Malte Borsdorf (18)

Vier Farben

Herbstgold war von Ockergelb überaus angetan. Herbstgold mochte es, wie Ockergelb einkaufen ging – immer nur ein wenig und immer in Eile. Sie mochte seine Bewegungen, und die Unbewußtheit ihrer flüchtigen Bekanntschaft war es, die sie zueinander hinzog.

Er las immer viel, und sie sagte sich, sie habe sich nicht in ihn verliebt, sei vielmehr von seinen, für einen Mann überaus geschmeidigen Bewegungen fasziniert. Womit sie vermutlich auch recht hatte. Sie mochte es eben nur, wenn er am Bahnhof ein wenig für den Abend einkaufte. Immer Milch – niemals mehr als ein halber Liter –, etwas Brot – auch nur in geringem Maße – und ein wenig darauf – zumeist Schafskäse aus Griechenland, aber auch Gouda und Salami – diese aber nur aus Mailand. Manchmal erhaschte Herbstgold auch einen Blick auf ihn, wie er Tomaten kaufte und heimlich eine aß. Olivenöl oder sonstige Beilagen schien er nicht zu bevorzugen.

Sie kaufte sich oft etwas Hörnchen oder auch Nußschnecken in der kleinen Bäckerei, und hin und wieder legte sie ihren Zeitplan so, daß sie zur selben Zeit wie Ockergelb den kleinen warmen Raum betrat.

Sie war nicht naiv, auch nicht albern, zumindest nicht zu sehr, und doch freute sie sich, als er ihr die Tür aufhielt, und war enttäuscht, daß er ihr schönes Gesicht nicht ansah, als sie sich bei ihm bedankte. Stand sie nun neben ihm, so roch sie ein wenig: Sein Rasierwasser, vermischt mit dem frischen Schweiß des Tages, das Leder seiner Jacke. Und doch: Als die Verkäuferin meinte, sie seien ein Liebespaar, war sie gekränkt. Sie war ja nicht verliebt in Ockergelb; schließlich unterhielt sie eine Liebesbeziehung zu Königsgelb.

Herbstgold bewunderte Ockergelbs Geschicklichkeit und die verspielte Art, wie er sich in einen Winkel stellte und seine Milchtüten unter die Anne klemmte und es währenddessen noch vermochte, zu lesen. Sie war davon angetan, daß er sich nicht beobachtet fühlte und sie ihn doch ansehen konnte. Doch ließ sie sich eben nichts anmerken. Sie mochte ihn, wenn sie leicht abseits stand und viel mit alten Freundinnen lachte.

Er merkte nichts. Zumindest glaubte Herbstgold das. Sie wollte ihn ja nur beobachten.

Königsgelb war Medizinstudent in den letzten Semestern. Er hatte eine Liebesbeziehung zu Herbstgold, einer Archäologiestudentin.

Er mochte an ihr, daß sie so naturbelassen war. Selbst ihre Augen waren klar und rein. Herbstgold war für ihn nicht nur eine Farbe, sondern »die Liebe seines Lebens«, so meinte er zu diesem Thema.

Oft ging er während des Tages zu sich nach Hause, zog sich aus und stellte sich ihren schlanken, wendigen Körper vor. Er wurde einmal fast dabei ertappt und kam sich sehr töricht vor.

Königsgelb und Herbstgold gingen oft zusammen Schwimmen. Das gleichmäßige Atmen und den Schlag ihrer Arme aufs glatte Wasser hörte er gern.

Sie liebte die Freikörperkultur, und wenn er mit den Lippen über ihre samtene Haut fuhr, roch für ihn ihr Körper immer rein, obschon er nicht recht wußte, wie Reinheit roch.

Marienblau konnte die Menschen nicht gut leiden. Marienblau studierte vergleichende Literaturwissenschaften. Sie war sehr erfolgreich und von daher auch ebenso belesen.

Freitags hatte sie selten Lehrveranstaltungen, und so fuhr sie leidenschaftlich gern mit dem Zug aufs Land. Das Zugfahren bereitete ihr keine Schwierigkeit. Marienblau fuhr am liebsten auf eine bestimmte Wiese. Sie mußte am Schluß noch ein wenig laufen, und schon nach wenigen Schritten fühlte sie sich allein, war den Armen der Zivilisation entrungen. Sie mochte es, vollkommen allein zu sein und währenddessen zu wissen, daß die Zivilisation nicht weit sein konnte.

Sie las dann immer viel. Sie las sich leidenschaftlich gerne vor. Die Gedichte des jungen Heinrich Heine, Textpassagen aus Büchern Theodor Fontanes, Heinrich Bölls, und philosophierte im Stillen über die Existenzfindung der Hauptpersonen aus Büchern Max Frischs. Sie fühlte sich wohl. Unverwundbar nicht. Denn sie war es nicht und fand auch in dieser Tatsache Gründe für die Irrwege ihrer eigenen Angst vor anderen Menschen, die sie in ihrem Innersten dann immer, ihrer (der Menschen) Dummheit wegen, in allen Dingen rügte, die sie nicht so gut und gerne tat.

Wenn sie sich dann abends im Spiegel sah, ergriff sie oft panische Angst. Angst vor sich selbst, und so verhängte sie oft ihren schönen Körper, indem sie Tücher über die alten Spiegel spannte.

Fuhr sie schließlich wieder aufs Land, fühlte sie sich wohl. Wie ein anderer Mensch. Alleine und doch geborgen. Es war geradeso, als könnte sie sich an die üppige Brust der Natur drücken, still sein und ihrem Herzschlag lauschen. Ihr gleichmäßiger leiser Schlag, ihr Rotieren um die Verwirrungen des Gefühls, das sie ihr Eigen nannte. Dieser gleichmäßige Schlag, der schon soviel erlebt, soviel belebt hatte.

Sie fühlte sich zuhause auf dieser Wiese. Zuhause und allein.

Ockergelb mochte Frauen. Doch die Frauen mochten ihn nicht, hielten ihn für merkwürdig. Er meinte dies und vieles mehr, wenn er sie sich heimlich ausmalte. Ausmalen mußte. Er stellte sie sich dann immer in ihrer vollen Schönheit vor und schämte sich danach dafür. Er war einfach vom Klang ihrer Stimmen fasziniert und versuchte mehrmals, das helle Lachen, das die meisten Frauen an sich hatten, wenn er abends in seinem Zimmer alleine war, nachzuahmen.

Es gab eine, Herbstgold, die hatte es ihm angetan. Sie lachte liebevoller als die anderen. Sie bewegte ihre Lippen dazu, und der Klang harmonierte mit der Bewegung, die ihr Körper dabei vollführte. Wenn sie lächelte, zog sich ihre Oberlippe zurück und legte schöne, weiße Zähne frei, und es war so, als hätte sie keine Oberlippe mehr.

Aus den Augenwinkeln versuchte er, sich auf ihre Unterlippe zu konzentrieren. Diese wurde ebenfalls kleiner, und Ockergelbs Herz schlug höher, wenn er sah, wie ihre Lippen an den Rändern in die Höhe gezogen wurden und monumental ihre Schneidezähne, zur Hälfte, daraus hervorragten.

Herbstgold saß oft neben ihr und lauschte der schönen Laute, die ihre Zunge vollführte, wenn sie las. Sie wisperte durch die Lippen, ganz leicht nur – ganz, ganz sachte. Es elektrisierte Herbstgold oft, wenn sie hörte, wie Marienblau kleine Bläschen, die sich aus ihrem Speichel bildeten, zerdrückte und damit die Luft in unmittelbarer Umgebung ihres Mundes zerteilte – ganz zart nur. Und sie fragte sich: »Ist Liebe nur Illusion, Lüge oder einfach nur Gewohnheit?«