Wolfgang Kurz (19)

Nichts wird so heiß gegessen ...

Grillparzer hielt sich nahe bei seiner Mutter, um nicht von ihr getrennt zu werden. Seine Mutter hielt ihn auch und drückte ihn fest an sich, dass er nicht verloren gehen konnte. Lange waren sie aber nicht erfolgreich: Nur bis sie den ersten Scheideweg erreichten. Männer links, Frauen rechts und Kinder in die Mitte. Es standen viele Männer, die grimmig dreinblickten, mit allerlei gefährlichen Gerätschaften herum, die dafür sorgten, dass die Anweisungen von oben auch wirklich befolgt wurden. Grillparzer wollte sich nicht von seiner Mutter trennen und begann laut zu weinen. Seine Mutter befürchtete aber, das Aufsehen könnte ihnen schaden und sie nur noch weiter in den Strudel der bösen Geschehnisse hineinziehen. Und sie hatte wohl recht. Sie hatte Tränen in den Augen und Mühe, sie zurückzuhalten, als sie ihrem Sohn erklärte, dass er alles zu tun hätte, was ihm die Männer in Schwarz befahlen, und dass er nur ja nicht auffallen dürfte. Er war jetzt schon groß, er könnte das, sagte ihm seine Mutter und wies ihm den Weg in die Mitte.

Es herrschte großes Geschrei und Gezeter, dem die schwarzen Männer ab und an Einhalt geboten, wenn es zu laut wurde und dadurch der schnelle Ablauf der ganzen Sache gebremst wurde. Mütter riefen um ihre Kinder, Kinder nach ihren Müttern. Männer schrieen um ihre Frauen und weinten um ihre Kinder. Aber alles musste schnell gehen, sonst stand schon ein Schwarzer da und beschleunigte gewaltsam den Ablauf.

Grillparzer hielt sich an Goethe, seinen Freund, der schon etwas älter war. Zusammen gingen sie den Weg, den sie alle gehen mussten. In ihrem Fall war es der Mittelweg. Am Ende des Weges war eine große Rampe, und viele große schwere LKWs standen herum. Vor der Rampe stand ein Tisch, hinter dem saß ein teilnahmslos blickender Mann, der nur manchmal nickte und manchmal den Kopf schüttelte. Das entschied darüber, ob die Kinder über die Rampe oder unten an ihr vorbei mussten. Niemand wusste, welcher der bessere Weg sein würde, also wusste niemand, was man sich wünschen sollte. Goethe musste vorbei, Grillparzer hinauf. Sie wurden in die Laster hineingefüllt, bis sie keinen Platz mehr hatten, sich umzudrehen, geschweige denn sich niederzulasssen.

Sie standen drinnen und die Tür schloss sich, als der letzte hineingepfercht worden war. Alle waren sehr nervös und angespannt. Alle redeten durcheinander, aber langsam legte sich der Lärm, als die Tür verschlossen war und der ganze Raum im düsteren Dämmerlicht lag. Nur die am Rand standen, konnten durch ein paar Ritzen die Sonne sehen, die unerbittlich aber teilnahmslos über ihnen stand, anscheinend ohne sie zu bemerken. Die Dunkelheit dämmte den Lärm ein, wie der Laster das Licht eindämmte. Es dauerte noch eine Weile, bis der LKW abfuhr, dafür fuhr er dann lange. Man merkte – selbst drinnen – dass es draußen Nacht wurde, und der LKW fuhr noch immer. Manche versuchten zu schlafen, aber keiner war erfolgreich, alle waren zu nervös.

Im Morgengrauen brandeten im Laster Diskussionen auf. Was wird aus uns werden? war die häufigste Frage, aber keiner konnte sie beantworten. Man kannte nur Gerüchte, nicht die Wahrheit. Oder vielleicht doch? Mein Vater hat es schon immer gesagt, sagte ein junger Kerl, der in der Mitte des Raumes stand oder lehnte. Er hat das alles vorausgesagt. Nicht nur uns geht es so. Allen geht es so. Keiner weiß, was aus uns wird; aber bestimmt nichts Gutes. Weil niemand auf meinen Vater gehört hat, keiner hat ihm geglaubt.

Grillparzer hielt sich still. Seine Eltern hatten solchen Prognosen auch nicht geglaubt. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird, mein Sohn, pflegte sein Vater zu sagen, wenn jemand versuchte, sie zu verunsichern durch solche Reden. Nichts so heiß wie gekocht, war auch, was Grillparzer dachte, als er aus seiner Trance aufschreckte, als die LKW-Tür geöffnet wurde. Die Helligkeit blendete ihn zuerst, so dass er nichts sehen konnte. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an das Licht, und es dauerte lange, bis er erkannte, was es zu sehen gab, und was er bis jetzt nicht gesehen hatte: Hunderte, Tausende, Millionen seiner Schwestern und Brüder, eingezäunt, wartend auf den Eintritt in ein Gebäude, aus dem nicht einer wieder hervorkam. Nur ein kleines, aber stetig bewegtes Förderband kam aus dem Gebäude heraus und leitete seine Fracht in die Ferne. Grillparzer musste genau hinsehen, um erkennen zu können, was das war auf dem Band: MacDonalds-Hamburger in Kartons!