Sonja Harter (17)

Des Dichters Muse

Es war schon halb zehn, sie war endlich wieder einmal von der Sonne geweckt worden. Sie liebte den Sommer. Die Ferien, ihre wieder zurückgewonnene Freiheit. Sie stand auf, ging zur Küche, ihre Mutter hatte ihr Kaffee übriggelassen. Sie deckte den Tisch für zwei, hielt inne. Natürlich, er war nicht da. Nichts als ein Hirngespinst ihrer süßen Träume. Traurig räumte sie das Besteck wieder zurück in die Lade, drehte sich um. Wie schön wäre es, ihn hier sitzen zu sehen, auch spüren zu können, jeden einzelnen Morgen, ungestört. Keine nörgelnden Eltern, die sie hetzten, nur er.

Er starrte auf die Scherben des Spiegels, zertrümmert. Er war allein, seine Frau war nun endlich gegangen, ohne Erklärung. Er hatte sie fortgeschickt, ihr zuliebe.

Das war nun sein Leben, zerbrochen am schmutzigen Boden des Badezimmers. Noch vor Augenblicken, die schon im Morgentau am Fenster abperlten, war er zerrissenen Gewissens dagestanden, und hatte sich in den Spiegel gehasst.

Sein Traum der sicheren Geborgenheit war nun zerstört, die vielen kleinen Scherben Teile seiner neuen Vergangenheit. Er setzte sich auf den nassen Boden, nahm das Stück, das die Decke des kleinen Zimmers zu reflektieren schien. Er sah auf das Glas, liebkoste die scharfen Enden mit seinen Fingern. Die Scherbe reflektierte nun die Küche. Den Tisch hatte seine Frau schon fürs Frühstück gedeckt. Die teure Küche, sie schien für eine Ewigkeit gebaut. Robust und trotzdem mit Charme eingerichtet. Das Wohnzimmer, die Bilder ihrer letzten gemeinsamen Reise. Das Schlafzimmer erschien ihm, das zerwühlte Bett, der Klimt, liebevoll über dem Schminktisch platziert, ihre Hausschuhe.

Er umschloss die Scherbe fest, es schmerzte, aus seiner verkrampften Hand quoll Blut, das Rot traf den weißen Boden. – Ihr blutroter, voller Mund tauchte aus seiner Erinnerung auf, ihre zarte, weiße Haut… Er stand auf. Die Badezimmertüre stand noch offen. Er ging hinunter, ins Wohnzimmer. Sein Blick fiel auf das Fenster. Da war sie gesessen, sein kleines Mädchen. Wie sie mit ihrem roten Haar spielte, die widerspenstigen Locken um ihren Finger wickelte, als wären sie er.

Er sah weg. Er kam ins Esszimmer, die Leere schlug ihm entgegen. Wie hatten sie sich damals doch gefreut, seine Frau und er, als es endlich fertig war. Hier würden sie Feste feiern, den Raum mit Leben erfüllen. Ja, wie oft waren sie hier gesessen, hatten getrunken, geliebt, ihre Zukunft geplant, oder auch Alltägliches besprochen. Die Erinnerung tat weh. Doch da war wieder sie, unbekümmert, wie sie auf dem Tisch saß, seine Gedichte las, immer wieder hell auflachte. Oder dort, das Sofa, auf dem sie gesessen waren. Ihre ungestüme Zärtlichkeit, ihr tiefer, offener Blick, die sinnlichen Bewegungen ihrer Hand, die ihn um jede Vernunft brachten, als ihre Finger auf seinem Knie lange genug geruht hatten, und sich langsam aber sicher vortasteten, zum ersten Mal. Welche Macht sie doch über ihn hatte. Er betrachtete sein Gesicht in der Scherbe.

Der Kaffee tat ihr gut. Sie stellte die Tasse nieder, ging ins Nebenzimmer. Sie ging zum Wandspiegel, sah sich fest in die Augen, öffnete den Bademantel, ließ ihn fallen. Sie war nackt. Sie sah seine Hände ihre kleinen Brüste umfassen, seine Lippen ihren weißen Hals liebkosen. Sie spürte seinen schweren Atem auf ihrem Körper. Er zog sie an sich, traf wie durch Zufall ihre Lippen, presste sie an seine, liebkoste brutal, seine Zunge wollte ihre herausreißen, so wenig Kontrolle war in ihm. Sie ließ es geschehen, erwiderte diesen ersten, einzigartigen Kuss so sanft, so ehrlich, so unendlich liebevoll. Hauchte ihm sanft ihr Verlangen ein. Seine Bewegungen brachen ab, seine Haut löste sich von ihrer. Ihr war kalt. Warum? Warum hatte er sie damals abgewiesen? Sich entgegen all ihrer Erwartungen zurückgezogen, es nicht getan? Hatte sie etwas falsch gemacht? War sie zu fordernd gewesen? Vielleicht auch nur zu unvollkommen. Warum konnten sie nicht das tun, was er mit seiner Frau tat? Sie liebte ihn doch. Was machte sie so unbegehrlich?

Er steckte die Scherbe in die Tasche seiner alten Lederjacke, hängte den Schlüssel an die Garderobe und zog die Tür hinter sich zu. Sie hatte das Auto genommen. Zu Fuß ging er vorbei an großen Häusern, spielenden Kindern, Männern, die den Rasen mähten. Sonntägliche Ruhe schien über den Vorstadthäusern zu liegen. Entspannte Vertrautheit strahlten sie aus, die glücklichen Familien, Liebe, Sicherheit.

Sie ließ den Gedanken nicht zu. Ging zum Bett, zog sich an. Die neue Unterwäsche. Sie ging zurück zum Spiegel, betrachtete sich. War sie Frau genug? Im Kasten suchte sie nach dem ärmellosen Top, dem blau karierten. Sie zog ihre Jeans an und ging zum Spiegel. Zwischen dem Bund ihrer Hose und dem T-Shirt war ihr Bauch zu sehen, ihr Nabel. Kaum merklich, aber er, er, der Dichter, würde es bemerken. Sie liebte die Sinnlichkeit, mit der er Details wahrnahm. Sie steckte ihre roten Locken auf den Hinterkopf, zog eine Strähne heraus, ließ sie in ihr weißes Gesicht fallen, wie zufällig. Er würde es dann aus ihrem Gesicht streichen, ihre Wangen berühren…

Er riss seine Hand hoch, das Taxi blieb stehen. Er stieg ein. Wohin wollte er? Er wusste es nicht. Egal wohin. Er war nun frei. Frei für sie. Ja. Der Wagen fuhr los. Zu ihr. Er lehnte seinen Kopf an die Scheibe. Er würde sie küssen. Immer wieder. Er würde sie nun endlich sehen, wann er wollte, mit ihr aufwachen, frühstücken. Sie würde seine neuesten Gedichte lesen, ihm ein aufmunterndes Lächeln schenken, wenn er wieder einmal ratlos am Schreibtisch saß, ihn inspirieren. Es wäre so neu. Wie lange würde es dauern, bis er sich an ihre Nähe gewöhnt hätte? Sie würde seine Frau.

Das Taxi hielt, er zahlte. Er blieb sitzen. Der Fahrer zündete sich eine Zigarette an und sah ihn an. Er dachte an ihren jungen Schoß, ihre zarten Hände, die ihn doch so wild liebkosen konnten, ihre Augen, die ihn direkt anstarrten, still, dann von einem Moment auf den anderen hell funkelten, ihr Gesicht erstrahlten. Er fürchtete diesen Blick. Der Taxifahrer sagte irgendetwas zu ihm. Er sah aus dem Fenster auf ihre Tür. Er schloss die Augen. »Fahren Sie schon!«

Sie strich die Strähne hinters Ohr, ging zum Fenster. Ein Taxi verließ die Einfahrt. Sie drehte sich zur Tür wartete aufs Klingeln. Lange.