Markus Grundtner (15)

Entwurzelung

Wenn ich nahezu erdrückt von der finsteren Schwere der Nacht, neben unsagbar kalten Schienensträngen am ganzen Leib krampfhaft zittere, ja fast schon erfriere, während ich die Abfahrt eines Zuges erwarte, der mich in eine andere Stadt oder gar in einen anderen Staat befördern soll, taste ich immer nach der einzigen unversehrten Tasche meines zerschlissenen Mantels, welche die Armbanduhr meiner Großmutter in sich birgt.

Fahles Mondlicht wird an den goldenen Rändern des Ziffernblattes reflektiert und glitzert gegen den Hintergrund des Sternenhimmels. Ich sehe meine Großmutter vor mir, wie sie, die junge Tochter eines herrschsüchtigen, masowischen Fischers samt ihrem Ehemann, auf Deck eines Dampfschiffes 1880 zwischen hunderten anderen Menschen herausragt und im New Yorker Hafen einfährt. Wie sie die riesige Statue, das damalige Symbol der Freiheit, erblickt. Dieses Bild aber in einem winzigen Krankenzimmer, mit vergittertem Fenster und eingeengter Aussicht auf den großflächigen Hafen, innerhalb vierwöchiger Quarantäne und zeitgleicher Trennung von ihrem Mann, wegen akuter Krankheitsgefahr, in ihren Tränen zerfließt.

Anschließend an diese Prüfung ziehen beide gen Westen, wo sie versuchen, landwirtschaftlich Fuß zu fassen, was ihnen erst nach einigen Jahren der Sparsamkeit gelingen will. Drei Jahrzehnte soll das kleine Holzhaus, eigens erbaut, durch das neun Jahre hart erarbeitete Geld, inmitten der grün-goldenen Felder, von denen nur ein kleiner Teil ihnen gehört, bestehen. Kurz bevor meine Mutter meinen Vater kennenlernt, stirbt Großmutter 1920, lange nach Großvater, und hinterläßt ihrer Tochter auf dem Totenbett die Uhr.

Ich werde geboren und verlebe acht Jahre einer üblichen Kindheit am Lande, bis eines Tages die Bank unseren nicht gewachsenen aber auch nicht geschwundenen Landbesitz konfisziert, beginnt, Maschinen wertvoller als Menschen zu erachten, tausende Familien weiter und weiter Richtung Westen treibt, sie sozusagen gewaltsam, über die Rocky Mountains hinweg, ins Meer drängt. Vater meint, dass es gut bezahlte Arbeitsplätze im sonnigen Kalifornien geben würde, was zumindest die bunten Handzettel versprechen. Also verstauen wir unser Hab und Gut auf dem alten Ford und treten die langwierige Fahrt, entlang staubiger Straßen in sengender Hitze, an.

Ich verkrafte die familiäre Enttäuschung, ob des überraschenden Mangels an Arbeitsplätzen, trotz der großspurigen Versprechungen und die daraus resultierende Desillusionierung nur schwerlich. Am Ende dieser Erinnerung liegt mein Vater zusammengekauert, vor meinen und allen anderen Augen der Bewohner in einer jener unzähligen Müllstädte, die sich täglich ständig füllen und leeren, auf dem dreckigen Boden, geprügelt von korrupten Polizisten, die ihm auf Befehl eines Plantagenbesitzers den Schädel einschlagen und ihm die Magenwand eintreten, weil er nur gesagt hat, man könne mit diesen wenigen Centstücken fürs Orangenpflücken doch keine Familie ernähren.

Meine Mutter ist nunmehr ohne Mann in einer rauhen Zeit übrig geblieben und versucht ihr möglichstes, mich hauptsächlich am Leben zu erhalten. Anmerken, auf welche Weise sie ihr Geld verdient, läßt sie sich nie etwas, und ich stelle ihr auch keine halbgaren Fragen, will es auch nicht, bis sie an meinem achtzehnten Geburtstag mit einem zufriedenen Lächeln und den Worten »Das ist nun mein später Lohn!« auf den Lippen stirbt, mir ihren letzten weltlichen Besitz, das goldene Uhrwerk, vererbt, und ich mir darüber klar werde, wieviel Leid sie meinetwegen erduldet hat.

Seitdem springe ich auf Güterzüge, verstecke mich in Laderäumen von Frachtschiffen, sitze manchmal tagelang auf der windigen Ladefläche von Lastwägen und habe so schon ganz Amerika gesehen. Rasten oder ruhen kann ich selten. Sesshaft werden schon gar nicht. Ständig trage ich die Uhr bei mir und kann behaupten, dass sie mir noch nie eine falsche Uhrzeit angezeigt hat. Jedoch wird sie mir die Antwort auf die Frage nach meinem zu Hause immer schuldig bleiben und, wenn ich sie zurück in meine Tasche gleiten lasse, erkenne ich, dass der Stoff nicht so unversehrt ist, wie es den Anschein hat, denn mit den Jahren hat sich ein großes Loch gebildet, welches ich niemals wieder zu stopfen vermag.