Karoline Leitl (17)

Fall

Ich stehe an der Kante. Ich schaue hinunter, doch sehe den Boden nicht, nur hohe, steile, graue Wände, die irgendwo weit unten in weißem Dunst verschwinden, sich verschlingen lassen. Doch ich glaube, auch ohne den Dunst könnte ich den Boden nicht ausmachen, zumindest wollte ich es nicht.

Ich schließe meine Augen, doch noch immer sehe ich die grauen, glatten Wände vor mir, Flächen wie aus trübem Glas, ohne eine einzige Unebenheit. Langsam schiebt sich mein Fuß vor, wie von selbst, führt mich näher zum Abgrund, näher zur Kante, darüber hinaus. Ich falle.

Noch traue ich mich nicht, die Augen zu öffnen, eingeschüchtert vom Gefühl des Fallens, vom Wind, der haarscharf mein Gesicht verfehlt, an meinen Ohren vorbei rast. Ich warte darauf, dass mein Leben in Gedanken an mir vorüberzieht, doch vergeblich. Nicht eine kleine Erinnerung ist mir gegönnt, nur das Jetzt, der Gedanke an den bedrohlichen, gierigen Dunst, der die mächtigen Flächen verschlingt und nicht mehr loslässt.

Ich blinzle vorsichtig, darauf bedacht, die Augen nicht zu weit zu öffnen, aus Angst vor dem Anblick des Nebels unter mir, aus Furcht vor der Gewaltigkeit der Wände neben mir, vor mir, über mir.

Ich blinzle, sehe die grauen, mächtigen Flächen an mir vorbeirasen, als hätten sie es eilig, dem Dunst zu entkommen, obgleich er sie schon gefangen, angekettet hat. Ihre Macht konnte jedoch nichts ausmachen gegen den Nebel, er hat sie bezwungen. Der Dunst ist noch immer unter mir, lauernd, er wartet auf mich; dennoch scheint er nicht näherzukommen, noch nicht. Der Wind, der an mir vorbeizieht, spricht, er flüstert, zischelt, er scheint mir etwas sagen zu wollen – jetzt schreit er, kreischt er, hysterisch schlingt er sich um mein Ohr, immer weiter Warnungen, Vorahnungen oder Drohungen ausstoßend, die ich nicht verstehen kann.

Schön langsam kommt er doch näher, mein Nebel, ich blinzle ihn an, und er blinzelt zurück, schadenfroh, hämisch grinsend.

Ich falle noch immer; die Wände versuchen noch, irgendwie zu entkommen – es scheint mir, als würde ihr fahles Grau immer dunkler, verzweifelter, schließlich resigniert.

Ich spüre die Anwesenheit des Nebels, meines Dunstes, jetzt ganz knapp unter mir, spüre seine Freude darüber, dass er mich im Unklaren lässt über sich, über das, was nachfolgt. Ich höre auch die unterdrückten Schreie der Flächen, erst jetzt; leidend, bettelnd. Ich falle und traue mich nicht, die Augen zu öffnen, noch nicht – doch ich muss – ich weiß es – ich versuche es.

Endlich – ich reiße sie auf.

Der Dunst starrt mich an, siegessicher, doch ich sehe nicht weg, lasse mich von ihm umhüllen – der Nebel fasst mich, berührt mich mit seinen eiskalten Fingern, zerrt an mir, krallt sich, ja, beißt sich an mir fest.

Die Schreie des Windes und der grauen Flächen werden unerträglich, sie peitschen durch die Luft und wenn sie mich treffen, schreie ich mit, während der Nebel mich umhüllt und nicht loslässt.

Ich warte darauf, dass ich endlich durch bin durch den Dunst, ewig hält er mich jetzt schon fest, will mich nicht freigeben; aber irgendwann muss ich doch aufschlagen…?

Da – der Nebel wird lichter, leichter, weniger Besitz ergreifend. Und ich sehe den Boden, wenige Meter vor mir, ein dunkler, schwarzer Kreis, auf den ich zusteuere, wo ich gleich aufprallen werde, gleich, hart, schlimm, schmerzvoll. Ich schreie, in Erwartung des Aufschlags, angsterfüllt, laut.

Ich schreie noch immer – und bemerke erst jetzt, dass ich auch den Kreis schon hinter mir habe, ich bin durch, habe Nebel und Kreis hinter mich gebracht. Und ich stehe oben, oben an der Kante – ich bin dem Dunst wieder entkommen, anders als die grauen Ebenen, riesig, verloren. Ich zittere, verstehe nichts mehr, mein Blick ist verschleiert, irgendwie benebelt, wie von gierigem, weißen Dunst getrübt.