Anna Kohlweis (15)

Souvenirs

Meine krankhafte Angewohnheit, mein eigenes Leben Tag für Tag dokumentieren zu wollen, war schon immer da. Immerhin kommt es mir so vor. Möglicherweise rede ich mir das auch nur ein, weil ich nicht zugeben will, dass ich durch irgendein Ereignis so geworden bin. Es ist immer leichter zu behaupten, dass Eigenarten angeboren sind. Es ist immer leichter, die Schuld an seinen eigenen Macken den Erzeugern in die Schuhe zu schieben.

Wie auch immer, Faktum ist, dass ich diese Eigenart besitze und auch keinen Hehl daraus mache. Ich könnte ein Museum aus meinem Leben machen. Wer sich dafür interessieren würde, weiß ich nicht, aber es wäre immerhin möglich. Ein Museum mit richtigen gläsernen Vitrinen und Absperrungen, einer Kassa und diesen Kopfhörern, die jeder Besucher aufgesetzt bekommt und bei jedem besichtigten Gegenstand eine Nummer in die Tastatur eingibt, damit ihm eine angenehme Stimme erklärt, wovor er gerade steht.

Ich bin übrigens 22. Sie sehen, mein Leben dauert noch nicht besonders lange, ich bin sozusagen ein junger Mann in seinen besten Jahren. In diesen besten Jahren häufen sich eine Menge Gegenstände an, und ich wage nicht, daran zu denken, wie viele es bis zu meinem Lebensende sein werden.

Ich heisse mit Vornamen Gottfried und mit Nachnamen Groß. Ich verdiene mein Geld zur Zeit hauptsächlich mit Gelegenheitsjobs und kellnere in einem vegetarischen Restaurant, hier in der Stadt.

Meine Eltern sind gläubige Christen, oder jedenfalls glaube ich, dass sie das noch immer sind, denn wir haben uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie haben es mit meinem Namen wohl gut gemeint, nicht bedacht, dass ich in den 22 Jahren viel Spott einheimsen würde. Ein Konflikt vor Jahren trennte unsere Wege, ich weiss nicht einmal, ob sie zeitweise noch an mich denken. Ich glaube, dass sie sich in einer gewissen Weise für mich schämen, in einer Weise, die sie lieber verbergen. Höchstwahrscheinlich halten sie mich für psychisch krank. Unter anderem wegen dieser gewissen Eigenart.

Ich sammle. Ich sammle, wie besessen, kleine Erinnerungsstücke. Ich kenne viele Leute, die von Reisen ihre kleinen Souvenirs mitbringen. Brandenburger Tore und Empire State Buildings, Stefansdome oder Pyramiden im Miniformat. Meist, um bei Freunden und Verwandten Eindruck zu hinterlassen, in welchen Ecken dieser Welt man schon war.

Für mich sind meine Souvenirs viel, viel mehr. Und sie sind alle zusammen kleine Geschichtenerzähler. Oft stelle ich mir vor, sie könnten sprechen und mir von längst vergangenen Tagen erzählen. Dann nehme ich sie in die Hand und spüre, wie sie sich in meinen Handflächen erwärmen, wie sie beinahe eins mit mir werden und Bilder in meinem Kopf erscheinen. Plötzlich erinnere ich mich wieder an Dinge, die ich längst vergessen habe.

Ich schließe meine Augen, lasse den Moment verblassen und verfalle langsam in eine Art Trancezustand, wenn die Souvenirs zu wirken anfangen.

Der Dessertlöffel von dem Abend, als ich fein Essen war, das Stückchen Baumrinde, als sie die Eiche im Stadtpark gefällt haben, der Lampion vom Sommerfest bei den Nachbarn, die Handvoll Kirschkerne als Erinnerung an einen längst vergangenen Sommer; das gepresste Gänseblümchen stand mal unter der Parkbank, auf der mich Miriam geküsst hat. Das rosa Haarband als Symbol einer kurzen Affäre mit derselben, es lag auf ihrem Nachtkästchen, und ich bezweifle, dass sie es jemals vermisst hat. Dann gibt es noch eine Seite aus dem Gesangsbuch der örtlichen Kirche, das ich mir bei der Taufe der kleinen Sophie nahm. Sophie, die Tochter meiner Nachbarn, die noch einigermaßen Vertrauen in mir haben, ist jetzt fünf und kennt das Lied darauf beinahe auswendig, es ist unser Lied, und ich singe es ihr vor, wenn sie mich besuchen kommt. Sophie bewundert meine Sammlung, fragt nach der Geschichte zu jedem einzelnen Gegenstand und tastet alles mit ihren kleinen Kinderhänden ab.

Ich habe eine Locke von Sophies Haar eingerahmt und über dem Kästchen mit den Erinnerungen an den Tag, als ich einen Ausflug aufs Land machte, aufgehängt. In dem Kästchen befinden sich übrigens eine trockene Distel, der Deckel der Limonadenflasche, die ich mithatte, ein Tannenzapfen, ein kleines Marmeladenglas mit einer Probe Kuhflade von der Weide und ein Stückchen Schafwolle, das auf einem Stacheldrahtzaun hängengeblieben ist.

Meine »Macke« machte sich zum ersten Mal bemerkbar, als ich so um die zwei Jahre alt war. Ich nahm von Spaziergängen alles mit, was mir unter dir Finger kam. Steine, Blätter, Äste, Blumen. Damals sah man das noch als einigermaßen normal, denn die meisten Kinder in meinem Alter taten das. Meine Mutter tauschte Erfahrungen mit den Müttern aus der Nachbarschaft aus, verglich deren Kinder mit mir und war froh über jede Gemeinsamkeit und überglücklich, wenn die anderen Kinder auch so sammelten wie ich.

Das Mißtrauen meiner Eltern weckte ich erst einige Jahre später, als ich schon beinahe 15 war und noch immer sammelte. Ich lief regelmäßig Freunden der Familie hinterher, um irgendetwas von ihnen zu erhaschen, und wenn es wenigstens ein Haar oder ein Faden war, der irgendwo an ihren Kleidern hing. Ich sortierte und katalogisierte sämtliche Trophäen und archivierte sie in Schuhschachteln, die sorgsam aufgestapelt in meinem Zimmer deponiert waren. Von Zeit zu Zeit nahm ich die Fäden heraus und versuchte, mich in diesen Moment zurückzuversetzen, in dem ich die Person zum letzte Mal gesehen hatte. Mein Vater, ein Versicherungsbeamter, der sich nie viel aus mir gemacht hatte und dies auch immer wieder zeigte, wurde zu dieser Zeit auf mich aufmerksam – jedoch im negativen Sinne. Er ertappte mich dabei, wie ich im Nachbarsgarten Hundekot in Einmachgläser abfüllte und machte einen riesigen Aufstand. Ich zweifle daran, dass er sich um meine Psyche sorgen machte, er sorgte sich mehr um seinen Ruf als Vater. In den folgenden Jahren hatte er jeden Tag etwas an mir auszusetzen und machte mir das Leben schwer, doch ich ließ mich nicht unterkriegen.

Im Alter vom 17 Jahren merkte ich, dass nicht nur Gegenstände, sondern auch Gerüche an Situationen erinnern können. Schmunzelnd denke ich jetzt an die Tage, an denen ich verzweifelt mit allen möglichen Gefäßen herumlief und versuchte, Gerüche einzufangen. Der Backfett-Geruch aus der Küche, der Geruch der in der Luft hängt, bevor es anfängt zu schneien, der Geruch nach Regen, der Geruch von frisch gemähtem Gras und als Krönung meiner Versuche – der Duft der Nachbarstochter. Ich gab auf, als diese mir eines Tages eine Ohrfeige verpasste. Bis heute hat sie kein Wort mehr mit mir gewechselt.

Irgendwann habe ich dann akzeptiert, dass man Gerüche nicht mit Gläsern einfangen kann.

Während ich dies schreibe, sehe ich mich in meinem Zimmer um und weiss nicht, auf welche Art und Weise ich es Ihnen beschreiben sollte. Für mich ist es ein Raum voll mit kleinen Kästchen und Regalen, in denen jedes Fach wie ein kleiner Schrein existiert. Und jedes Souvenir ist ein kleines Heiligtum zum Gedenken an vergangene Tage, die nicht vergessen werden dürfen.

Ich muss gestehen, dass meine Sammlerleidenschaft in den letzten Jahren ein kleines bisschen abgeebbt ist. Nicht, dass ich nicht mehr mit der gleichen Leidenschaft wie vor fünf Jahren sammle. Ich habe meine Leidenschaft nur der Moral der Gesellschaft untergeordnet. Ich will nicht öffentlich als verrückt abgestempelt werden. Ich laufe jetzt keinen Mädchen mehr mit einer Schere in der Hand nach, um eine Strähne ihrer Haare zu ergattern, und ich hebe nach einem Spaziergang in der Stadt keine Zigarettenstummel mehr auf, um den Geist dieses Tages in diesem Gegenstand festzuhalten. Ich habe festgestellt, dass ich so früher oder später in der Psychiatrie enden oder zumindest misstrauische Blicke meiner Mitmenschen ernten würde.

Vielleicht halten sie mich nun tatsächlich für etwas seltsam, wenn nicht sogar krankhaft. Sie haben recht, ich bin nun mal etwas anders als manche anderen. Ich denke nicht, dass man es mir von aussen ansieht, immerhin bin ich ein gepflegter, ganz passabel aussehender Mensch und bemühe mich, so freundlich wie möglich zu jedem zu sein, der mir begegnet. Erstaunlich viel Toleranz zeige ich – so kommt es mir vor – meiner Umwelt gegenüber, obwohl ich diese Toleranz nur selten selbst spüre.

Doch was ist schon falsch an meiner Angewohnheit? Ich klammere mich eben an die Vergangenheit, ich bete sie an, verehre sie als meinen ganz persönlichen kleinen Gott. Was ist falsch daran, jeden Tag so intensiv zu leben zu versuchen, damit er nie, niemals in Vergessenheit gerät?

Jeden Tag schwebe ich im Glück, auf dieser Welt leben zu dürfen und zu wissen, dass ich im Normalfall noch mindestens 50 Jahre vor mir habe. 18250 Tage sind das. 18250 kleine Schreine für mein Zimmer. Ich glaube, ich werde bald ein Haus brauchen. Oder eine Villa. Ja, das brauche ich. Eine Villa für die Vergangenheit – einen Tempel gegen das Vergessen.

Copyright by Anna Kohlweis 2000