wurde, bleute man uns den Unterschied ein, gut – böse, hüben – drüben, vertraut keinem, der drüben wohnt. Das ist verboten.

Der Ball, den ich mir von Betty ausgeliehen hatte und den ich nie zurückgeben konnte, durfte, liegt noch heute in meinem Zimmer, neun Jahre danach, er ist kaputt, ein leeres, ausgedörrtes Etwas. Ich sollte ihn wegwerfen. Aber ich kann nicht. Wie sie jetzt wohl aussieht, die kleine Betty? Oder ist sie schon weggezogen? Tot?

In diesem Krieg gibt es keine Opfer, es ist ein kalter Krieg, wir Kinder haben niemals gewusst, was das bedeutet, wir hatten nur plötzlich weniger Spielkameraden, und die beiden zweiten Klassen wurden zusammengelegt.

Wo sind sie hingegangen, Mama? Sie sind jetzt auf der anderen Seite, Kind.

Das verstehe ich nicht.

Später, wenn du älter bist, wirst du es begreifen, Kind.

Jetzt bin ich älter, neun Jahre älter, aber ich begreife immer noch nicht. Der Zaun steht da wie eh und je, Bilder fallen mir wieder ein, alt und abgestumpft, die Kindheit, an die ich mich kaum noch erinnern kann. Die erste Erinnerung ist der Zaun, wo alles begonnen hat und wo alles enden wird. Aber wird wirklich alles dort enden? Das Land hört dort auf, inzwischen ist dort die Grenze, aber für mich wird es immer nur der Zaun sein. Inzwischen ist er eine Mauer, dick, bewacht, keiner darf sich in die Nähe wagen, und wir wohnen längst nicht mehr dort. Oft komme ich hierher und schaue ihn an, schaue auf die andere Seite, fühle, dass dort drüben noch ein Teil von mir liegt. Vergessen.

Der Zaun ist ein Symbol unserer Freiheit.

Dieser Satz war mir schon damals, vor neun Jahren, suspekt. Die Welt wird zum Dorf, und wir schneiden die Stadt entzwei. Wer soll das verstehen? Am wenigsten ein kleines Mädchen mit langen Zöpfen. Es ist aber wirklich kein Krieg, noch nie wurde geschossen, in den Nachrichten spricht man zwar von kleinen Grenzstreitigkeiten, aber das betrifft uns nicht, obwohl wir ja auch an einer Grenze leben.

Der Zaun ist eigentlich ein Symbol für unsere Dummheit, denke ich mir immer, aber ich sage es nicht laut. Wer weiß, ob mich nicht jemand hört. Meinungsfreiheit. War ich jemals wirklich frei in meiner Meinung oder war ich nicht immer beeinflusst, durch den Vater, die Mutter, die Brüder und Schwestern? Oder den Onkel, der selbst Soldat ist und auf die auf der anderen Seite schimpft? Wenn ich versuche, kritisch zu sein, lächeln sie nur. Du wirst es schon verstehen, wenn du älter bist. Jetzt bin ich siebzehn, wie alt soll ich denn noch werden, dass ich es verstehe? Dreißig, vierzig Jahre? Oder älter?

Der Zaun, die Mauer, die Grenze bleibt. Sie steht und bröckelt nicht, obwohl überall die Farbe, der Putz von den Wänden blättert und die nackte Wand entblößt. Wir haben doch Krieg, woher sollen wir neue Farbe nehmen? Ich werde älter und ich begreife nichts. Ich bin immer noch das kleine Mädchen mit den langen Zöpfen, das weinend vor dem Zaun steht und nicht begreift, warum es nicht zu Betty gehen und mit ihr spielen kann. Bin ich deshalb ein schlechter Mensch? Muss ich ein schlechtes Gewissen haben, weil ich den Feind, den ich nicht sehen kann, der mir nichts getan hat, der nur auf der anderen Seite wohnt, in einem anderen Viertel, zufällig, der nur eine andere Sprache, Religion, Kleidung hat, nicht hasse?

Die Brüder sind in der Armee, weil es gut bezahlt wird und sie ansonsten arbeitslos wären, die Schwestern, alle älter als ich, sind in der Fabrik, die Gewehre produziert. Ich weiß nicht, was ich werden soll. Soldatin vielleicht? Ich könnte auch studieren. Aber was nützt mir ein Diplom, das nur hier anerkannt wird, in diesem kleinen Land? In diesem geteilten Land? Mit dem ich nichts anfangen kann, das im Ausland nichts wert ist?

Ich zweifle, aber das ist normal in meinem Alter. Du solltest dir aber langsam klar werden, wer du bist und woher du kommst, meint Mutter immer, sie lächelt.

Ob es an meinen Haaren liegt, dass ich mich ausgeschlossen fühle? Oder an der Haut, die heller ist? An meiner Mutter, die von der anderen Seite kommt? Vater liebt sie. Damals hat er keinen Unterschied zwischen hüben und drüben gemacht. Warum also jetzt?

Du bist noch jung, du verstehst das nicht. Du bist das Nesthäkchen, du hast es damals nicht mitbekommen, was sie uns angetan haben, du kannst es nicht verstehen. Aber wenn ich frage, was sie getan haben, bekomme ich keine Antwort.

Der Zaun ist ein Symbol für unsere Freiheit.

Eher ein Symbol für unsere Gefangenschaft.

Warum Vater mich geohrfeigt hat, als ich das gesagt habe, kann ich verstehen. Aber nicht begreifen. Ich verstehe mit dem Kopf, urteile aber mit dem Herzen. Vielleicht ist das der Fehler von uns Menschen, dass wir zwar wissen, was richtig ist, was gut ist und was wir machen sollten. Aber die Entscheidung fällt unser Herz, und meistens ist sie getrübt durch Hass und Abscheu.

Menschen kann man nicht verändern, Kind.

Aber man kann sie darauf aufmerksam machen, dass sie sich ändern sollten.

Mutter lächelt, sie hat meine Haare, die Brüder und Schwestern sehen Vater ähnlicher. Fühle ich mich benachteiligt, ausgegrenzt? Nein, keineswegs.

Ich muss meine Entscheidung bald treffen, Universität oder Arbeit. Aber eigentlich will ich nur weg von hier. Nicht, dass ich mich bedroht fühle oder dass ich ein wirklicher Kriegsflüchtling wäre. Ich will von der anderen Seite des Zaunes aus die Dinge betrachten, mir eine Meinung bilden. Jedes Ding hat zwei Seiten, aber wie kann ich mich für eine entscheiden, wenn ich die andere nicht kenne? Soll ich mit Fanatismus reagieren, jeden von drüben zum Teufel wünschen? Nur weil er drüben ist? Wer entscheidet, was drüben ist? Wer sagt mir, dass der andere schlecht ist? Die Religion? Die Hautfarbe? Die Kleidung?

Ja, ja, mit siebzehn kann man noch Ideale haben und groß reden. Da ist die Welt noch einfach, da fällt es einfach, zu sagen, mir sind Hautfarbe und Religion egal. Ich habe Angst, dass ich eines Tages aufwache und mir das nicht mehr egal ist, dass ich mein Herz meinen Verstand kontrollieren lasse. Das Herz sprechen lassen. Ein positiver Begriff, wer sein Herz sprechen lässt, sagt die Wahrheit. Aber welche Wahrheit ist das? Die wirkliche Wahrheit? Oder ist es doch nur die von allen anderen beeinflusste Wahrheit? Eine Wahrheit, die den Menschen gefällt, oder die Realität?

Ich soll mich unabhängig machen, selbständig werden, aber eine andere Meinung akzeptieren sie nicht. Die von drüben sind böse. Punkt, aus, Schluss. Wer etwas Anderes behauptet, lügt. Wo liegt jetzt die Wahrheit? Als kleines Mädchen mit langen Zöpfen war ich ihr näher, als ich gedacht habe. Viel näher. Deshalb muss ich weg von hier, weil ich fühle, dass ich mich von mir selbst entfremde, dass ich in Menschen, die ich noch nie gesehen habe, die mir auch nichts getan haben, das Böse sehe.

Noch ahnen sie nichts davon, Vater, Mutter, die Geschwister, dass ich so denke. Ich bin für sie immer noch das Kind, das nichts versteht. Das Kind, das viel besser versteht, denke ich mir und schweige. Warum schweige ich? Die Geschichtsbücher sagen mir, dass die anderen Schuld haben, und damit wäre doch eigentlich alles klar. Ich könnte darüber reden, weil es doch so im Buch steht. Und weil ich es in der Schule gelernt habe, wie all die anderen Kinder auch. Nichts unterscheidet mich von diesen anderen Kindern. Trotzdem, wir reden nicht über den Krieg. Es gibt nichts zu sagen. Vielleicht ist alles eine Lüge. Wohin führt uns dieser Weg? Wohin soll es führen, wenn den Kindern der Hass auf die da drüben eingebleut wird? Und wenn sich niemand traut, den Mund zu öffnen und eine kritische Frage zu stellen?

Das kleine Mädchen mit den langen Zöpfen in mir, das Kind, das ich früher einmal war, war weiser, als ich es jetzt bin. Ich wusste, dass der Zaun falsch war und dass er nicht hierhin gehörte. Hätten sie ihn doch an einem anderen Platz aufgestellt, in die Wüste, von mir aus, wo niemand wohnt, oder am Südpol. Warum ausgerechnet in unsere Stadt? Genau deshalb muss ich gehen, egal, was die anderen von mir halten, ich muss gehen und die Frage stellen, die Frage, die mir auf der Seele brennt und die ich in keinem Geschichtsbuch beantwortet finde: Warum? Warum der Zaun, die Mauer, die Grenze, der Krieg? Das kleine Mädchen von damals hatte keine Not, es gab genügend Wasser, Nahrung, die Felder wurden bestellt, die Wirtschaft wuchs, überall im ganzen Land. Warum also? Du bist noch immer ein Kind, das nichts versteht. Die anderen sind anders. Das reichte ihnen schon. Das ist der Grund. Und das ist auch der Grund, warum es niemals aufhören wird. In der Kinderstube lernen wir, was richtig und was falsch ist, wer gut und wer böse ist. Dass die anderen, die anders sind, die eine fremde Sprache haben, eine andere Religion, eine andere Hautfarbe, dass immer diejenigen, die sich unterscheiden, die Bösen sind, dass wir die Guten sind.

Es gibt keine Integration, Mutter wird heute noch angefeindet, wenn sie auf die Straße geht und ich? Mit meinen hellen Haaren und der hellen Haut falle ich auf, obwohl ich dieselbe Sprache, dieselbe Religion habe.

Kann es Frieden geben? Wenn jeder sich abgrenzt? Mit einem Zaun, einer Mauer, einer Grenze? Werde ich jemals sagen können, dass alle Menschen Schwestern und Brüder sind? Dass sie sich lieben und schätzen und dass es ihnen egal ist, welche Hautfarbe der andere hat? Mit 17 Jahren kann ich das nicht verstehen und auch mit 30, 40 und mit 50 Jahren nicht. Nur das kleine Mädchen mit den langen Zöpfen hat es durchschaut, sie weiß es. Sie weiß, dass die von drüben nicht anders sind als die von hüben. Aber ihre Stimme ist leise, und ich kann sie kaum noch hören. Wie soll ich fragen, wie soll ich schreien, wie soll ich für Verständigung kämpfen, wenn mich niemand hört?