Katharina Hammler (14)

Pfiat’ di

Nur noch eine Woche. Eine Woche, dann war sie achtzehn. Dann konnte ihr Vater sie nicht mehr hier oben halten. Mit achtzehn gehört man in die Stadt, nicht ins Gebirge. Nicht auf irgendeine Alm, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Sie sah aus dem Fenster. Was war dort draußen schon los? Der Hahn hatte den Misthaufen erklommen und krähte aus vollem Hals. Sie seufzte, schob ihren Teller weg und ging nach draußen.

Jahrelang war sie Sommer für Sommer hier herauf gekommen und hatte die Kühe gehütet. Die Kühe! Andere Mädchen aus dem Dorf fuhren wenigstens im Sommer in die Stadt. Dann kamen sie zurück, mit modischen Kleidern, und erzählten einander von den jungen Männern, die sie kennen gelernt hatten. Und von Partys, auf die sie gegangen waren. Nur sie, die Resi von der Alm, musste Jahr für Jahr Sennerin spielen.

Sie setzte sich auf die Bank vor der Hütte.

Die einzige Abwechslung, die sie hier oben hatte, waren Wanderer. Und die verirrten sich nur äußerst selten auf diese Alm. Um dann, gleich nach einer Brettljausn, weiterzuziehen. Alles nur alte Urlauber, angezogen wie vor 50 Jahren.

Von fern hörte sie das Läuten der Kuhglocken.

Ihre Sachen waren fertig gepackt, der Rucksack stand bereit. Viel besaß sie ohnehin nicht, einige Dirndlkleider, teilweise noch von ihrer Mutter, Kopftücher, Strümpfe. Andere Kleidung erlaubte ihr Vater nicht. Dazu einige Bücher, die ihr Onkel ihr einmal geschenkt hatte, zum Geburtstag. Und einen Radioapparat, batteriebetrieben. Der war ihr größter Schatz. Darum wurde sie beneidet, von den anderen, dafür hatte sie aber auch zwei Jahre lang gespart, den Rest hatte sie von ihrer Mutter bekommen, zu Weihnachten. Obwohl ihr Vater dann drei Tage beleidigt gewesen war. Von wegen »neumodisches Glumpat« oder so. Wer weiß, vielleicht würden nach diesem Sommer alle einen haben, zumindest die, die in der Stadt waren. Von dort hatte ihre Mutter ihn ja auch mitgebracht. Sie wird es nie erfahren. Auch egal.

In einigen Stunden würde ihr Vater kommen. Aber nur zum Milchholen. Für ihn gab es ja im Tal wichtigeres zu tun. Für ihn schon.

Ihr achtzehnter Geburtstag. Heute wird ihr Vater die Kühe wohl selber melken müssen. Falls ihn interessieren sollte, wo sie war, konnte er den Brief lesen, den am Nachttisch. Aber wahrscheinlich würde er ihm nicht auffallen. Er wird allen erzählen, der Teufel habe sie geholt. So wie damals, als ihre Cousine weggegangen war. Nur ihr, der Resi von der Alm, hatte sie erzählt, dass sie in die Stadt geht. Resi hat es ihrem Vater nicht gesagt. Sollte er doch glauben, was er wollte, der alte Spinner!

Mit schwerem Rucksack beladen machte sie sich in aller Früh auf den Weg. Vorsichtig, nur nicht ausrutschen. Auf dieser Seite des Berges war es noch felsiger. Aber durchs Dorf konnte sie nicht gehen.

Sie musste noch einmal an ihren kleinen Bruder denken. Nur der tat ihr Leid. Ein bisschen zumindest. Jetzt würde wohl er die Kühe hüten dürfen. Oder müssen. Pech für ihn.

Sie hatte den großen Fels erreicht. Weiter als bis hierher war sie noch nie gegangen. Ihrem Vater wäre das nicht recht gewesen. Immerhin begann hier der Grund eines Bauern im anderen Tal. Wäre ja noch schöner, sich mit dem anzufreunden! Immerhin war es seine Familie, die den Urgroßvater der angeheirateten Tante Ihres Vaters um dieses Grundstück betrogen hatte.

Sie zögerte, blickte noch einmal zurück, sah die Alm, die Kühe, die Hütte. Jetzt musste sie sich endgültig entscheiden. Sie stieg über den Zaun und setzte ihre Reise fort in Richtung der aufgehenden Sonne, die den Horizont in ein tiefes Rot tauchte.

Ihre Gestalt wurde kleiner und kleiner, bis sie schließlich im aufsteigenden Nebel verschwunden war.