Susanne Müller (15)

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In der linken oberen Ecke geht das tiefe Blau in Schwarz über; klare, flächendeckende Farbe. Das Blau, der Lufthimmel, die Ferne, mischt sich mit dem kleinen weißgelben Lichtschimmer… Das Blaugrün, der Fluss, die Silhouetten der Bäume… Im Hintergrund verschwimmt alles, nimmt eine nebelverschwommene Miene an, eine Unsicherheit, eine Verwischtheit.

Und unten, fast schon in der rechten Ecke, die kleine schwarze Gestalt, ein Schatten, einer auf Reisen. Vielleicht geht er am Fluss entlang, der keinen Anfang und kein Ende hat, jedenfalls auf dem Bild nicht… Vielleicht hat er tatsächlich keines. Eine kleine Gestalt jedenfalls, klein im Vergleich zu der, wenn auch verschwommenen Weltenlandschaft. Ein Wanderer.

Wieder ein Wandererbild. Eines von vielen, ein kleines bisschen unterschiedlich alle, aber immer mit dem Wanderer, in irgendeiner Form, irgendeiner Perspektive, unmissverständlich auf der Reise.

Sie zeichnet sich als den Wanderer. Immer zeichnet sie sich als den Wanderer. Entlang an ewigen Flüssen, blauen Pinselstrichwellen, kleinen Kieseln auf dem Grund. Kein Anfang und kein Ende. Ziellos, rastlos. Wie sieht das Ziel aus? Wie lang muss ein Fluss fließen, um hinzugelangen?

Sie lehnt sich zurück, legt den Pinsel auf den Holztisch und betrachtet ihr Bild. Aquarellmiene, verschwommen. Nur angedeutet. Sie fühlt sich leer, alle Wanderersubstanz ist aus ihr herausgeflossen auf das Bild, und sonst ist nichts da, nichts, das bleiben könnte…

Sie möchte rufen, nach jemandem, der sich möglicherweise in einem dunklen Winkel verborgen hält, vielleicht ein lebendig gewordener Wanderer aus einem Bild, der nun auf sie zukommt, sie anlächelt, und dann wäre man schon zu zweit auf der Reise…

Aber da ist niemand.

Oft läuft sie hinaus, die Straßen entlang, ohne etwas zu sehen, weil es ohnehin nichts gibt, das gesehen werde müsste. Grau läuft der Gehsteig vor ihr her, rollt den grauen Teppich auf, auf dem sie geht, ohne es wirklich zu merken, der Weg lang und kurz zugleich.

Andere Maler haben wache Augen, nach außen, Augen, die Dinge aufnehmen und wiedergeben können, sie fließen lassen in die Hand und auf das Papier. Sie nicht. Ihre Augen richten sich nach innen, von innen hinaus, auf den Knoten in ihr, den sie schon so oft aus sich herauszeichnen wollte und immer noch in sich trägt.

Kann man Hoffnung malen?

Hier gibt es keine Farben, mitten in der Stadt, und manchmal auch nicht draußen im Wald, wo sie den Bach entlanggeht, vielleicht ihren Wandererfluss, zwischen Bäumen und moosflüsternden Steinen und grüner Ruhe, die sie doch nicht spürt, nicht bis nach innen. Und sie ist innen, gedankenverloren, verloren in ihrem Knoten.

Sie geht, geht, und irgendwann ist der Weg zu Ende, vorläufig nur, und sie steht vor der Wohnungstür, die in ihre Höhle führt. Vielleicht hat sie einen Stein in der Hand oder einen Ast, von dem sie nicht mehr weiß, wann sie ihn aufgehoben hat. Ein Andenken an den Wanderweg, den sie doch nie verlässt.

Sie legt ihn auf den Holztisch. Steingarten, Grottenwinkel, moosgrünes Stück Wald in der Ecke ihres Zimmers.

Und wartet.

Vielleicht malt sie als nächstes eine Waldgrotte. Mit Wanderer.

Auf dem Tisch steht der alte Stoffsack, voll mit bunten Tuben. Sie hat sie heute gekauft, im Geschäft in der Stadt, wo sie immer hingeht, hat der Verkäuferin nicht ins Gesicht gesehen, als sie überlegte, was sie eigentlich wollte… Farben. Neue Farben, mit denen man entdecken kann, was man malt… Mit denen man Seele malen kann. Haben Sie so etwas?

Was wollen Sie?

Sie stotterte ein wenig, als sie Ölfarben kaufte, mit denen sie nie malen wird. Zu bunt. Zu kräftig für sie, zu stark, zu endgültig. Leuchten, das nicht zu ihr passt. Müsste Hoffnung nicht leuchten?

Wenn es um den Wanderer leuchtet, ist er am Ziel…

Mit gekrümmtem Rücken, über ein Blatt Papier gebeugt, sitzt sie später da, an ihrem Holztisch, leise zieht der Bleistift Striche über das Weiß, deutet Formen an, Räume, Figuren. Ihre Striche sind vorsichtig und sicher. Bleistiftstriche, die bleiben oder gehen können. Radiergummi gibt es immer. Aber nicht für die Wirklichkeit; nur für grauvergehende Bleistiftbilder. Entweder Aquarell oder Bleistift. Zart und dunkel. Seltsam eigentlich, dass es dunkle Aquarelle gibt. Dunkel und zart. Nein: Dunkel und verschwommen. Alle ihre Aquarelle sind dunkel, haben einen Hauch von Bedrohung um sich, ein Um-sich-Blicken, ein inneres Gefühl. Das Wandern. Oder bildet sie sich das ein?

Niemand da, den man fragen könnte.

Vielleicht wäre es ja heller, wenn da jemand wäre, wenn da Worte wären, gehörte Worte.

Sie wirft einen langen Blick hinter sich.

In der Ecke steht noch immer der alte Stoffsack mit den neuen Farben, stumm und abgestellt.

Er wartet auch. Die Farben warten.

Die Sonne zeichnet ein Bündel helle Streifen über Tisch und Boden, als sie sich gleich am Morgen an die Staffelei stellt, eine Art von Gutgelaunt, seit dem Aufwachen schon… Selten ist dieses gute Gefühl, das sie aus dem Traum mitgenommen zu haben scheint… Und jetzt will sie malen. Malt einfach, ohne etwas Bestimmtes im Kopf zu haben, malt, was ihr an Traumfetzen geblieben ist. Grün, grüne Fetzen, ausgefranste Flächen, wie ein zerrissenes Foto, dazwischen das Hellgelb… Sie versucht, die Sonne nachzumalen, diese Sonnenfarbe. Aber es gelingt ihr nicht, es wird zu gelb, zu kindersonnengelb. Keine Sonnenfarbe.

Sie lässt die Hand sinken, geht zwei Schritte zurück. Keine Sonne also, kein Licht.

Ich kann keine Hoffnung malen.

Das Sonnenlicht fließt wie der Fluss…

Sie nimmt den dicken Pinsel, taucht ihn in die dunkelblaue Farbe und übermalt die hellen Flächen mit kräftigen dunklen Strichen. Die grünen Fetzen scheinen darauf zu liegen, auf dunklem Untergrund, und wirken plötzlich ganz hell. Sie zeichnet Tropfen, grüne Tropfen, die von den Fetzen herunterrinnen, in das Dunkel hinein, und sich mit ihm vermischen…

Ein Fluss, denkt sie. Ein Fluss aus Dunkel und Hoffnung. Die Hoffnung trägt weiter, lässt den Fluss fließen.

Und plötzlich ist da eine Traurigkeit, eine lächelnde Traurigkeit in ihr, ein Lächeln unter Tränen, wie grünes Dunkel…

Sie steht auf.

Wir kommen nie an. Wir sind Wanderer, wandern an Flüssen entlang, die andere geweint haben, und kommen nie an.

Die Hoffnung des Wanderers ist ein Ziel…

Wieder ist sie in die Stadt gegangen, zwischen Menschen in Eile, hat sich umgesehen und war gar nicht in Eile, nicht wirklich, nur in sich selbst, und wusste doch nicht, warum sie sich beeilen sollte. Wanderte umher, ging schließlich in das Geschäft, hat sich vor die Regale gestellt und die Farben betrachtet…

Grün. Ein smaragdenes, helles, leuchtendes Grün, ruhig, in sich, und in sich eine Kraft, die zu leuchten schien.

Es war Plakatfarbe, die sie kaum brauchen kann. Sie hat sie gekauft, trotzdem, hat die Verkäuferin angelächelt, ohne zu wissen wieso, hat dann lang gebraucht, um das Geld auf den Ladentisch zu zählen, um sich die Farben, vor und in sich das neue Grün, hat sich in ihrem Lächeln und Zählen verheddert. Irgendwann lag das Geld da, sie nahm die Farbe, immer noch lächelnd, und ging.

Hoffnung, denkt sie, ich werde die Farbe Hoffnung taufen.

Sie steht vor einem Bogen Packpapier, den sie an die Staffelei gelehnt hat, merkwürdig zweckentfremdet hängt er da, und sie öffnet das Farbglas, lächelt, taucht den Finger hinein und malt Linien auf das Plakat, nimmt dann den dicken Pinsel und streicht, streicht Grün über das fahle Weiß, malt und malt, bis das ganze Blatt vor ihr grün ist.

Die Farbe sieht jetzt nicht mehr ganz so schön und strahlend aus wie noch im Geschäft, in dem Glas, aber immer noch geht in dem jetzt düsteren Raum ein gewisser Glanz von ihr aus… Grün, mitten in ihrem Zimmer.

Sie setzt sich in die gegenüberliegende Ecke, an den Tisch, und schaut, sitzt nur da, starr, und blickt auf die leuchtende Fläche Grün an der Wand…

Ich habe ein kleines Stückchen Hoffnung im Zimmer, denkt sie.

Es hat zu regnen begonnen, nicht wirklich fest, gerade so, dass man es sehen kann; Fäden, die vom Himmel ziehen, warm fast. Sie ist hinausgegangen, die Straße entlang, vor sich hin, hat auch diesmal nicht den grauen Asphalt und den Straßenlärm bemerkt, nichts von dem, was die Stadt umgibt, aber sie hat den Regen bemerkt, der auf sie heruntergelächelt kommt, der sich auf sie legt. Sie hat nicht zu Boden gesehen, auf das Grau, sondern in die Luft, in den Himmel,… Ein anderes Grau, und etwas Lebendiges, irgendwie… Sie kann nicht messen, wie lange sie geht, aber irgendwann ist sie auf einem Steinweg am Waldrand angelangt, außerhalb der Stadt, und sie merkt es kaum, merkt nur den Regen, der etwas Frisches in ihr und in der Umgebung regt, der etwas aufweckt. Tropfen fallen auf das Blätterdach über ihr, geräuschvoll jetzt, und es scheint ihr, als würden die Blätter von Tropfen zu Tropfen grüner, leuchtender, lebendiger. Freundlicher, freudiger. Als würde in den Regentropfen ein wenig von ihrer neuen Farbe stecken…

Sie muss lachen bei dem Gedanken…

Die Wanderin zieht hinaus… Es zieht sie hinaus….

In der Nähe rauscht der Bach. Vielleicht ist es auch ein Fluss. Sie weiß es nicht. Sie beschließt, dass es ein Fluss ist. Ihr Fluss.

Sie bückt sich, kriecht durch die Büsche, in die Richtung, aus der das Flussrauschen kommt, beginnt zu laufen,

stolpert –

Sie bleibt stehen, bückt sich. Vor ihr im Gras liegt ein Stein, ein schwarzer Stein mit heller Musterung, die glänzt, nass vom Regen. Er glänzt ihr entgegen. Sie hebt ihn auf, steckt ihn ein, holt ihn wieder hervor.

Vor ihr ist der Bach, der Fluss vielleicht. Ja, es ist ein Fluss. Sie setzt sich auf einen großen Stein am Ufer und beobachtet den Fluss, wie er fließt, immer weiter und weiter, und gar keine Zeit findet, stehen zu bleiben und um sich zu schauen, etwas zu sagen, zu lächeln –

am Ziel zu sein –

Sie sieht auf, lächelt. Am Ziel. Sie holt den Stein aus der Tasche, betrachtet ihn. Fährt mit den Fingern zart seine Musterung nach. Vielleicht sind es Zeichen.

Sie könnte versuchen, sie zu malen. Den Stein, die Zeichen.

Vielleicht bedeuten sie etwas.

Vielleicht, vielleicht bedeuten sie Ich.

Die Wanderin ist stehengeblieben, sitzengeblieben, hat geschaut, gelächelt, gedacht –

gesagt. Sie schaut auf, formt die Lippen zu einem Wort: "Ich." Und dann: "Ich bin da."

Die Wanderin hat angehalten auf ihrem Weg. Hat etwas gefunden. Hat… sich gefunden. Hat zu ihrem Ziel gefunden. Und sie hält etwas in der Hand, das glänzt. Glänzt wie Hoffnung…

Das Ziel des Wanderers ist Hoffnung…

Die Hoffnung des Wanderers ist ein Ziel…

Sie hat ein Ziel.

Sie ist am Ziel.