Susanne Müller (15) 4. Preis

SCHATTENGEFANGENE

Ich blicke auf.

Es ist spät. Die Dunkelheit hat sich bereits wie eine Decke über die Stadt gelegt, gedämpft dringt noch der Straßenlärm herüber, die Laternen werfen ihr trübes Licht zum Fenster herein.

Gott sei Dank. Sie werden in kurzer Zeit das einzige Licht sein, das einzige Zeichen von Wirklichkeit.

Sie werden wiederkommen, die Schatten, sobald ich das Licht ausknipse, werden ihre unheimlichen Formen an die Wand malen, die sich beugen und winden, als würden sie jeden Moment auf mich zu gekrochen kommen, langsam, zäh, geräuschlos, langsame Vernichtung.

Und wieder wird etwas in mir sterben.

 

Ich liege im Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, das Licht ausgeknipst, zwinge mich, auf die – diese – Wand zu starren, wo sie auftauchen werden, sobald sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben.

In mir regt sich bereits die Angst, die Angst vor der Angst, die ich vor den Schatten habe, kriecht kalt den Rücken entlang, setzt sich in mir fest, und mit ihr kommen sie. Ich sehe sie genau. Langsam und plump kriechen sie die Wand entlang, mit großen Köpfen, viel zu groß für die mickrigen Körper, die ständig behäbig zu nicken scheinen; mit unsichtbaren Augen, die mich ständig fixieren; schwarz und bedrohlich, wie riesige Käfer und Raupen, die mich zu verletzen drohen; sie scheinen zu schnaufen, warm und faulig ihr Atem in meinem Gesicht, übelkeitserregend, wenn mir nicht schon schlecht wäre vor lauter Angst; ich fühle sie auf mich zukommen, will mich wegdrehen, spüre sie in meinem Rücken, gleich werden sie mich berühren –

 

Nein. Ich wickle mich aus der viel zu warmen Decke, stehe auf, öffne das Fenster. Kühle Nachtluft, ferne Motorengeräusche, das dumpfe, orange Licht der Straßenlaternen. Stilleben der Wirklichkeit. Irgendwo zirpen Grillen. Wenigstens ist Spätsommer, noch manchmal laue Nächte, sternenklar, etwas Wohliges und Friedliches in der Luft. Niemand verfolgt mich. Ich kann hier stehen und die reine Nachtluft einsaugen, solange ich will. Friedliche Stille – nicht stumm und starr, sondern ruhig. Ohne Stress. Der Geruch von Herbstblumen aus dem Garten und der Duftlampe auf dem Tisch. Keine Hektik, kein Alltag. Als ob die Zeit stillstünde.

Darum liebe ich die Nächte. Wenn ich in die Stille des Gartens horche, wird die kalte Einsamkeit um mich warm und nicht mehr spürbar.

 

Schon als Kind hatte ich stets Angst. Sie war von Anfang an, so weit meine Erinnerung zurückreicht, ein Teil von mir. Ich fürchtete mich vor den alltäglichsten Dingen – vor dem roten Kontrolllämpchen des Fernsehers, vor der Leuchtanzeige des Radioweckers, vor der Toilettenspülung. Vor der Dunkelheit – nicht, weil ich an Geister glaubte; eher vor der Undurchdringlichkeit und Leblosigkeit dieser Finsternis. Vor den Schatten, die die Pflanzen auf dem Fensterbrett im Schein der Straßenlaternen an die Wand warfen; riesige, unförmige Riesen, die sich im Windhauch bewegten, als würden sie kriechen.

 

Albträume wegen der Schatten. Ich habe Angst, verfolgt zu werden. Beobachtet zu werden von stillen Wesen, die alles über mich wissen, die hinter meinem Rücken den Kopf schütteln über mich, die sich irgendwann auf mich stürzen –

 

Ich rettete mich ins elterliche Schlafzimmer, klagte über schlechte Träume, die wurden eher akzeptiert, waren üblicher als die Angst vor bloßen Schattenbildern (Wer wird sich denn vor Schatten fürchten!, Dafür bist du doch viel zu groß!), ließ mir über den Kopf streichen, genoss die plötzliche Geborgenheit, weinte mich irgendwann in den Schlaf.

Mit neunzehn kann man sich nicht mehr in Mutters Schoß verkriechen.

 

Stell dich auf eigene Füße, Lara. Ich habe die eigene Wohnung bekommen, zu Studienbeginn, als Auftakt zum selbständigen Leben. Letzte Hoffnung, die in mich investiert wird. Irgendwann wird unsere Lara doch auch erwachsen werden. Irgendwann wird unsere Kleine doch auch Freunde finden. Irgendwann müssen wir sie ja loslassen.

Natürlich denken sie so. Es ist ja auch nicht normal, dass eine Neunzehnjährige die gleichen Ängste hat wie eine Vierjährige. Dass sie sich abkapselt und nichts mit Gleichaltrigen zu tun haben will. Ich war das Sorgenkind, verschlossen, unselbstständig, ohne Eigeninitiative, eine kleine graue Maus. Und habe mich noch immer nicht geändert.

Ich frage mich, ob Mutters Hoffnung jemals in Erfüllung gehen wird. Ich kann aus meiner Haut nicht heraus.

 

Ihre Augen auf meinem Rücken. Die einsame graue Maus lässt sich auch einmal blicken. Na ja, zu den Vorlesungen muss sie kommen. Sitzt stumm in ihrer Ecke, nein, in der Cafeteria taucht sie auch nie auf, sie wohnt auch nicht im Studentenheim, keine Ahnung wo. Sie redet ja mit keinem. Keine Ahnung, was das soll.

Bestimmt reden sie über mich. Ich höre sie tuscheln, ohne ein Wort zu verstehen, spüre ihre Blicke auf meiner Haut brennen, mich verfolgen.

Ich gebe ihnen auch genug Anlass zu tuscheln.

 

Nein, ich kann nichts mit ihnen unternehmen. Sie starren mich an, verfolgen mich, kontrollieren mich, sprechen mich an mit Worten, auf die ich nichts erwidern kann. Ich bin weder lässig noch schlagfertig, ich bin auch keine Unterhaltung für sie. Ich bin und bleibe ein Angsthase. Ich wage es noch nicht einmal jemanden anzusprechen.

 

Jemand lächelt mir zu, ich versuche zurückzulächeln, mein Gesicht erstarrt zur Grimasse. Wer ist das überhaupt, ich habe nichts mit ihr zu tun, ich kenne sie nicht, tut mir Leid, ich kann nicht anders. Unsicher blicke ich zu Boden.

Bis zur Straßenbahnhaltestelle gehe ich schneller.

 

Die Schatten in meinem Rücken, sie summen klagende Melodien, um wen trauern sie denn, was soll das, mir wird unheimlich, warum diese schauerlichen Töne – mir läuft ein Schauer über den Rücken. Das Summen wird zu Worten, anklagend, Wellen auf mich zu, Warum, warum, klagen sie, warum lachst du nicht-lachst du nicht-du nicht-nicht-nicht... Wie ein Echo klingen die Worte in meinem Kopf nach... Lachen, schreien, reden!, summen die Schatten, Rede mit ihnen-mit ihnen-ihnen-ihnen... Lauf auf sie zu...

Ich kann ihre Stimmen nicht ertragen, will flüchten, halte mir die Ohren zu, doch die Stimmen hallen in meinem Kopf nach, anklagend. Sie verfolgen mich, hetzen mich auf meine Verfolger zu, wollen mich mitten in die Gemeinschaft der anderen plumpsen lassen, wo ich doch gar keinen Platz habe.

Lauf auf sie zu-zu-zu...

Lasst mich in Ruhe, lasst mich doch in Ruhe! Lasst meine Angst nicht noch wachsen, sie hockt ohnehin kalt und schwer in meinem Nacken, drückt mich nieder, lasst sie nicht noch schwerer werden!

Schattengefangene.

 

Ich kneife die Augen zusammen, reiße sie wieder auf: Die Wirklichkeit ist noch da. Als sei nichts gewesen. Autos fahren, Menschen unterhalten sich, Vögel zwitschern, die Sonne bescheint die nassen Flecken auf dem Boden vom gestrigen Regen. Die Luft ist frisch und klar.

Alles in Ordnung. Selbstverständlich. So tun, als sei nichts gewesen.

 

Anruf zu Hause. Lass öfter mal etwas von dir hören, Lara, wie es dir geht, wie du dich eingewöhnt hast. Natürlich hoffen sie es.

Ja, hallo, Lara hier. Ja, das Wetter ist schön, warm ist es, ich lerne oft im Park. Ja, ich esse genug, und ich schlafe auch genug. – Nur nichts von den Schatten sagen! – Na ja, natürlich ist das Studium nicht einfach, das ist nicht schlimm. Und, hast du schon Freundinnen gefunden? Hast du dich eingewöhnt? Ja ja, es wird schon. – Nichts von der Angst sagen! – Bist du auch nicht allein? Kommst du am Wochenende? Die Tränen unterdrücken, bloß jetzt nicht weinen, am Freitag fahre ich heim, ist ja schon gut, immerhin keine besorgten Fragen bis dahin, na also, es geht ja.

Dann bis Freitag.

Mutter hat eingehängt, und ich stehe regungslos, mit Tränen in den Augen, und starre den stummen Telefonhörer an.

 

Mutter ist stets besorgt, Sorge hier und Angst da, mach bloß keine Dummheiten, bleib nicht zu lang weg. Die Gluckhenne nimmt uns unter ihre Flügel. Auch jetzt noch. Isst du genug? Schläfst du genug? Hast du Leute kennen gelernt? Wie soll ich da selbständig werden.

Die Wut auf ihr Bemuttern einerseits und andererseits ihre Fragen, warum ich denn keine Freundinnen mit nach Hause brächte. Und schon gar keinen Freund.

Vielleicht ist Ängstlichkeit erblich.

Die Wut darüber, dass ich gerade das Negativste erben muss.

Ich habe wohl noch Jahrzehnte voller Schatten vor mir.

 

Mutter hat mich gewarnt, indirekt; vor meiner endgültigen Abreise, als ich im Vorzimmer unserer Wohnung stand, zwischen gepackten Taschen, ein unangenehmes, skeptisches Kribbeln in der Magengrube.

Mach’s gut. Melde dich bald. Aller Anfang ist schwer... aber du wirst es schon schaffen.

Und ich nickte, unsicher, wie immer, wenn etwas Neues, Unbekanntes bevorsteht, und verdrängte die Gedanken an die Schatten.

 

Sie waren sofort da, sie kommen immer mit der Angst, ich glaube sie kriechen zu spüren. Bin ich allein mit der Stille, drängen sie sich in meine Gedanken, zuerst die Angst, dann die schwarzen Formen, die kalte Furcht, der Ekel, der Wunsch zu fliehen. Doch sie lassen einen nicht entkommen, folgen einem überall hin. Ihre Anwesenheit ist spürbar; nicht als Temperatur, nicht als Windhauch, kein Geräusch, kein Geruch – es liegt nur etwas in der Luft, undeutbar, aber da.

 

Am Freitag fahre ich nach Hause, in die vertraute Umgebung, verlasse die Einsamkeit, lasse sie hinter mir, tauche ein in die gesellige Wärme. Ich glaube, ich werde mich sogar freuen, dass mir meine Mutter durchs Haar streicht, meine Schwester redet wie ein Wasserfall und die Nachbarin mich mit Fragen durchlöchert. Es ist gewohnt.

Meine Schwester wird nie das Problem dieser Angst haben; keine Verfolger, keine Spötter, auch keine Einsamkeit. Keine Schatten. Selbstbewusst, offen, herzlich. Nicht so stumm, grau und ehrgeizig wie ich. Immer strahlend und fröhlich –

Manchmal beneide ich sie.

 

Sie sind dick und schwer, wollen eine schwarze Wolke aus Wärme über mich stülpen, verfolgen mich damit, Nur keine Angst, nur keine Angst, du willst doch Schutz vor den starrenden Blicken und dem verwunderten Getuschel, komm, ich schütze dich, bloß nicht weinen, ich bin ja da. Ich glaube eine schwere Hand auf meinem Kopf zu spüren, zäh, jemanden mich in den Arm nehmen, einschließen, nicht wieder loslassen, würgen –

Schattenglucken. Sie wollen mich wegsperren vor den anderen, mich nicht selbständig werden lassen, mir mit ihren Flügeln den Atem nehmen.

Schweißgebadet erwache ich, Licht vor dem Fenster, die Schatten verrauchen in der Wirklichkeit. Meine Mutter im Albtraum.

 

Da bist du ja wieder, schön dich wiederzusehen, du bist dünner geworden, schläfst du zu wenig, schön, dass du Zeit für uns findest. Umarmungen, Lächeln, als wäre ich von einer Weltreise heimgekehrt. Ein Grinsen auf meinem Gesicht, verlegen, vielleicht ein bisschen glücklich. Irgendwie tut es ja doch gut, einmal verhätschelt zu werden. Warme Geborgenheit um mich, die kalte Einsamkeit verdrängend. Heute werde ich lange aufbleiben, morgen lange schlafen, sie werden Rücksicht auf mich nehmen, Sonntagstochter, zwei Tage Freundlichkeit sind kein Problem, man sieht sich ja so selten. Mutter in Angst, ob ich mich auch wohl genug fühle. Ja, Mutti, du siehst doch, dass es mir gut geht.

Es geht mir tatsächlich besser. Ich bin ja zu Hause.

 

Meine Antworten sind vage, ausweichend, Es ist doch alles okay, Ja ja, ich schaffe es schon, Macht euch doch nicht immer solche Sorgen. Ich muss ihnen doch nicht noch zusätzliche Sorgen bereiten – was heißt ihnen, in Angst ist nur Mutter; die Schatten, das Sich-ausgeschlossen-Fühlen, die durchwachten Nächte, das manchmal feuchte Kopfkissen verschweige ich. Die Verrücktheit. Meine Verrücktheit.

Gerne würde ich selbst glauben, wie ich mich darstelle: Lässig, optimistisch, erfahren. Macht euch doch nicht solche Sorgen, es geht schon.

Dass es mir hier nicht anders geht als in der Schule, verschweige ich.

 

Ich hatte mich auf die Veränderung gefreut; neue Gesichter, neuer Alltag, neuer Anfang. Ich würde offener und optimistischer an das Neue herangehen, auf andere zu gehen, Freunde finden. Die Chance der Anonymität. Hoffnung. Bilder einer strahlenden Lara. Im Kopf.

Nicht erneut die Situation der vergangenen acht Jahre: Lässig sein müssen, Ausgeschlossensein, Blicke mehrerer Augenpaare, die es als Clique wagten, graue Wehrlose wie mich kaputt zu machen. Ich, den Blick gesenkt, ihnen ausweichend, den Vormittag überwindend, Augen zu und durch. Stunden, die sich zäh dahinzogen.

 

Auf der Rückfahrt im Zug schließe ich die Augen, versuche das warme Gefühl der Geborgenheit zu wahren, in mir einzuschließen, um die nächsten Tage davon zehren zu können. Das Lächeln, die Freude, mich für kurze Zeit zurück zu haben. Ich werde es nötig haben.

 

Wut in mir, Wut darüber, dass ich mich von lächerlichen Schatten verfolgen lasse, Wut über die kleinliche Angst vor fremden Menschen, Wut auch über die Gluckenmutter, die mich in ihrer eigenen Angst gefangen hält und immer gehalten hat.

Ich möchte auf sie zugehen, sie anlächeln, hallo, seid ihr auch neu hier, gehen wir doch auf einen Kaffee. Ich möchte mit jemandem zusammen lachen und weinen können, gemeinsam Probleme überwinden, und sei es nur, das Sekretariat zu finden.

Sogar beim Inskribieren war Mutter dabei, redete auf mich ein, schob mich zu dieser Tür hinein und zu jener hinaus, und ich war den verwunderten Blicken der anderen ausgesetzt. Die lässt sich noch von ihrer Mutter...

Warum muss ich als Einzige außen stehen, zusehen, wie Gleichaltrige in Gesellschaft leben, von Wut über Traurigkeit bis hin zu Rührung und Freude, immer leben können, und all das kalte Alleine für mich bleibt.

 

Die große Schwarzhaarige, die immer aussieht, als würde sie jeden vorgetragenen Satz aufsaugen wie ein Schwamm, lächelt mir zu, als ich nach der Vorlesung meine Mappe packe und in den Pullover schlüpfe, weil mich schon wieder fröstelt. Müdigkeit nach einer weiteren, von Angst erfüllten Nacht. Zweifel: Was, wenn ich nie Freunde finde, jahrelang alleine bin, in der Einsamkeit verkommen muss? Horrorvorstellungen, eine kleine schwarzgraue Maus in ihrer Ecke, Tag für Tag eine Qual. Unruhiger Schlaf, dann, Träume von verfolgten Mäusen.

Ich lächle zurück, zumindest das geht, stumm, ich wüsste nichts zu sagen, aber ein einfaches Lächeln geht. Nicht verhängnisvoll. Die Schwarze blickt sich um, gutgelaunt, auch eine von der strahlenden Sorte. Vielleicht denkt sie gerade, Schön, dass die Kleine auch einmal auftaut.

Wie gerne würde ich sie in ein kleines Gespräch verwickeln, zuerst einmal über belanglose Themen, ironisch vielleicht, Sehr unterhaltsam hat der Leitner heute wieder vorgetragen, so etwa, aber das kann ich nicht. Als wäre da eine unsichtbare Mauer, gegen die ich laufe, sobald ich auf jemanden treffe. Ein Stolperstein, und bis ich mich aufgerappelt habe, sind sie längst weitergegangen.

 

Das Telefon klingelt. Ich schrecke auf; wer ruft mich schon jemals an? Bestimmt muss sich Mutter wieder einmal nach meinem Befinden erkundigen. Gut, ich verstehe sie ja, irgendwie.

Ich hebe ab, melde mich.

Ja, hallo, Daniela hier. – Das ist doch die große Blonde, die sonst immer weit vorne sitzt, seit Längerem habe ich sie nicht mehr gesehen, was will sie von mir, warum kennt sie meine Telefonnummer...

Ja? Was gibt’s denn? Bestimmt klinge ich verwundert, gut, warum nicht, aber warum krächze ich so...

Lara, du hast doch bestimmt mitgeschrieben heute, ich kenn’ dich doch, ich bin krank, aber ich brauche den neuen Stoff dringend, der kommt bestimmt zur Prüfung...

Ich nicke, immer noch verwirrt, ach so, das kann sie ja nicht sehen, Ja, wieder ein Krächzen, natürlich, oh Gott, jetzt halten sie mich wohl alle für einen introvertierten, feigen Streber...

Ich nehme mich zusammen. Soll ich’s dir vorbeibringen, wo wohnst du denn? Oder nein, - schon wieder stottere ich -, ich werde morgen alles kopieren und dir dann vorbeibringen, ich brauche es ja selbst, jaja, die Prüfung.

Daniela nennt mir ihre Adresse, aha, sie wohnt auch nicht im Studentenheim, natürlich, sonst hätte sie jemand Anderes nach den Skripten fragen können, gut, dann bis morgen. Ich hänge ein, erschöpft.

Warum muss ich so stottern? Ein Studienkollegin ruft mich an, weil sie etwas von mir braucht, es ist doch ein gutes Zeichen, wenn ich gebraucht werde, eigentlich hat sie auch gar nicht spöttisch geklungen, gar nicht – andere hätten richtig reagiert, die wären auch nicht verwundert gewesen, angerufen zu werden, man stottert auch nicht herum, man überlegt kurz und schlägt dann cool etwas vor... Nicht so wie ich...

Warum fragt sie ausgerechnet mich?

Gut, dann muss ich mich morgen zu ihr wagen. Sie wird mich schon nicht fressen. Reiß dich zusammen, Lara!

 

Sie kriechen hinter mir her, groß, schwarz, unförmig, flüstern in ihrer windigen Sprache, ich versuche vor ihnen zu flüchten, in die Dunkelheit hinein, nur weg vor ihnen, ich halte etwas in der Hand, weiße Blätter mit krakeliger Schrift, sie wehen im Wind und lassen mich nicht vorwärtskommen, ihr Flüstern hinter mir, das zu einem Heulen anschwillt, und jetzt glaube ich zu verstehen, was sie sagen; Gib es uns, gib es uns, eine Gestalt greift nach mir –

Ich schreie. Ich erwache von meinem eigenen Schrei, liege mit aufgerissenen Augen in der Dunkelheit, versuche mich zu beruhigen: Lara, das ist lächerlich, du mit deinen Schatten, was tun dir denn bloße Schattenbilder, was wird dir Daniela tun, beruhige dich, du bist in der Wirklichkeit, es war bloß ein Traum.

 

Es hat geschneit, obwohl es nicht besonders kalt ist, zum ersten Mal in diesem Jahr, vor wenigen Tagen noch meinte man, es sei Spätsommer, jetzt plötzlich ist der Winter hereingebrochen.

Ich stapfe durch das matschige weiße Etwas zu Daniela. Das Haus, in dem sie zur Untermiete wohnt, ist ein altes, verwittertes Ungeheuer, grau, mit hohen schmalen Fenstern. Bestimmt sind die Räume kalt.

Daniela empfängt mich im Morgenmantel, lächelt entschuldigend, sie könne sich bei der Kälte in ihrem Zimmer nicht aufraffen, sich anzuziehen, werfe nur alles übereinander, ich fröstle, nicke verständnisvoll. Halte ihr die Mappe mit den fotokopierten Blättern hin.

Ist dir kalt, fragt Daniela, ich wehre ab, nicht so wichtig, und sie entschuldigt sich, der Raum sei das reinste Loch, aber was soll man tun, das Geld fällt schließlich nicht vom Himmel. Ich denke an meine kleine, aber feine Wohnung; das Haus von außen ist scheußlich, aber ich habe es warm; und verspüre Schuldgefühle.

Ich starre zu Boden, verlegen, ich weiß nicht, worüber ich mit Daniela sprechen soll, ich kenne sie ja kaum, weiß der Himmel, warum sie ausgerechnet mich angerufen hat.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagt Daniela: Hier in dieser Einöde trifft man ja nie auf junge Menschen, man sieht sich nur bei Vorlesungen und Formalitäten, aber man bekommt so schwer eine billige kleine Unterkunft, man muss froh sein, überhaupt etwas zu bekommen. Und ins Studentenheim wolle sie nicht, schon ihre große Schwester hätte Probleme gehabt sich einzugewöhnen, nie habe man seine Ruhe, ständig sei Wirbel um einen herum, das wolle sie nicht. Ich sitze stumm neben ihr und frage mich, warum sie mir das alles erzählt. Mir, der stummen kleinen Maus.

Ich verabschiede mich bald, ohne viel gesprochen zu haben; vielleicht hätte sie mich angehört, aber ich konnte einfach nicht; mit dem Vorwand, sie als Kranke nicht belästigen zu wollen. Alles Gute noch, vielleicht sehen wir uns bald wieder, und viel Glück noch. Bei der Prüfung. Aber es ist ja noch ein wenig Zeit.

Die Straßenbahn fährt klingelnd in die Station ein. Ich quetsche mich in eine Ecke, und während ich zum Fenster hinausstarre, denke ich: So übel ist Daniela gar nicht. Weder spöttisch noch von oben herab, nicht verklemmt, so wie ich, und nicht übertrieben lässig, nur weil man so zu sein hat. Sie wirkte auch nicht, als wollte sie bloß den barmherzigen Samariter spielen und mich aus meiner Reserve locken, eigentlich. Wer weiß – vielleicht fühlt auch sie sich einsam und braucht jemanden zum Aussprechen... Aber sie wirkt so offen...

Im Grunde hätte ich nichts dagegen sie wiederzusehen.

Ein kleines bisschen Hoffnung macht sich in mir breit.

 

Die älteren Semester haben verlauten lassen, die erste Prüfung sei die schwerste im ersten Abschnitt. Schriftlich, es wird viel los sein. Eine Schwelle sozusagen, wenn man sie hat, wird es leichter. Wenn man genug lernt, schafft man es. Nicht unbedingt unberechenbar, man muss nur genug wissen.

Ich vertiefe mich in die Blätter, viel Arbeit, es hat den Vorteil, dass sich die Schatten ein wenig verdrängen lassen, ich bin abgelenkt, habe etwas zu tun, um eine Hürde zu überwinden. Wenigstens eine Chance auf Erfolg.

Daniela ist zu den weiteren Vorlesungen wieder aufgetaucht, hat mir zugelächelt und sich bei mir bedankt, ich fürchte, ich bin ein wenig rot geworden; kein Grund, sich so zu bedanken, war doch kein Problem.

 

Die letzte Vorlesung vor der Prüfung. Die große Schwarzhaarige, Silvia heißt sie, ist heute neben mir gesessen. Sie schreibt unheimlich viel mit, unheimlich schnell, das liegt mir nicht. Saugt das Wissen in sich hinein, sammelt. Sammelt Kraft. Strahlend.

Na, schon viel gelernt? Ich habe versucht zu lächeln, die Schultern gezuckt, eigentlich schon, was bleibt einem anderes übrig, jetzt wird’s eben ernst, aber es wird schon schief gehen.

Optimistin, hat jemand hinter mir gesagt, ich weiß nicht wer, Ich tue mir immer schwer, so viel zu behalten.

Den Gedanken, dass er ja keine Ahnung hat, wie wenig optimistisch ich im Grunde bin, behielt ich für mich.

 

Ich lege die Blätter weg. Es reicht, ich kann nicht mehr. Es muss reichen. Ein Blick auf die Uhr: Mitternacht vorbei.

Früher hat Mutter angerufen, mir alles Gute gewünscht, geh nicht zu spät schlafen, du musst morgen fit sein. Ruf an, wenn du fertig bist. Ein Redestrom aus neuerlichen guten Ratschlägen.

Keine Sorge, habe ich sie zu beruhigen versucht, Es wird schon schief gehen. Seltsam, wie positiv und leicht ich mich ihr gegenüber immer gebe, wahrscheinlich nur, um ihr nicht noch mehr Sorge zu bereiten, vielleicht auch, weil ich selbst gerne immer so wäre.

Gut, die Prüfung selbst wird kein allzu großes Problem für mich werden, ich bin nicht dumm, das war schon in der Schule so, irgendein Talent muss man ja haben. Doch der Rest meines Lebens verläuft lang nicht so leicht. Wenn es mir schon schwer fällt, nur eine Studienkollegin anzusprechen...

Verrückt.

Ich bin bleischwer und müde, als ich mich ins Bett lege und die Decke bis zum Kinn hoch ziehe, in mir nur Fakten und Gelerntes. Keine Schatten, heute haben sie keinen Grund zu kommen, und keine Chance. Sie haben mir nichts vorzuwerfen.

 

Ein großer Saal, überall sitzen junge Leute, denen das Gleiche bevorsteht wie mir. Man lächelt sich zu, Daumen nach oben, Viel Glück, Dir auch, Das schaffen wir schon. Eine große Gemeinschaft. Noch nie habe ich mich so den anderen zugehörig gefühlt, nicht einmal bei der Matura, schließlich war unsere Klasse ein einziges Chaos, jeder für sich, keine Spur von Gemeinschaft. Kein gemeinsames Zittern, kein gemeinsames Feiern, keine gemeinsame Reise. Ich spüre kaum Angst vor der Prüfung, eher das Glücksgefühl dieser plötzlichen Zusammengehörigkeit.

Kuli, Bleistift, Radiergummi. Ich versenke mich in die Prüfungsbögen. Wird schon schief gehen.

 

Geschafft, geschafft, geschafft. Glücklich lasse ich mich auf die Bettcouch sinken. Ein kleines Erfolgserlebnis, die Prüfung bestanden zu haben, danach die Seligkeit, das Glück gemeinsam gefeiert zu haben. Jeder schüttelte jedem die Hand, zumindest die, die sich näher kannten. Ich bin nicht untergegangen, man hat mir zugelacht, mir die Hand geschüttelt, und sogar ich habe gelacht, gelacht, gelacht. Ich lasse das Wort auf der Zunge schmelzen. Ich habe gelacht. Ich habe gelacht. Ich bin glücklich, doppelt glücklich sozusagen, es ist ein gutes Zeichen, nicht übersehen worden zu sein. Wer weiß, vielleicht ende ich doch nicht als kleine graue Maus im geheimen Loch.

Ich stehe auf, um zu Hause anzurufen.

Und wenn Mutti diesmal fragt, Und, wie geht es dir mit den anderen, kann ich vielleicht antworten, Gut, ich gehe nicht unter, hier herrscht unter unendlich Vielen eine bessere Gemeinschaft als in der Klasse unter fünfundzwanzig.

Dass mir diese Erkenntnis – ich glaube, es ist eine Erkenntnis - nicht früher gekommen ist. Erst nach Monaten. Unendlich langen Monaten. Neunzehn Jahren genaugenommen. Wir gehören irgendwie doch alle zusammen, es gibt etwas, das uns verbindet, das Interesse für unser gemeinsames Studienfach.

Menschen, die mich verstehen. Das klingt gut. Und ich werde sie finden.

Und wenn ich es mir recht überlege, haben sich die Schatten mit all ihrem schwarzen Unglück und der Einsamkeit schon ein wenig zurückdrängen lassen, sind schwächer geworden –

Ich bin keine Schattengefangene. Ich bin ein Schattenfänger.

 

 

Gedichte in Bildern

 

einsamkugel

einsamkugel

rollt gluckernd

lacht mich aus

sie hat leicht lachen

ich

sitze

in

ihr

 

 

lichtkegelspiel

die sonne

hat

das spiel

verloren

die dunkelheit

hat

den lichtkegel

umgeworfen

 

 

 

geografie

zwischen

zwei horizonten

stehe ich

erreichen

werde ich

keinen

 

 

 

zeit-weise

du bist

eine freundin

auf zeit

sogar

auf lebenszeit

ohne dich

lebe ich nicht

 

 

 

auf-riss

harter spröder

boden

wüstig

klafft auf

wartet durstig

dass ich

tränenperlen

hineinwerfe

 

 

 

wunde

wenn du

täglich

an meiner wunde

kratzt

wird sie

nie

abfallen

wirst du

nie

abfallen

 

 

 

 

staub-sauger

atem der einsamkeit

wird

zu staub

ich

sauge

staub

 

 

 

 

mutter-herz

eingeschlossen

hat sie

ihr liebstes

um es zu schützen

eingeschlossen

in harte schale

bin ich