Astrid Joldzic (15)

Der letzte Schnee

 

Ich schließe meine Augen, ein kalter Wind umgibt meine Sinne, hüllt sie ein in die Nebelschleier der betörenden Finsternis.
Ein heller Schatten begleitet mich auf meiner letzten Reise, und wird sie nun enden im Reich der Dunkelheit.
Mein Leben schleicht vor meinen Augen dahin, einem Film gleich.
Ich fühle mich plötzlich nicht mehr schwach, nein, ich bin so stark, unglaubliche Kraft erfüllt meinen Körper, reicht meiner Seele eine stützende Hand, welche mich führt in das Ungewisse.
Die Angst ist verschwunden, alle Trauer bleibt verschlossen, hinter mir, schwebende Vergebung, unaufhaltsam.
Und ich strecke meine Arme dem Ende entgegen, laufe erleichtert über eine prachtvolle Wiese, bis an jenen Tag, als alles Leben sich dem Schicksal beugte, dann, als der letzte Winter kam.

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Kinderlachen streichelt meine Ohren, lächelnd gehe ich durch den Park. Der Duft blühender Bäume dringt in meine Nase, sprießende Knospen räkeln sich der Sonne entgegen. In der Hoffnung sie zu berühren, so hoch empor zu streben.
Alles scheint so wundervoll, lieblich zarte Verführung, und doch fühle ich tief in mir, das ist der letzte Morgen.
Das Lachen der Erde verstummt!

Die Knospen der Blumen werden sich nie zu den schönsten Blüten entfalten, denn der tötende Nebel senkt sich alsbald auf diesen Park, fällt hernieder auf alle Menschen, raubt dem Leben seine Kraft.
Der Schein der Sonne wird nie wieder erstrahlen, die Wärme flieht mit dem Wind des Guten hinfort, entschwindet dem grausigen Elend.


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Heute ist alles anders, ich spüre dieses seltsame Gefühl. Ich will sie warnen, sie alle, doch verschließen sie ihre Ohren, versteinern ihre Herzen, bleiben blind wie eh und je.
Sie haben Augen, jedoch sehen will das Unaufhaltsame niemand.
Sie leben weiter, nicht gewillt die Posaunen zu hören, die Glocken, welche heute Nacht den Tod einläuten werden, verheerende Vernichtung.
Sie bleiben stumm, gehen zur Arbeit wie jeden Tag, bringen ihre Kinder zur Schule, tratschen über das Wetter und ihre kleinen Probleme, die ihnen allen so eine schrecklich große Last zu sein scheinen.
Keiner aber von ihnen sieht, dass der Himmel heute schöner ist als je zuvor, die Sonne heller strahlt, der Wind sich bald in einen rauh tosenden Sturm wandeln und herben Geruch des Verderbens mit sich reißen wird.

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Der Tag verfliegt, Stunden werden zu Minuten, Minuten erscheinen wie Sekunden, welche sich in Staub verpuffen.
Ein Sandkorn, das letzte, rutscht in den schwarzen Schlund.
»Seht ihr es nicht, fühlt ihr nichts? Dieser Tag ist unser letzter! Morgen ist nicht mehr Morgen, die Zeit ist nahe einer alles zerstörenden Explosion!«
Ignoranz, eine Maske, die ihre Gesichter bedeckt.
Wolken türmen sich auf, zerreißen des Himmels Gewölbe, doch bemerken sie nicht die Bedrohung, welch schauriges Gewühl!

X X X X X X X X X

 

Ich frage Angel schließlich, was sie tun würde, wenn sie wüsste, dass heute der letzte Tag der Menschheit sei. Sie starrt mich an, Beunruhigung steht ihr ins Gesicht geschrieben, grenzenlose Furcht in ihren Augen, dann sagt sie zynisch: "Ich würd alles zum Teufel schicken und eine riesige Party schmeißen!" "Und wenn du es nun nicht wüsstest, mal angenommen dieser Tag wäre heute?" "Wie meinst du das?" "Na wenn heute der letzte Tag der Welt wäre, und wir morgen nicht mehr aufwachen könnten?" "Sag mal, findest du auch, dass heute alles so anders ist, irgendwie fremd? Der Himmel ist so klar und die Sonne scheint zu hell." "Und die Wolken ziehen schneller als sonst, rasen beinahe, zeitlos", werfe ich ein. "Weißt du was ich glaube, heute ist heute und morgen ist morgen. Ich denke, das ist alles was zählt. Und wenn wir morgen sterben, dann sterben wir." Sie lächelt zaghaft.

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Ironie, sie fühlt das auch, wir sind ja auf eine Art seelenverwandt oder so, und das schon seit wir uns kennen.
Es ist gut, dass jemand diesen Gedanken mit mir teilt.

Wir gehen weiter die Straße entlang, immerhin müssen wir bald nach Hause.
Die Autos fahren mit schrillem Lärm an uns vorbei, doch plötzlich, ich höre sie nicht mehr. Angel blickt mich mit ängstlichen Augen an: "Sound Of Silence, genau das ist es, die Ruhe vor dem Sturm."

Tränen tropfen auf die Pflastersteine, sind Tränen meiner Furcht.

Ja, dieses Lied hat sich schon heute Früh in mein Gedächtnis eingebrannt, und weiß ich nur zu gut seine Bedeutung, traurige Erfahrung, kein Zufall, dass Angel genau dieses Lied erwähnt, ich weiß genau was sie jetzt denkt.

Wir alle gehen aneinander vorbei, sehen uns an, obwohl wir blind sind, sprechen miteinander, und doch bleiben wir taub.

Heutzutage lebt jeder in seiner eigenen Welt, die der seinen Phantasie entsprungen.
Kein Lachen, keine Freiheit, Grau in Grau, Tag für Tag.

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Angel und ich setzen uns an den Teich, starren auf seine getrübte Wasseroberfläche. Regentropfen.
Sie mischen sich mit meinen Tränen.

"Sieh dir diese Welt an, siehst du da etwas Anderes? Ich meine, wenn wir verdammt sind in dieser leblosen Welt zu existieren, müssen wir auch mit ihr sterben, das ist so, die Entscheidung liegt nicht bei uns. Vielleicht war alles von Anfang an bestimmt. Es ist wie ein Film, Beginn - Handlung - Ende. Weißt du, die Handlung hat längst alle maßgebenden Grenzen überschritten. Diese Welt gibt nichts mehr her. Denkst du nicht auch, wenn du aufstehst und auf dem Fenster siehst, wie wir nur so dermaßen tief sinken konnten? Tiefer als die Titanic. Sie sank nur aufgrund der Überheblichkeit der Menschen, welche die Götter herausfordern wollten, wie die Titanen. Es gibt so viel Leid, aber sehen wir darüber hinweg. Wir gehen weiter, versuchen das alles einfach zu verdrängen, schenken dem Elend keine Beachtung. Was ist das für eine Welt, in der Tod, Gleichgültigkeit und Gewalt regieren, in der die Hilferufe eines Sterbenden überhört werden? Vielleicht, ja, vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, dem allen ein Ende zu bereiten. Wir sind zu weit gegangen, haben alles genommen, jedoch nichts gegeben, macht Schluss!"

Sie beginnt zu weinen.

"Du hast Recht, wir hatten das Paradies, den Garten Eden, und wir haben ihn verkauft, gegen Betonmauern eingetauscht. Und jetzt flehen wir hilflos nach Vergebung, aber die werden wir nicht bekommen. Sie ist längst fort. Das Schlimmste ist aber, diesmal können wir niemanden mehr beschuldigen, so wie wir es immer getan haben, wir sind doch die Schuldigen!"

 

X X X X X X X X X

 

Wir stehen auf, treten den Heimweg an, mit dem Gedanken, dass wir morgen nicht mehr aufwachen. Als wir schlussendlich vor meiner Haustüre stehen, umarmen wir uns, doch diesmal ein wenig länger als sonst. Dann geht Angel.

Ein letztes Mal dreht sie sich noch nach mir um und ruft: "Bist ‘ne gute Freundin, die beste!" Und alles, was über meine Lippen kommt, ist: "Wir sehen uns wieder."

»Verdammt, ich weiß, wir werden uns nicht wiedersehen!«

 

In dieser Nacht erhellten Blitze die Erde.
Ein grollendes Gewitter erfüllte die Lüfte.
dann wurde es still, beinahe bedrohend still.
Die Ruhe vor dem Sturm war angebrochen.

 

Ich wache auf, ist es etwa schon Morgen?
»Nein, Nacht muss es noch sein, aber meine Uhr, wieso ist sie stehengeblieben?
Welch grelles Licht erhellt mein Zimmer? Was ist dort draußen? Alles gleicht einer endlosen, zermürbenden Verlassenheit.«

Erschreckt laufe ich ins Freie.

Der Verkehr steht still, alle Autofahrer sind ausgestiegen, blicken nun mit offenem Mund der roten Sonne entgegen.

Plötzlich, ein Blitz.
Kein Donnern folgt ihm!
Nein, nicht ein Blitz, jetzt sind es auf einmal so viele, schrecklich viele, und dieser Krach!!!

Ich schließe meine Augen und halte meine Arme schützend vors Gesicht.

Die Luft brennt wie Feuer auf meiner Haut, erdrückend, ein Stein, Atmen geht nicht mehr, Hitze steht.

Und dann...

Stille - quälende Stille.

Die Sonne ist tot, nein, eine schwarze Wolke, ein Nebelschleier, verdunkelt sie. Das fahle Licht dringt auf die Erde, durch die dicke Wolke. Gitterstäbe.

Keine Worte, keine Bewegungen, nur Stille.

Alle starren wie gelähmt in den finstren Horizont.

Die Vögel, sie haben aufgehört zu singen.

 

Da, ich kann wieder sehen!

Ein kleiner Junge, vier oder fünf Jahre alt, schreit in die schweigende Menge, selbst erstarrt vor Angst: "Schaut doch, es schneit!"

Und wir alle griffen nach dem Schnee, der unsere Körper verstrahlte.

Es war der letzte Schnee.

 

"when the last moon is cast
over the last star of morning
then the future has passed
without even a last desperate warning"

The Last Unicorn (America)

 

X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X

 

Anmerkung der Autorin: Ich möchte diese Geschichte Victoria, einer meiner besten Freundinnen, widmen. Dank ihrer Gabe, meine Ängste und Gedanken auf seltsame Weise zu teilen, hat sie mich oft schon aus so mancher Verzweiflung gezogen. Danke, dass es dich gibt, Victoria!