Elisabeth Neuwirt (17)

Sie marschieren wieder

Ich bin nicht verrückt. Wirklich nicht.

Nur glaubt mir niemand.

Sonst könnte ich die abgeblätterte Farbe in den Korridoren nicht sehen. Die Krusten an den Tellern. Die nackte Glühbirne, die an einem verbogenen Draht nach unten hängt. Oder die schmierigen Matratzen. Es würde nicht so weh tun, wenn sie mich wieder fesseln und schlagen, ihre Fußtritte würden meinen Stolz nicht treffen. Weil ich gar keinen mehr hätte. Aber er ist noch da, ganz tief in mir. Ihm können sie nichts tun, und darum hassen, quälen sie mich.

Ich bekomme keinen Besuch, niemand hier bekommt Besuch, niemand ist jemals besucht worden. Oder hat die Anstalt verlassen.

Es ist keine Anstalt, weil die Ärzte fehlen. Manchmal wird jemand weggebracht, er kommt dann nicht wieder, nicht an diesem Tag. Ein paar Wochen später ist er meistens wieder da – oder auch nicht. Was sie mit denen machen, die sie wegbringen lassen, weiß niemand. Auch nicht die, die wieder zurück kommen, weil sie ja nicht wirklich wieder da sind. Ihr Geist ist tot.

Ihre Augen sind tot.

Sie haben sie umgebracht.

Nicht wirklich, natürlich. Sie sind ja immer noch da.

Jede Woche holen sie ein oder zwei, mich haben sie noch nicht geholt. Oft kommt jemand und starrt mich an, ich muss dann aufstehen, aber dann schüttelt er wieder den Kopf.

Zu dünn.

Nichts mehr da.

Nichts, das man verletzen könnte.

Außer meinen Stolz.

Aber davon wissen sie nichts.

Und selbst wenn, würde es noch eine Rolle spielen? Nein.

Nichts spielt mehr eine Rolle.

Nur der Platz am Fenster. Dort stehe ich stundenlang und starre auf die Auffahrt zum Haus. Viele Menschen kommen und gehen, mehr bleiben hier. Niemand bleibt lange hier. Für jeden Winter, den ich sehe, mache ich eine Kerbe in das Fensterbrett. Jetzt gibt es kein Brett mehr. Es gibt auch keine Zeit mehr.

Nichts mehr da.

Ich denke, atme, manchmal esse ich auch.

Alles ist so unwirklich, so falsch.

Der Fernseher läuft, sie marschieren wieder.

Ich auch, drüben, auf der anderen Seite. Verliererseite. Einbahnstraße. Am Ende landete ich hier. Das ist meine Geschichte.