Susanne Müller (16)

Weißt du…

Ich möchte dir etwas erklären…

Stell dir vor, du bist neu hier; hier, auf der Welt. Einfach auf einmal da, aus Versehen vielleicht, und da ist nichts, das du kennst. Menschen sind dir fremd, ihre Gedanken, und wie sie sprechen und warum…

Stell dir vor, du kennst ihre Sprache nicht, musst den Klang ihrer Worte lernen, erproben, und lernen, was sie bedeuten. Das ist schwierig. Gut zum Beispiel: G-u-t. Weißt du, was es bedeutet? De musst es erfühlen. Oder Böse. B-ö-s-e. Kennst du es? Wie ist es? Kannst du es erklären? Probiere ihn, den Klang.

Es dauert lange, bis du es auch kannst.

Ist dir das zu unverständlich?

Stell dir vor, du stehst am Ufer eines Wassers, allein, reglos, und starrst hinein… Und plötzlich kommen Menschen, eine ganze Menge, und springen ins Wasser, sehen dich, ergreifen deine Hand und ziehen dich mit; du schwimmst, irgendwohin, das Ufer gleitet immer weiter in die Ferne, du blickst zurück, immer wieder, doch du kannst es nicht halten, weil du schwimmen musst, um nicht zu ertrinken, allein. Wohin geht die Reise? willst du fragen, um etwas Festes zu wissen, doch sie sind in ein lebhaftes Gespräch vertieft, hören dich nicht, und du wirst schwimmen und schwimmen, weil du musst, und irgendwann ankommen, – vielleicht – , und vielleicht ganz plötzlich, ohne es zu ahnen. Und du wirst vielleicht keine Zeit haben zu überlegen, ob es dir hier gefällt, du bist ganz einfach da… und zurück kannst du nicht.

Verstehst du mich?

Stell dir vor: Es ist kalt, grau, peitschendes Regenwetter… Die, die um dich sind, mögen Regen, stehen lächelnd im Freien, den Kopf im Nacken, und lassen das Regenwasser an sich herunter fließen… Ein paar auch, die sich still halten, nicht behaupten, Regen zu mögen, vielleicht nur durch das Fenster hinaus starren –, aber auch nicht behaupten, Regen nicht zu mögen… Nur du stehst draußen im Regen, die Arme in dem weiten Pullover um die Brust geschlungen, den Kopf ein wenig gesenkt, ausdruckslose Kühle im Gesicht, und wartest. Wartest immer noch auf den Streifen Sonnenlicht, der über den Boden fließt, dich vielleicht wärmt. Und du siehst dich um und denkst, dass niemand außer dir zu warten scheint… Und vor allem: Der Himmel ist wolkenverhangen.

Verstehst du, was ich meine?

Stell dir vor, du stehst auf einer Wiese, weit und ruhig, und da ist nichts, wovor man sich fürchten müsste… du hast dich nicht gefürchtet, nicht bis jetzt; vielleicht warst du mit irgendetwas beschäftigt, hast nicht darüber nachgedacht, was dich hier erwarten, bedrohen könnte… Insekten vielleicht, die dich stechen könnten. Oder… das Wetter. Ein Sturm, ein Gewitter – ein Blitz vielleicht. Eine weite Wiese bietet kein bisschen Schutz, weißt du. Ja, jetzt, wo du darüber nachdenkst … Ist da nicht etwas? Furcht? Es ist Wind aufgekommen, glaubst du – doch du bist dir nicht sicher. Schwankst. Doch … da ist Wind, und er wird immer stärker. Ist er nur da, weil du an ihn gedacht hast? Vielleicht – doch er wird stärker, wird zum Sturm, du kannst dich nicht wehren, er hüllt dich in eine Spirale, ein Wirbelsturm. Du wirst herumgewirbelt, verlierst die Orientierung, die du hattest, oder nur zu haben glaubtest… Denn: Wo ist eigentlich dein Haus? Stand es nördlich der Wiese oder östlich? Du weißt es nicht. Wie sollst du jemals wieder nach Hause finden? Du weißt nicht, ob der Sturm je wieder aufhören wird. Er ist unregelmäßig stark und schwach – aber wird er je aufhören? Du weißt es nicht, und du weißt auch nicht, ob du überhaupt wieder nach Hause willst. War es denn eigentlich irgendwann dein Zuhause? Du weißt es nicht, du weißt es nicht…

Und du wartest, zeitlos, irgendwo in diesem Wirbel, und beginnst vielleicht irgendwann von innen heraus zu verzweifeln…

Verstehst du jetzt?

Weißt du jetzt, wie ich mich fühle? Immerhin bin ich hier, ausgesetzt, irgendwo mitten im Leben, das eine Welt ist.

 

Nur Linien

Sie sitzen auf dem Bett, das zerwühlt ist, einander gegenüber, zwischen den Kissen. Sie sitzt im Yogasitz, hat die Arme auf die Knie gelegt und starrt darauf. Er hockt gekrümmt zwischen Kissen gelehnt und spielt mit dem Stift in seiner Hand. Dazwischen fallen leise Worte.

Er hat wieder begonnen, gedankenverloren Muster auf ihren Arm zu zeichnen, verschlungene Linien, die dünner und dicker werden. Er bemalt ihren Unterarm, vom Handrücken beginnt er, zieht um das Gelenk Kreise, fährt weiter in Schlangenlinien bis in die Ellbogenbeuge, wo er innehält, umkehrt und zurückfährt, langsam, gedankenverloren, doch der Strich ist fest. Er bemalt den ganzen Unterarm, malt dort, wo früher der Gips war, damals, am Anfang. Ja, der Gips, da fand der Stift zum ersten Mal hin. Der Stift war es nur, damals, der den leer weißen, schon ein wenig grauen Gips zum Leben erweckte, der Muster malte, unwillkürlich, der aus ihnen Bilder modellierte und irgendwo, tief unter der Haut, kitzelte. Später drang dann die Stimme dazu, leise zuerst, die fragte, was denn passiert sei, mit dem Arm, wegen des Gips eben. Und die ihre, die darauf stockend antwortete. Erzählte. Und schließlich fragte die Stimme, ob es ihr nicht schon besser ginge, mit dem lebendigen Gips. Sie musste lachen, nickte. Diese Ideen. Und dann war die Verbindung da, mit dem Stift und der Stimme und dem eigenartigen Gefühl unter ihrer Haut… Lauter Fäden, die ein dichtes Geflecht zu ergeben schienen…

Er hat weiter Muster gemalt, für sie, später, als kein Gips mehr da war, auf ihre Haut, immer mehr, und immer anders, was gerade in ihm war, da hatte er Ideen, Linien und Wellen und Spiralen und Kreise, hineinverwobene Buchstaben, Worte, Bilder, Augen, sogar Lächeln kann er hineinverstecken, manchmal, nur manchmal.

Sie beobachtet sein Zeichnen, wartet.

»Malst du mir ein Lächeln?« Sie möchte ein Stück Verbindung haben, jetzt gleich.

Er schüttelt leise lächelnd den Kopf.

»Du kriegst etwas Anderes.« Er malt weiter, langsam, sinnlose Striche Schwarz, und schweigt. Sie beobachtet die Linien, die er zieht, und irgendwie sind es in diesem Moment wieder die Linien des Stiftes und nicht seine…

»Was malst du?« Die Worte schlagen in das stumme Warten.

Er antwortet nicht.

Wieder kriecht Stille zwischen sie. Sie lauscht, wartet, innerlich ungeduldig.

»Arbeitest du morgen?« fragt sie schließlich, bloß so, sie weiß es ohnehin.

Er nickt. »Ja…, leider.« Nach einer Pause sieht er auf. »Wir hätten etwas unternehmen können.«

»Mhm.« An den Fluss fahren, zum Beispiel, denkt sie, und ein Lächeln flackert auf. Sie denkt an die Tage, Abende, die sie zwischen den Steinen am Ufer verbracht haben, und wie sie barfuß durch das eiskalte Wasser gewatet sind, Hand in Hand. Etwas in ihr dreht sich schmerzhaft um, sie fröstelt unwillkürlich.

Er hält im Zeichnen inne. »Entschuldigung.«

Sie schweigt, gibt sich nicht die Mühe, den Mund zu öffnen und zu erklären.

Eine lähmende Stille fällt über sie. Sie betrachtet die schwarzen Linien, die sich schon hinaufziehen und winden bis zu ihrer Schulter, diese ummalen und am Schlüsselbein entlang weiterfahren. Der Stift kratzt ein wenig.

Sie schaut. Worauf wartet sie? Es sind nur Linien –

Eine kalte Welle Enttäuschung drückt in ihr. Wieder fröstelt sie. Sie entzieht sich dem Stift, rollt sich zusammen, an das Kissen gelehnt. Schweigt.

Diese Stille. Die Atmosphäre ist immer leiser geworden, nichtssagender. Selbst die Muster sind sprachlos. Früher haben sie erzählt, in Bildern. Sie lässt den Blick über ihren Arm gleiten, die Linien entlang, hinauf bis zu ihrer Schulter, zum Schlüsselbein… und findet nichts. Immer Wellen, Kreise, Spiralen – kein Bild. Spiralen, die sie umwinden. Ihr schwindelt, etwas steigt in ihren Kopf, eine Art schweres Schwarz… Ein beklemmendes, enges Warum.

Sie springt auf, geht ins Bad und schließt die Tür hinter sich. Im Spiegel scheinen die Zeichnungen lebendig zu werden, alles dreht sich, seine Muster drehen sich, sie wird bedrängt von den Spiralen und ist gefangen in der Beklemmung… und keine Freundlichkeit in den Linien, nur Gefängnis.

Sie dreht den Wasserhahn auf, wäscht und schrubbt an den Linien, bis sie verblassen und die Haut rot und rau wird… Sie will diese Muster nicht behalten, es wird ihr zu eng, sie kann nicht atmen, sie muss weg, hinaus, in ganz neue Bilder… Schließlich hält sie inne, schaut auf. Aus dem Spiegel blickt ihr blass und verwirrt ihr Gesicht entgegen. Von draußen klingt Wirklichkeit unpassend in ihre Gedanken; er ruft. Ob alles in Ordnung sei mit ihr.

»Ich komme gleich!« sagt sie laut, und ihre Stimme kommt ihr ganz unwirklich vor.

Sie schließt die Tür auf, geht zurück ins Zimmer, wo er auf dem Bett sitzt und ihr wartend entgegenschaut. Schweigend zieht sie Jeans und Pullover an, starrt zu Boden.

Es geht nicht.

»Gehst du?« fragt er, verwundert, und überrascht, unsicher. Sie nickt nur, nimmt ihre Tasche vom Boden und geht zur Tür.

»Wann sehen wir uns?« ruft er ihr nach, während er die Decken zurückschlägt und das Leintuch glattstreicht.

Sie bleibt stehen, wendet sich um. Sieht ihn an. Schüttelt stumm den Kopf.

Er starrt sie einen zeitlosen Augenblick lang an – versteht dann. Sie sieht ihm in die Augen, beinahe fest, und schüttelt nur langsam den Kopf. Dann dreht sie sich um und geht. Hinter ihr schnappt die Tür ins Schloss.

Es geht nicht mehr.

Sie steht auf der Straße, allein.

Nichts geht mehr.

Leer. Leere, die schmerzt.

Ihr Arm ist rot und brennt. Sie starrt ihn an.

Es ist gut, dass er weh tut.