Birgit Kolb (16)

Der Vollmond beleuchtete die ganze Gegend, und die Wölfe, die sich in den umliegenden Wäldern herumtrieben, heulten lauter denn je. Man konnte die Umrisse der verfallenen Burg, die nun vor mir lag, genau erkennen. Geradezu gespenstisch stand sie mitten in der Landschaft auf der kleinen Erhebung, die von einem ausgetrockneten Flußbett umgeben war.

Ich ging weiter, obwohl ich mir immer noch nicht klar darüber war, was ich hier eigentlich verloren hatte.

Ich sah den Alten von heute vormittag noch genau vor mir. Wie er sich schwächlich auf den Stock stützte, sich zu mir herabbeugte und mir rauer Stimme flüsterte: "Junge, du scheinst mir abenteuerlustig und kräftig zu sein." Als ich dies bejahte, hatte er mir den Weg hierher beschrieben. Doch als ich noch fragen wollte, was ich hier suchen sollte, war der Alte schon verschwunden. Nur sein Bild hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt.

Meine Neugier trieb mich hierher und ich bereute schon, dass ich gegangen war, da ich ein Angstgefühl in mir spürte.

Ich ging weiter auf die Burg zu. Plötzlich meinte ich, Grabsteine zu erkennen, und ich wusste, wo ich war: auf einem Friedhof. Nebelschwaden zogen auf. Ich zittere, denn mir war kalt. Plötzlich hörte ich einen Schrei hinter mir, und als ich mich umdrehte, fiel ich in ein großes, schwarzes Loch…

Ich muss wohl das Bewußtsein verloren haben, denn als ich die Augen aufschlug, war es hell. Ich schaute mich um und erkannte voll Entsetzten, dass unter, neben, und teilweise auf mir lauter Menschen lagen. Alle waren mit blauen Beulen und eitrigen Bläschen übersät, und manche starrten mich aus ihren toten, leblosen Augen an. Mir wurde schlecht und ich verfiel in Panik; denn allem Anschein nach war ich in einer Pestgrube gelandet. Ich fing an zu schreien und um mich zu schlagen und versuchte vergeblich, aus der Grube zu entkommen.

Schließlich, nach endlos langer Zeit – so kam es mir zumindest vor –, schaffte ich es, mich irgendwie am Grubenrand hochzuziehen. Ich zitterte am ganzen Leib, meine Knie gaben nach, und ich sank auf den Boden. Ich stand wieder auf, fiel wieder zusammen, kroch hastig weiter – Hauptsache weg, nur weg. Solange, bis ich nicht mehr konnte, und völlig erschöpft liegenblieb. Ich musste mich übergeben.

Ich verlor für einige Zeit die Besinnung. Als ich wieder erwachte, war ich erstmals in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich beschloss, ein ausgiebiges Bad in dem Fluß zu nehmen, der sich vor mir hinschlängelte – um den Dreck loszuwerden, den Dreck und den Gestank von den Toten.

Ich wusch mich also, nachdem ich meine Kleider abgelegt hatte, im Fluß, obwohl dieser ziemlich trüb war. Nackt legte ich mich danach in die Sonne, um zu trocknen.

Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn als ich die Augen aufschlug, stand die Sonne schon ziemlich tief. Blinzelnd erkannte ich, dass lauter junge Mädchen, gekleidet wie Burgfräuleins, um mich standen und kicherten.

Eine ältere Dame, im Ammen-Look, trat auf mich zu und fragte mich, was ich hier zu suchen hätte. Ich stand betont langsam auf, um mir selbst etwas Zeit zu geben, eine Antwort auszudenken.

Die Mädchen kicherten, die Amme wartete ungeduldig, mir wollte jedoch nichts Passendes einfallen, da ich mir über meine Situation nicht im klaren war.

Plötzlich rief eine Stimme: "Prinz Eugen!" und befreite mich somit aus dieser peinlichen Lage. Die Aufmerksamkeit aller richtete sich auf den jungen Mann, der auf einem Schimmel auf uns zu sprengte und wie wild winkte. Ich wollte den Augenblick nützen, um wegzulaufen, doch irgend etwas hielt mich zurück – ich hätte ja sowieso keine Chance gegen ein Pferd gehabt.

Der Reiter blieb knapp vor mir stehen, stieg von seinem Roß und machte eine Verbeugung, ich tat es ihm gleich.

"Prinz Eugen! Wo wart Ihr? Wie seht Ihr denn aus?" Er stotterte wirres Zeug, sichtlich erregt vor Freude. Es blieb mir in meiner etwas unglücklichen Lage allerdings nichts anderes übrig als mitzuspielen. Ich wußte weder, wo ich war, noch in welcher Zeit. (Ich hoffte immer noch, dass Fritz Egner hinter einem Baum hervorspringen würde; doch es war weder ein Baum, noch Fritz Egner in der Nähe). Ich gab mich erstmal für Prinz Eugen aus. Einem Geistesblitz zu Folge gab ich vor, von Räubern bis auf das letzte Hemd (und die letzte Hose) beraubt worden zu sein – schließlich konnte ich als Prinz Eugen im (vermutlich) 18. Jahrhundert keine Calvin-Klein-Unterhose tragen.

Mein Bruder (wie ich später herausfand), Prinz Ludwig III, brachte mich auf seinem Pferd auf die Burg, die – wie mir erst jetzt auffiel – kaum verfallen, fast doppelt so groß, wie ich sie in Erinnerung hatte, vor mir stand.

Alles war ganz anders, als in zahlreichen Ritterfilmen dargestellt. Im Inneren des Burghofs herrschte reges Treiben; Händler, Kaufleute, Frauen, Mädchen, Kinder liefen wild durcheinander. Doch sowie wir das Haupttor passierten, war alles still. Nur der Wind heulte. Alle starrten uns an (was, da ich nichts anhatte, eigentlich nicht verwunderlich war).

Plötzlich lief eine dickliche, liebenswürdige Frau mittleren Alters aus der Menge heraus, auf uns zu und schrie: "Prinz Eugen! Ihr seid zurück! Herr im Himmel, dass ich das noch erleben darf!"

Leises Gemurmel ging durch die Menge, schließlich warfen sich alle auf die Knie. Einen Gott hätte man nicht würdiger willkommen heißen können.

Es würde zu lange dauern, hier auszuführen, was noch alles geschah. Im Endeffekt kann ich mich auch nicht mehr daran erinnern.

Kurz darauf wurde ich (endlich) eingekleidet – mehrere verschiedene Schichten übereinander. Ich hatte irrsinniges Glück, dass ich für einen Prinzen gehalten wurde, denn alleine hätte ich die Folge der Kleidungsstücke wohl verwechselt.

Anschließend wurde ich "meinen" Eltern vorgestellt, dem König und der Königin. "Meine" Mutter brach in Freudentränen aus, "mein" Vater umarmte mich freundschaftlich – nicht die übliche Art, wie sich später herausstellen sollte.

Am Abend wurde ein Festessen für mich gegeben; dabei fand ich heraus, dass ich insgesamt zehn Schwestern und neun Brüder hatte (allerdings nicht alle von meiner Mutter, dafür aber von meinem recht aktiven Vater). Als Thronerbe kam aber nur der Erstgeborene von beiden in Frage, also ich.

Ich musste alles erzählen; wer mich vor acht Jahren entführte, wie ich zurückfand, usw.; ja, und besonders den Raubüberfall kurz vor meiner Ankunft musste ich ausführen. Meine Phantasie war also gefragt.

Das Essen war ausgezeichnet und reichlich. Es gab gefüllten Schweinsbraten, gespickten Rindsbraten, Lamm auf englische Art, Kalbsfilets, alles, was das Herz begehrte. Dazu tranken wir Traubenwein und Wasser. Ich trank mehr, als ich eigentlich vertrage, und je später der Abend wurde, desto redefreudiger, unkontrolliert redefreudiger, wurde meine Zunge. Ich fing sogar an, mich wie daheim zu fühlen und schwatzte mehr, als ich hätte sollen. Doch dank des Alkohols, den die anderen auch genossen hatten, nahm mich keiner zu ernst. Aber als ich dann auch noch grölend einer meiner Schwestern unter den Rock greifen wollte, hatte ich das Faß anscheinend doch zum Überlaufen gebracht; man brachte mich unter Protest meinerseits ins Bett.

Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem Kater und einer pelzigen Zunge; aber das hatte ich mir selbst zuzuschreiben. Mein Kopf tat höllisch weh, und ich konnte mich an nichts mehr erinnern. Leise (um meinen Kopf zu schonen) stand ich auf, schlich zur Tür und versuchte, die Klinke herunterzudrücken; sie ließ sich jedoch nicht bewegen. Normalerweise wäre ich in Panik verfallen und hätte zu schreien begonnen, aber ich hatte im Moment keine Kraft dazu.

Plötzlich vernahm ich Schritte. Ich legte mein Ohr an die Tür und lauschte. Es war eine Unterhaltung im Gange, und, obwohl ich nur Wortfetzen verstand, begriff ich sehr schnell, dass es dabei um mich ging. Anscheinend wurde ich auf der ganzen Burg für verrückt gehalten! Ich lauschte weiter; das Schicksal eines Verrückten war offenbar, erhängt zu worden! Erhängt! Ich war zu jung, um zu sterben; genaugenommen war ich noch nicht einmal geboren!

Mir wurde schwindlig, ich taumelte. Dann wurde mir schwarz vor meinen Augen und ich fiel, glücklicherweise, aufs Bett. Ich verlor die Besinnung.

Irgendwann, ich hatte das Zeitgefühl total verloren, weckte mich meine Amme. Ich schenkte ihr ein freundliches Lächeln und ließ mich wieder von ihr anziehen. Ich versuchte nur eins: Mich so normal (für das 18. Jahrhundert normal) wie möglich zu benehmen. Dies ist allerdings ziemlich schwierig, wenn man die Sitten nicht kennt und den eigentlich sicheren Tod vor Augen hat. Ich beschloss, mich ruhig zu verhalten.

Meine Taktik schien aufzugehen; offenbar gewährte man dem Thronerben eine zweite Chance. So vergingen drei Wochen, und die argwöhnischen Blicke, die man mir seit meinem komischen Auftritt zugeworfen hatte, lösten sich mehr und mehr in Luft auf, ja, wandelten sich sogar zu freundschaftlichen, von Burgfräulein verliebten, Blicken. Auch mit der Familie verstand ich mich immer besser, besonders mit Prinz Ludwig III verband mich mittlerweile eine enge Freundschaft. Das lag wohl daran, dass ich allen mit meinem – für diese Zeit – überdurchschnittlichen Wissen zur Seite stand. Ich ließ es allerdings nur dann und wann einfließen, um zu verhindern, dass man mich als Hexer einstuft oder wieder für verrückt hält (was dann passieren würde, wusste ich inzwischen nur zu gut).

Jedenfalls wurden zum Neumond Ritterspiele zu meiner Ehre veranstaltet. Ich durfte neben meinem Vater sitzen; eine weitere besondere Ehre. Sämtliche Freunde meiner Familie waren da, lauter Adlige, Könige,… aus den umliegenden Fürstentümern.

Es waren die ersten Ritterspiele, die ich hier sah, die ersten meines Lebens. Zuerst traten alle Teilnehmer einzeln vor, alle große, starke Männer; einer furchtbarer, furchterregender als der andere. Der Preis war meine Schwester. Diese hatte offensichtlich einen Faible für Ritter Pippin den Kurzen, aber sie hatte nicht zu entscheiden, letztendlich war sie nur eine Frau.

Ich konnte mir schließlich die Frage nicht verkneifen, was eigentlich mit den Verlierern passieren würde. Mein Vater schaute mich entsetzt über diese dumme Frage an. Meine Brüder fingen an zu lachen; der gute, alte Eugen, er ist und bleibt ein Witzbold. Ich hatte Glück, dass man lachte. Die Frage hätte mich den Kopf kosten können.

Nach den Spielen, die sich durch außerordentliche Brutalität auszeichneten, wusste ich, warum mein Vater meine Frage nicht ernst genommen bzw. verstanden hatte. Es gab keine Verlierer und Gewinner, nur Tote und einen Lebendigen, Karl den Mächtigen. Pippin lag neben Konrad dem Flinken auf dem Boden, spuckte Blut, röchelte, bis er kurz darauf verstarb. Ich bewunderte meine Schwester, da sie ihre Trauer relativ gut versteckte. Es wurde gefeiert.

Mir war allerdings nicht danach zumute, nein, im Gegenteil, mir war regelrecht schlecht. Hoffentlich musste ich nicht einmal um die Hand einer Prinzessin kämpfen.

Ich fasste insgeheim den Entschluss, die Pestgrube, das Zeitloch, durch das ich gekommen war, zu suchen, um wieder nach Hause zu gelangen. Doch dies sollte sich als unmöglich herausstellen.

Ich ritt von nun an täglich durch den Wald, aber meine Pestgrube fand ich nicht. Ich fragte danach; Wanderer, Händler, Spielleute die meinen Weg kreuzten, doch vergeblich.

So verging ein Tag nach dem anderen, und ein grausames Ereignis jagte das andere. Jeden Sonntag wurden Marktdiebe, Landstreiche, Spione (oder zumindest Leute, die man für weiche hielt),… gehängt. Dieses Ereignis war das Highlight der Woche, fast Zirkusspielen gleichzusetzen. Es war grausam. Die Gefangenen wurden zum Henker hinaufgepeitscht. Als sie dann endlich auf dem Podest standen, meist schon halbtot, dauerte es noch eine Ewigkeit, bis sie von ihrem "kümmerlichen Dasein erlöst wurden".

Von Mal zu Mal erkannte ich mehr, was für ein wahnsinniges Glück ich gehabt hatte, für Prinz Eugen gehalten worden zu sein.

Hin und wieder durfte ich auch die Folterkammer besuchen. Dort gab es alles, was das Herz eines Foltermeisters höher schlagen lässt: Daumenschrauben, Streckbänke, eiserne Jungfrauen,… Unsere Folterkammer war die bestausgestattetste im ganzen Land. Ich konnte daran jedoch keinen Gefallen finden. Ebenso gefielen mir die Hexenverbrennungen nicht; allerdings ließ ich mir nichts anmerken, da dies allerorts anerkannt war. Ich fand es ernüchternd, doch mit der Zeit stumpfte ich ab.

Ich gab die Hoffnung auf, jemals wieder ein normales Leben führen zu können. So vergingen fast drei Jahre.

Am Abend des 29. Augusts geschah das, was ich unbewusst schon die ganze Zeit befürchtet hatte: Mein Vater teilte mir mit, dass ich in einem Monat um die Hand Prinzessin Lilibets kämpfen müsse. Ich kannte sie relativ gut, da wir bei den zahlreichen Ritterspielen, die mittlerweile stattgefunden hatten, meist nebeneinander gesessen waren. Ich war in sie verliebt, aber ich liebte auch mein Leben.

Ich stand am Fenster meines Gemachs und blickte gedankenverloren in die Nacht. Es war zwar Vollmond, aber dichter Nebel hüllte die ganze Gegend in Finsternis. Plötzlich sah ich am Waldrand einen hellen Schein. Meine Neugier packte mich wieder einmal und ließ mich nicht mehr los. Ich beschloss hinzureiten. Ich stahl mich heimlich davon, wahrlich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Die Wölfe heulten lauter denn je, und als ich den Schein erreichte, erkannte ich die Grube wieder.

Ich stieg von meinem Pferd, trat einen Schritt auf sie zu. Ich schloss die Augen, denn ich wusste, wer da unten lag. Mir stieg der eigentümliche Geruch in die Nase, und das Bild der Toten durchzog meine Gedanken.

Ich fing an zu zittern. Ich wollte gar nicht weg von hier. Auch, wenn es mich das Leben kosten sollte, ich wollte um Prinzessin Lilibet kämpfen.

Ich öffnete die Augen, riskierte einen Blick auf die, die da unten lagen und mich aus ihren leeren Augen anstarrten.

Ich drehte mich um, wollte gehen, als plötzlich der Boden unter meinen Füßen nachgab. Ich rutschte aus, stürzte in die Grube, hielt mich noch im letzten Augenblick am Rand fest, schrie, kämpfte, bis ich nicht mehr konnte und in das große, schwarze Loch fiel…