Verena Gramm (16)

Die Kammer

Dem Trieb, nur dem Trieb folgend ist mein Gang in Bewegung gesetzt. Durch den Nebel schleiche ich dahin. Ich krieche fast. Es ist, als ginge ich auf dem Himmel. Jeder Schritt ist wie ein Schritt zum Ende. Jeder führt mich hinein ins Ungewisse. Kaum setze ich einen Fuß in den Nebel, ist er bereits zur Seite gewichen. Ich kann ihn nicht einholen, und trotzdem ist er immer da. Denn er holt mich ein. Immer schneller gehe ich. Doch der Nebel, die schwere Luft des tiefen Waldes umgibt mich, immerfort. Er ist wie meine Gedanken; die kreisen ständig in meinem Kopf. Und trotzdem kann ich ihre Bedeutung nicht erfassen. Vielleicht bleibt der Nebel stehen, wenn auch ich meinen Schritt anhalte? Doch ich kann nicht. Zu deutlich spüre ich die Anziehung in mir. Ich werde gelenkt, gerufen werde ich. Dem Trieb gehorchend folge ich, willenlos; folge ich durch die düstere, verschleierte Umgebung hindurch, wobei der Ruf in mir immer lauter wird.

Meine Schritte führen mich direkt zu der Hütte, die abgelegen und einsam inmitten des feuchten Waldgebietes vor mir liegt. Alt und verfallen ist sie und abweisend. Die Treppe an der Hinterwand der Hütte ist morsch und erschwert durch ihre Steilheit meinen Aufstieg. Am oberen Ende, unter dem Vorsprung des Daches flackert auf einer hölzernen Truhe unruhig die Flamme einer fast abgebrannten Kerze vor sich hin. Die Truhe ist verstaubt und selbst der Schein der Kerze erscheint mir verdunkelt. Die Luft in dieser feuchten Umgebung ist mit Trockenheit erfüllt. Die Umrisse aller Dinge erscheinen mir trüb. Wie in einem Traum. Ein völlig natürlich wirkender Traum. Alles geschieht ganz mechanisch. Ich weiß ganz genau, was ich zu tun habe, meine Handlungen sind bestimmt; bewusst und unbewusst. Die Tür des Dachgeschosses befindet sich direkt vor mir. Sie ist klein; besetzt von Spinnweben starrt sie mich düster an.

Die rostigen Türangeln drehen sich langsam in ihren Gelenken. Fast scheint es, als wollen sie sich überhaupt nicht bewegen, nur starr am selben Ort verharren; fast. Langsam schiebt meine Hand das dunkle Holz von mir und mit samtenen, vorsichtigen Schritten trete ich sicher in den Raum. Dicke, stickige Luft dringt mir entgegen, und bald bin ich umschlossen von schwülstigen Geruchsschwaden. Sie sind süßlich, doch die Bitterkeit dahinter lässt sich nicht verbergen. Dringlich und scharf bohrt sie sich durch meinen ganzen Körper, so dass mich ein leiser Schauder vom Nacken über den Rücken hinab durchzieht.

Als die Tür sich wie von selbst wieder schließt, verschwindet mit den zuvor kurz eingelassenen Lichtstrahlen auch das bisschen Realitätsbezug, das ich noch hatte. Nun stehe ich vollkommen allein und abgegrenzt von aller Umwelt in einer Dunkelheit, so tief, wie ich sie noch nie erlebt habe. Mir scheint, als würde sie mich durch tausend Augen hindurch anstarren. Mein Atemzug wird mit jedem Schritt schwerer, mein Herzschlag hallt immer lauter, doch gleichsam immer langsamer, und lässt sich als nun mehr einziges Vibrieren meines Körpers vernehmen, als ich schließlich stehen bleibe.

Trotz der Dunkelheit können meine Augen das Gegebene schärfer erkennen als jemals zuvor, und der trübe Kerzenschein verstärkt die Dringlichkeit der Schärfe noch mehr. Es ist eine einzige Kerze, aufgestellt auf einem hohen, wahrscheinlich schwarzen Ständer, die einsam und verloren ihren Schein gefügsam der Umgebung hingibt, die ihren uneigenwilligen Schein der den gesamten Raum beherrschenden Schwärze nicht zum Trotze stellt, sondern sie in ihrem unendlich wirkenden Raum bloß unterstreicht. Aber auch die Dunkelheit drängt sich nicht auf, sie erfüllt durch ihr Vorhandensein einfach den Raum. Sie verleiht ihm zwar Unendlichkeit, lässt jedoch auch besondere, genaue Grenzen von tiefer Wichtigkeit erspürt und erfühlt. Und sie beherrscht mein Bewusstsein. Doch nicht nur sie. Mechanisch und hilflos bin ich stehen geblieben, stehen geblieben wie eine Unwissende, doch im Gegensatz dazu nicht getrieben von Neugier. Völlig ruhig und frei, zeit- und raumlos stehe ich da mit einem klaren Blick. Der Blick einer Wissenden. Denn ich bin wissend. Ich weiß genau, was sich unter mir befindet, was da ist. Gesenkt, auf ihm ruhend liegt mein Blick. Er wandert nicht, streift nicht langsam an dem Körper entlang. Er verharrt vollkommen ruhig und gleichmäßig auf ihm. Auf dem Leichnam.

Auch der Kerzenschein flackert nicht. Er muss sich auch nicht hüten, er flackert einfach nicht. Er ist nur da, weil er dazugehört. Er hat zu leuchten. Der Leichnam ist tot. Unbeweglich bin ich vor ihm. Ich muss meine Blicke nicht streifen lassen, nicht seine sanften Züge betrachten, ich weiß auch so alles. Ich muss ihn nicht berühren, ich weiß es auch so. Ich muss ihn nicht streicheln, ich weiß es bereits. Ich muss ihn nicht liebkosen, ich weiß es. Ich muss ihn nicht lieben, lieben wie ich es schon so oft getan habe. Oft schon? Immer? Immer.

Ich habe ihn gekannt. Einmal. Und ich kenne ihn immer noch. Immer noch? Ich muss es nicht. Und ich tu es nicht. Müssen. Ich tue nichts, nie. Ich spüre ihn, deutlich. Er ist näher als je zuvor. Der Leichnam ist tot. Ich fühle den Unlebenden. Ich empfinde ihn, wie nie zuvor. Ich bin stark, weil ich ihn so stark empfinden kann. Ich konnte lieben, ich kann lieben; nicht nur mich, wie es viele andere tun. Schön liegt er. Im matten Licht erscheint seiner anders. Eine Täuschung? Eine End-täuschung? Nein. Denn ich kenne ihn. Alles ist ruhig. Ruhig und schwarz. Er liegt ruhig. Ruhig und schwarz. Und die Stille als weiterer Zauber. Alles ist rein. Alles IST nur mehr, alles ist wesentlich. Endlich! Berührt habe ich ihn nicht. Betrachtet? Nein. Kein Blick auf sein Gesicht herab. Denn ich weiß es. Ich habe ihn empfunden, erspürt. Ihn, nicht seiner. Ich kenne ihn; oder mich. Aber jedenfalls kenne ich das Wesen. Ich kenne Liebe, höchste Empfindung. Ich weiß es.

Langsam wende ich mich von ihm ab. Ich weiß, ich brauche mich nicht meinem stärksten innerlichen Leid hinzugeben: der Sehnsucht. Ich bin immer noch ruhig, immer noch. Nie brauchte es einer Beruhigung. Ich gehe hinaus. Immer noch lache ich. Nicht höhnisch, nicht krank, wie so oft, als er noch lebte. Wie ich es bereits einige Male getan habe, denn ich bin nicht rein, nicht heilig gewesen, wenn auch vielleicht göttlich. Doch das zählt nun nichts. Das jetzt ist ein wahres, ein richtiges Lachen. Denn ich weiß alles. Ich weiß, dass ich ihn geliebt habe. Er ist in mir, für mich. Ich spüre es, ich weiß es.

Und plötzlich! Plötzlich dieses stechend klare Bild vor mir! Ein Bild des Kopfes vor Augen: ein Kreuz, ein blutendes Kreuz. Warum? Ich verstehe nicht den Grund. Ich erkläre mir keinen Sinn. Doch wozu auch? Ich weiß, es ist. Es ist da. Also ist es bedeutend, für den Moment, für mich. Die Tiefe des Bildes beginnt sich mir zu offenbaren, die Bedeutung für mein Innerstes verstärkt sich immer mehr: Zunehmend mit der Schärfe der Klarheit beginnen Empfindungen in mir hoch zu wachsen. Tief aus meinem Inneren kommend nimmt die Stärke der Gefühlsempfindung zu, und es steigert sich ihre Intensität immer mehr hin auf die Grenze eines noch nie zuvor verspürten Ausmaßes an innerer Überwältigung. Empfindungen, mein höchster Schatz. Immer stärker kann ich wahrlich das Erspürte spüren, die Empfindungen empfinden und die Gefühle fühlen. Immer mehr steigert sich diese eigentümliche, neue Wahrnehmung in mir zu einem alles übergreifenden Gefühl, zu einem neuartigen Erlebnis, zu einer vollkommenen neuen Art des Lebens, der Lebenserfahrung. Und ich werde immer mehr davon ergriffen. So sehr, dass ich meinen Geist langsam absinken spüre in andere Erlebenswelten und ich kann bereits meine Seele in anderer Umgebung erblicken.

Ich erlebe eine Trennung von Erspürtem und Materie und gleichzeitig ihre Verschmelzung, da meine äußeren Sinne den inneren Werdegang der Seele zu einem Eigenleben beobachten können, ich erblicke ihre Loslösung. Jedoch verhüllt in Formen, in »real gewohnten« Formen, als Bild. Denn plötzlich, obwohl ich unbeweglich und starr am selben Ort verharre, liege ich am Boden, im Dreck, im Staub. Jede Einzelheit kann ich erkennen: Mein Körper ist nackt, seine Gliedmaßen liegen offen. Eitrige, verkrustete Knochen liegen als Finger zwischen blutenden, wie erbrochen wirkenden Fleischklumpen: mein gesamter äußerer Innenkörper. Rippen drängen sich aus spröder Haut, vertrocknete, dürre Striche ragen als Lippen aus dem entstellten Kiefer, hervortretende Backenknochen unterstreichen den stark ausgeprägten Schatten zweier Augen. Zwei Augen als einziges ungeschändetes Teil des Ganzen, tief und klar, doch klagend; erfüllt von einem Ausdruck, der Sehnsucht und Schmerz unverhüllt lässt.

Doch mein Blick betrachtet nur den vor mir liegenden, zerschundenen Körper, ergötzt sich an seinem Ausdruck von Qual und Pein und starrt mit giervollem, eigenbefriedigendem Blick auf das Häufchen Elend. Denn er kann den zwei Augen nicht standhalten. Er kann sie nicht anblicken, ohne sich sogleich abwenden und in sich krümmen zu wollen. Ich ertrage das Flehen der Augen nicht. Denn darin liegt der Traum selbst, der Wunsch; es ist die Erfüllung, eine Fülle an Gefühlen, an Leben; in den Augen und gleichzeitig ein Drang, der Drang nach Veränderung, nach Aufnahme, nach überarbeiteter Ausgabe von zuvorigen Einwirkungen, in den Augen. Und das alles, all das kann mein äußerer Blick, durch den grauen Vorhang der Oberflächlichkeit verschleiert, nicht ertragen. Nicht das Reine, nicht das Wahre. Lieber befriedigt er seine Gier nach weiteren Oberflächlichkeiten. Er sieht, wie der Körper sich selbst peinigt, sich abquält und zitternd versucht, die aufgeladene Last von sich zu drücken: die Schuld. Er windet und krümmt sich, zappelt flattrig und zugleich verzweifelt und beutelt sich am morschen, alternden Boden.

Ein Bild der Brutalität weicht dem anderen und lässt sich als anwidernd und abartig, sowie zugleich auch als schön und anziehend erblicken und empfinden. Abstoßende Grausamkeit verschmilzt mit erregender Schönheit und lässt alles verblassen und vergessen. Grausamkeit wird zur Leidenschaft und Sucht an Ergötzung, an Erhebung und Erhabenheit, zur Sucht meiner Augen. Der Körper wirft sich immer wilder, immer schneller von einer Seite zur anderen, und mein Blick folgt immer gieriger, lüsterner, bis alles aus dem Körper und gleichsam in mir selbst nach Ausbruch schreit. Ich erlebe ihn, den Ausbruch meines oberflächlichen Körpers. Der Körper jedoch bäumt sich nochmals bis aufs Höchste auf, um sogleich wieder in sich zusammen zu sacken und schließlich endgültig im Zusammenbruch erlegen zu bleiben. Als einziger Haufen liegt er da, mitsamt den Augen. Den unschuldigen Augen. Und ich bemerke, dass er die Form eines Kreuzes hat. Ein blutendes Kreuz inmitten von Asche. Denn er ist bereits verstaubt und wie verfallen, vergangen. Meine Seele hat sich erbrochen, ist am Ausbruch geplatzt und zerstört. Und langsam ist dieses Bild, dieser Teil meines Kopfes gestorben. Mitsamt den unschuldigen Augen. Meine Seele war in einem Körper, in einem Traumbild, als Erscheinung befreit gewesen. Frei und ungelenkt. Sie ist ausgebrochen und gestorben. Doch sie war ungelenkt. Langsam, nach dem Sterben, kehre ich in meinen dem Lenken der Außenwelt unterworfenen Körper zurück, in die Realität. Erstarrt war ich gewesen, jetzt kann ich mich wieder bewegen. Mit der ersten Bewegung stirbt mir das Bild unter den Fingern dahin, schwindet aus meinem Kopf heraus. Ich bin frei davon. Ich kann mich bewegen. Gelenkt bewegen. Frei von der Freiheit.

Und ich bewege mich hinaus. Hinaus aus der Dachkammer. Die Kerze davor ist erloschen. Ich bin mir nun allem bewusst. Ich weiß, ich bin zurückgekehrt in die lebenslängliche Täuschung, zurückgekehrt aus einer End-täuschung. Es ist eine End-täuschung gewesen, doch sie besaß ihr eigenes Ende. Es hat ihren Lauf besiegelt, sowie meinen Lebenslauf. Denn ich kehrte zurück.

Dieses Wissen besitzend fragt es aus mir: »Habe ich dort wirklich gelebt, wirklich in der Wahrheit? Im höchsten Erreichungspunkt, am End-gericht? Habe ich mein Leben bereits verlebt, bin ich schon gestorben, bin ich tot? Ist mein Herausgehen der Gang in eine ewige Gefangenschaft, in eine Verbüßung aller Sünden, aller gemachten Fehler meines Lebens? Hinein in eine Art Fegefeuer? Ist es der Gang einer höheren Gewalt, dessen Opfer ich bin, für immer, für ewig? Liegt neben der Leiche in der Dachkammer noch eine zweite Leiche, die meine? Eine unlebende Leiche, eine Leiche, die bereits vom Leben abgelassen hat und deren dürrer, fahler Körper sich nun wie der Schein der schmalen Kerze dem endlos wirkenden Raum fügt? Liegt dort mein Leben, während ich den Raum verlasse und nun schweren Schrittes durch den trüben, grauen Nebel stapfe? Gewiss ist nur, dass ich mich in einer weiteren Täuschung befinde. Wer weiß, wann ihr Ende naht.« Ich muss es nicht. Und ich gehe weiter, durch den Nebel.