Sarah Folbrecht (15)

 

Das ganze Leben schien doch tatsächlich nur mehr an diesem einen Strang zu hängen, an dieser einen Saite der Gitarre, mit der die ganze Melodie des Lebens gespielt werden sollte. Erwartet hätte das niemand. Keiner hatte jemals mit dem Gedanken gespielt, dass die vergessenen Gedanken eines spielenden Kindes eines Tages spielend die Hauptrolle in einem Stück über die Welt der Gedanken und die der Umgebung eines Erwachsenen übernehmen würden. Schließlich schien die Kindheit ja tadellos gewesen zu sein. Mutter und Vater, beides vorhanden, im Doppelpack auftretend, mit einem Vorratspack an Nerven, so schien es. Sicher, selbst wenn die Mutter ein paar Monate nach der Geburt des zweiten Kindes ins Krankenhaus eingeliefert wurde, TBC die Diagnose – wegen der Unterernährung in Kriegszeiten, und einige weitere Monate dort zu bleiben hatte, kann doch wohl keiner mit reinstem Gewissen keine Lüge zu erzählen behaupten, dass ein so kleiner Knirps sich eines Tages daran erinnert, ob er nun die zweite Hälfte seines ersten Lebensjahres bei seiner Mutter zu Hause oder eben in einem Tagesheim für Säuglinge durchlebt hat. Lächerlich wäre es doch, wenn man im Alter von 44 (und auch schon früher) behaupten würde, man wüsste noch genau, wie man als Wickelkind von fremder Hand schroff und lieblos entkleidet wurde. Nicht der Rede wert die paar Monate ohne Mutter, der Vater war ja immer da, und in einer Familie, wo man sich doch alles teilt, wird man doch die schützende Zuflucht auch beim eigenen Vater finden. Der war doch immer da, so schien es.

Und bald wurde das Ehebett ja wieder in vertrauter Zweisamkeit geteilt, alle waren wieder da, ja und nicht nur Liebe war im Angebot – sogar das Geld war nicht zu knapp, der Vater verdiente schließlich gut, schon für die damaligen Verhältnisse, arbeiten hätte da die Mutter niemals dürfen. Also war sie ja ständig daheim und kochte für den Nachwuchs, die zwei Sprößlinge, alles in Ordnung, so schien es. Eislaufen ging sie mit den Kindern, oder wenigstens mit der jüngeren Tochter, und ins Ballett durften die Kleinen, oder wenigstens die jüngere Tochter, immer hatten sie doch alles, nein, am Essen hatte es dem Sohn niemals gefehlt, und der aß viel, es war immer schon verwunderlich gewesen, warum er immer aß, zu Hause, immer aß und mit dem Zeigefinger in seinen Locken herum bohrte, zu Hause, allein, immer aß und bohrte und malte, zu Hause, allein, aber alles in Ordnung, so schien es. Ein Appell zum Nachdenken ist es dann schon, wenn sich die jüngere Tochter dann später, viel später zurück erinnert, es versucht, sich aber an kein einziges Mal erinnert, dass ihre Eltern, und die waren ja immer da, ihr über die Wange gestreichelt hätten oder ihr einen Kuß gegeben hätten oder sie umarmten, aber ist schon alles in Ordnung, scheint doch so.

Auch die Jugend der Kinder hat doch in Ordnung sein müssen, warum der Sohn bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr zu Hause wohnte, ist ja nicht so unheimlich wichtig, schließlich war die Tochter ja schon ab 15 in einem Konservatorium in der Hauptstadt, für Tanz, klassischen Tanz, und gut war sie, sehr gut. Aber verloren hat sie den Kontakt zu ihren Eltern nie, nein, niemals, jedes Wochenende kam sie nach Hause und fuhr mit aufs Landhaus. Natürlich wollte sie das, sie und ihr Bruder, ihnen machte es nichts aus, jedes Wochenende am Landhaus zu hocken, sie wussten ja, wieviel Freude der Mutter ihr Gemüsegarten machte, und sie durften ja auch weggehen, zur nächtlichen Stunde, Dummheiten machten die zwei ja seltenst, und deswegen geschlagen wurden sie nie, nur manchmal, und gescholten, nicht oft. Alles in Ordnung eben.

Die Tochter blieb dann an der Oper in der Hauptstadt, und zum 25. bekam sie von der Kompanie einen Geburtstagskuchen, nette Geste, die Mutter hatte sowas nie vorbereitet, früher, für zu kindisch hielt sie das, schon immer. Auch die Männer lernte sie kennen in anderen Ländern, Fremde wurden alte Bekannte, Schwärmereien wurden ernst, er schlug sie, als sie schwanger war, aber wird schon in Ordnung gewesen sein. Er ging dann fort, weg, zurück, ließ sie allein, sie war sich selbst überlassen, lernte die Sprache des fremden Landes, zahlte die Miete mit Kleingeld, aber nur Bares ist bekanntlich Wahres, aber es ging schon, es war schon in Ordnung.

So schien es für das kleine Kind, das sie zur Welt gebracht hatte, für das sie sich aufopferte bis zum Letzen, das oft der einzige Grund gewesen war, das Messer wieder weg zu legen, die Schlinge wieder auf zu knöpfen.

Heute geht es, es ist in Ordnung, und es wäre lachhaft, die Schuld an dem Verlust des kleinen Bißchen an Zeit der Mutter in die Schuhe zu schieben, wer konnte denn ahnen, dass diese in tiefster Melancholie am Herd stand und genau im selben Zustand zum Telefon ging, als die Tochter aus der Hauptstadt anrief, weil man doch mit seiner Mutter über vieles reden solle, und die eben meinte, es könne doch wohl bis morgen früh warten. Den Vater zu beschuldigen, er lebe in seiner eigenen kleinen Welt aus Sahnetörtchen und deftiger Hausmannskost, den Sportnachrichten und seiner Arbeit, das würde sich wohl niemand erlauben, also war es doch wirklich fraglich, warum das ganze Leben der Tochter an einem einzigen Strang zu hängen schien, an dieser einen Saite der Gitarre, mit der die ganze Melodie des Lebens gespielt werden sollte, und jetzt, nach so langer Zeit, die Gestalt mit der goldenen Schere kam.