Marlene Bitriol (19)

Nebenan

Erinnerst du dich an die Zeit,…

All diese kleinen Rituale, die man ersonnen und sich angewöhnt hat im Kampf gegen die Schlaflosigkeit, werden nichtig, wenn diese richtig zuschlägt, an deinen Augenlidern zerrt, so dass sie sich nicht senken können, die Wimpern sich nicht gemütlich auf die Wangen betten können. Man hat sich ein bestimmtes Lied ausgesucht und es gebrandmarkt mit dem Titel ‚Einschlafmusik‘ und es läuft wieder und wieder ab, und doch bist du erneut hellwach, spätestens wenn du über den kalten Boden des Schlafzimmers zum Plattenspieler gehuscht bist, leise, um dich selbst nicht am Einschlafen zu hindern, um die Nadel einige Rillen zurück und zum Ursprung des Liedes zu setzen.

Ich habe mein Lied vor einigen Stunden mehrmals abgespielt, ohne zur Ruhe zu kommen, denn meine Gedanken wurden von Woody Guthrie’s Stimme beständig zu Tom gezogen, der mir immer vorzuwerfen pflegte, ich möge diese Platte nur, da ich ein Bild gesehen hatte, welches den Sänger im Baumwollhemd und mit Gitarre zeigte.

Ich hatte mich damals, als ich das Bild zusammen mit der Platte vor nun schon beinahe vier Jahren ausgegraben hatte, über die Aufschrift auf der Gitarre gewundert – This machine kills fascists – und Tom den Triumph gegönnt, aus seinem angelesen Wissen, welches mir damals schier unerschöpflich schien, das Wort ‚Faschist‘ zu angeln, und es mir zu erklären.

Eine Person, die Juden tötet. Es war eine zufriedenstellende Erklärung in einer Zeit, die weit vor Unterrichsstunden über den Ursprung des Worts Faschismus – Rutenbündel und so weiter – lag.

Ich hatte begeistert angenommen, es handle sich bei Guthrie’s Gitarre also in Wirklichkeit um eine Art getarnte Uzi, welche mit Holz verkleidet worden war; dann musste ich mir beschämt die Bedeutung des Wortes ‚symbolisch‘ anhören; der Tonfall Toms Stimme viel zu wenig belehrend, als dass man ihn Besserwisser hätte nennen können – ich tat es trotzdem – und gab nie ganz die Idee auf, das Instrument könne vielleicht doch eine ganz und gar unsymbolisch-reale Waffe sein.

Möglicherweise hatte dieses Bild, welches noch heute über meinem Schreibtisch hängt, doch einen winzigen Einfluss auf meine Vorliebe für diese eher unzeitgemäße Musik, aber nicht genug, um sie Teil meines abendlichen Rituals werden zu lassen.

Ich nehme vielmehr an, dies liegt an den Erinnerungen, die mit dem ersten Mal, dass ich diese Platte hörte, zusammenhängen – Tom schon halb schlafend, aber noch leise murmelnd »Schalt diesen Scheiß aus« und Vollmond, der auch jetzt über mir scheint, denn das heutige Einschlafritual liegt schon Ewigkeiten zurück, und ich habe mich inzwischen aufs Mondschauen verlegt, versuche meine Gedanken dort hinauf zu katapulieren, hinein in Mondkrater, wo sie endlich Schlaf finden würden.

Niemand, der vor Müdigkeit schon in einen fast delirischen Zustand geglitten ist, welcher sich nur in Tränen der Erschöpfung auflösen könnte, sollte gezwungen sein, eine Kirchturmuhr drei schlagen zu hören…

Spätestens nun muss ich mir eingestehen, dass das Ritual nicht komplett war, dass Tom fehlt, dass es keinen Sinn mehr hat, diese Tatsache weiter zu verdrängen.

Diese Schattenzweige vor meinem Fenster sind einfach sinnlos, dürfen sie nicht Tom dazu dienen, irgendwann zwischen zehn und zwölf in mein Zimmer und mein Bett zu schlüpfen, mein kurzes schlaftrunkenes »Hmmm?« mit einem »Schlaf endlich weiter!« zu beantworten.

Noch vor einer Woche hatte ich ihn, als er besonders übel nach Zigarrettenrauch und Bier stank, aus dem Bett geworfen, hatte ihm versichert, ich verstände es, wenn er künftig nicht mehr käme. Schließlich seien wir beide aus diesem Alter herausgewachsen, ebenso wie aus dem Bett, beinahe.

Es hatte nicht den Anschein gehabt, als hätte er meinen eher mechanisch und im Ärger gesprochenen Worten irgendeine Bedeutung beigemessen, als er lachend geantwortet hatte, er habe sich wohl im Fenster geirrt und sei im Schlafzimmer meiner Mutter gelandet.

Diese hatte erst vor einigen Wochen plötzlich bewusst wahrgenommen, dass Tom wie üblich in unserer Küche stand, eine Tasse schwarzen Kaffee in der einen Hand, einen Toast in der anderen, den er, sich über die Spüle beugend, aß. Erst hatte sie ihn nur mit einem beiläufigen Blick gestreift, hatte uns ein »Morgen, Janice. Morgen, Tom.« zugeworfen. Vielleicht war es die Tatsache, dass Tom diesen Gruß nicht wie sonst mit einem müden Nicken sondern mit einem »Wunderschöner Tag heute, nicht wahr?« quittierte, die meine Mutter plötzlich stirnrunzelnd aufschauen ließ.

»Was macht er hier?« fragte sie ihren Kaffee, dann sah sie Tom an: »Was machst du hier?« Ihre leise Stimme täuschte Ruhe vor, doch die Tatsache, dass Tom wie üblich im Pyama hier in der Küche stand, bevor er nach Hause ging, um sich anzuziehen, schien sie auf eine mir unerklärliche Weise zum Brodeln zu bringen.

»Das sollte nun eine Ende haben!« meinte sie womöglich noch leiser, und bemühte sich, es nicht wie eine Frage klingen zu lassen.

»Ich will nicht, dass er weiterhin hier schläft«, fuhr sie fort und deutete fast schuldbewusst mit dem Finger auf Tom.

»Denn ihr seid keine kleinen Kinder mehr…«

Ich schnitt ihren Wortschwall lachend ab, indem ich zur Tür ging und Mutter hinter mir ließ, noch immer mit erhobenem Finger, ihr Gesicht eine Maske des Unbegreifens und des Entsetzens, wie sie als Mutter dies bisher hätte zulassen können.

Während unseres nächsten und des darauffolgenden Frühstücks hatte Mutter die Ansprache mit mehr Nachdruck wiederholt, doch später hatte sie uns ihre Kapitulation fühlen lassen, indem sie uns mit Nichtachtung bestrafte, was allerdings zu sehr dem lieblichen Verhältnis zwischen uns glich, als dass es mich besonders hätte treffen können.

Es liegt nahe, meiner Mutter all die Schuld an seinem heutigen Nicht-Erscheinen aufzubürden, auch wenn die Vorstellung, dass ihm, als er sich gerade anschickte, aus seinem eigenen Schlafzimmerfenster zu klettern, und sich auf den Weg zu dem meinen zu machen, plötzlich die Worte meiner Mutter in den Sinn kamen, dass er, das eine Bein, welches schon auf dem Fensterbrett lag, wieder sinken ließ, da er auf einmal eine Wahrheit in diesen Worten entdeckte, die ihm bisher entgangen war.

Die röhrende Hupe ist ein unerwartetes Geräusch an diesem vogelzwitschernden Morgen, denn irgend ein Teil von mir hat angenommen, Tom sei verschwunden, auf und davon, habe seinen langgehegten Traum einfach verwirklicht, letzte Nacht. Meiner Eitelkeit schmeichelnd hatte ich vermutet, nur dies könne ihn davon abgehalten haben, nachts an meinem Fenster zu kratzen.

Das plötzliche Auftauchen des roten Lieferwagens seines Vaters erfüllt mich demnach gleichzeitig mit Ärger und Erleichterung. Und es bewirkt, dass eine neue mögliche Erklärung für sein gestriges Ausbleiben in mir aufsteigt und alle anderen Erklärungen gnadenlos verdrängt, sich einen Platz im ‚Warum habe ich nicht früher daran gedacht?‘-Winkel erkämpft.

Der rote Lieferwagen steht nur dann zu Verfügung, wenn er nicht von Toms Vater beansprucht wird. Und die einzigen Anlässe, an denen dieser auf diese Beanspruchung vergisst, sind, wenn ein Kater seine Krallen in ihn geschlagen hat –

Wir sind eher selten gezwungen gewesen, den Bus zur Schule zu nehmen, seit Tom Anfang letzten Monats Besitzer eines Führerscheins wurde, dessen Bedeutung in Toms Augen weiter und weiter gewachsen ist, ungeheure Ausmaße angenommen hatte, da mein Freund dem ausgesprochen männlichen Irrtum verfallen ist, die Worte ‚Freiheit‘ und ‚vier Räder‘ würden untrennbar zusammengehören.

Unglücklicherweise waren sein 16. Geburtstag und die Entgegennahme des Führerscheins einhergegangen mit gewissen Anfällen von Großspurigkeit einer neuen Angewohnheit, nur breitbeinig und in engen Jeans zu seines Vaters Wagen zu gehen, sich beinahe gebärdend wie ein Cowboy, der sein Pferd sattelte – den passenden Hut trägt er allerdings schon lange.

Und natürlich hatte sein Vater auch gestern Nacht in einem besonders ekstatischen Rausch Tom mit sowohl psychischer als auch physischer Gewalt davon abgehalten, das Haus zu verlassen, hatte sich in ekelhaft trunkener Kumpelstimmung an seinen Sohn geklammert, hatte ihn aber nicht nur mit seinen Armen gefesselt sondern auch, indem er in ihm ein lang verdrängtes Schuldbewusstsein hervorgelockt hatte, Schuldbewusstsein, den armen Dad in seinem hilfsbedürftigen Zustand allein zu lassen.

Langsam folge ich dem Signal der Hupe, vergesse nicht darauf, mit einer Sonnenbrille die Spuren einer beinahe schlaflosen Nacht zu verstecken und zusammen mit der Brille ein heiteres Grinsen aufzusetzen.

Trotzdem glaube ich nicht verhindern zu können, dass meine ersten Worte an ihn ein Vorwurf sein werden, doch vielleicht würde es mir gelingen, diesen munter und beiläufig auszusprechen. (»Hey, das Bett ist viel zu groß ohne dich.«) Glücklicherweise schafft er es gerade an diesem Morgen, mir zuvorzukommen, und sein Gruß: »Das Mädchen, das ich gestern kennenlernte, war ganz schön eifersüchtig auf dich« bewirkt, dass die unvermeidliche Anschuldigung spurlos von meiner Zunge in die Tiefen meines Gehirns zurücksinkt.

Ich nehme wortlos auf dem Beifahrersitz Platz, kurble das Fenster nach unten, erhöhe die Lautstärke des Radios etwas, lege die Beine aufs Amaturenbrett und zünde mir eine Zigarette an. Wenigstens das morgenliche Ritual hat teilweise seine Richtigkeit.

Er wartet nicht auf eine Aufmunterung von meiner Seite, nimmt wohl an, es liegt an meiner angebotenen morgendlichen Unlust, dass ich nicht neugierig in ihn eindringe.

Er nimmt sich ferner die Zeit, seinen Teil des Rituals zu erfüllen, indem er eine von meinen Zigaretten klaut, dann den Motor unnötig aufjaulen lässt und sich, ob der ungewöhnlich grellen Morgensonne, den Hut tiefer ins Gesicht zieht.

Dann fährt er fort: »Die konnte es nicht glauben, dass ich schon seit Ewigkeiten das Bett mit meiner kleinen Jan teile.«

»Was für ein Mädchen?«»Das ich gestern kennenlernte.«

»Was für ein Mädchen?«

»Kein nettes.«

»Was hast du ihr sonst noch über die kleine Jan erzählt?«

»Ach, weißt du, viel haben wir dann nicht mehr geredet.«Sein hassens-liebenswertes, unverkennbar zweideutiges, recht schiefes Lächeln wird durch den Schatten des Huts verstärkt, bis es fast dämonische Züge annimmt. Vielleicht noch liebenswerter. Ich schweige, und allmählich wird er nervös, was sich nur an seinen Fingern zeigt, die Step tanzen auf seinen Jeans.

»Darf ich dich zum Frühstück einladen?« fragt er förmlich, anstatt einfach zur Raststätte zu fahren, wie üblich. Das Zum-Frühstück-Einladen, das immer damit endet, dass ich meinen Teil des Frühstücks selbst zahle und einige meiner Zigaretten einbüße, ist eine neue Lebensqualität, die sein Führerschein mit sich gebracht hat.

In diesem kurzen Moment verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart, verwandelt er sich vor meinen Augen in den kleinen Jungen, der mit verzweifelter Höflichkeit fragte: »Darf ich heute nacht hier schlafen?«, während er mir unter wirrem Haar und geschwollen Augenlidern hervor einen Blick zuwarf, der bezeugen sollte, dass er sich keine Illusionen machte, und dass er natürlich wusste, dass ich ihn auslachen und zurück in die Arme seines Vaters schicken würde.

Auch, nachdem ich es ihm damals unbekümmert gewährte, mein Bett mit mir zu teilen, war die Skepsis in seinem Blick lange nicht verschwunden, doch irgendwann im Laufe der nächsten zehn Jahre, in denen ich ihm erlaubte, das Bett mit mir zu teilen, wich sie unmerklich doch. So wie ich es damals nicht fertiggebracht hatte, ihm seinen Wunsch abzuschlagen, so kann ich es auch jetzt nicht, auch wenn sein Wunsch dieses Mal weit weniger dringlich ist, und auch wenn mein verletzter Stolz und meine Müdigkeit eine vehemente Opposition gegen meine Zusage bilden. Doch ich bin hungrig.

Geschützt von einer Jukebox setzen wir uns an jenen Tisch, der sich trotz seines Titels – denn wir haben ihn zum Stammtisch erhoben – als schäbiger Ecktisch tarnt, und ich wage es schließlich, mich beim Gesicht zu entblössen, indem ich es von der Sonnenbrille befreie; die anerzogene Regel, beim Betreten düsterer Räume die Brille abzunehmen, hat über das Wissen, nun, da er mir gegenüber sitzt, noch stärker Toms Blicken ausgesetzt zu sein, triumphiert. Sofort bereue ich es wieder, denn er mustert mich eingehend, fast besorgt, und krönt mein Unbehagen noch, indem er seine Hand auf die meine legt.

Als ich eine Zigarette seinem Händedruck vorziehe, sieht er sich offenbar genötigt, mir die einleitenden Worte zu einem Gespräch zu gewähren, im Laufe dessen er wohl beabsichtigt, den Part des Trostspenders zu übernehmen: »Du siehst beschissen aus.«

Ich habe noch Gelegenheit zu antworten: »Ich habe verschlafen«, als ich zu meiner Erleichterung die klappernden Gesundheitssandalen der Kellnerin sich uns nähern höre.

Als dieses Klischee einer Kellnerin mit grämlichen Gesicht, umrahmt von blondiertem Haar, und gezücktem Bleistift vor uns steht, und ich meine Sprache wieder finde – jedenfalls genügend Worte, um eine Kanne Kaffee zu bestellen – bringt Tom, der noch zuvor auf ein Wort von mir geharrt hat, mich zum Schweigen.

In dem er mit dem Daumen auf mich deutet, beginnt er: »Sie nimmt Ei und Speck, allerdings sollte der Dotter des Eis nicht zu weich sein, und über den Speck rinnen. Der Speck hingegen sollte knusprig gebraten, allerdings keinesfalls schwarz sein. Dazu zwei Scheiben Toast, allerdings getrennt von Ei und Speck, und mit etwas Butter, nicht diese Magarine. Eine Espressotasse, allerdings nicht mit Espresso gefüllt, sondern mit ganz schwarzem Kaffee. Und ein möglichst großes Glas Orangensaft, der allerdings frisch gepresst sein sollte, ansonsten lieber ein Mineralwasser ohne Gas. Und für mich einen Milchkaffee.«

Die Bedienung entfernt sich, ohne sich die Mühe zu machen, zu verbergen, dass sie uns tief missgünstig gesonnen ist, dass sie uns grundsätzlich misstraut hat, schon seit wir zum ersten Mal einen Fuß auf ihr Terrain gesetzt haben; allerdings gestattet ihre Professionalität ihr nicht mehr als ein gedämpftes Schnauben.

»Ich würde sagen, ich habe es endlich geschafft!« ruft Tom, mir einen Rippenstoß versetzend.

»Mit Gas«, meine ich müde.

Er greift sich gespielt verzweifelt an die Stirn: »Weil es so schön sprudelt, ich weiß. Ich Idiot. Aber du siehst aus, als würde es für dich heute nicht viel Unterschied machen, ob dich irgendwelche Bläschen an den Lippen kitzeln oder nicht«, schließt er mit tieftraurigem Stirnrunzeln. Eine andere Variante des Gesprächsbeginns, blumiger als die Bemerkung über mein Aussehen, doch noch zu wenig duftend, um sie mit einem Lächeln zu quittieren.

»Ich hoffe, du hast Hunger. Schließlich hast du diesen ganzen Berg von Essen ja im Wissen um meine Diät bestellt.«

»Das ist doch absurd!« meint er, und in seiner Aufregung kann er sich gar nicht über die Tatsache freuen, dass ich ihm die ersten zwei vollständigen Sätze an diesem Morgen gewidmet habe; doch so lacht er nur ungläubig und sagt beschwörend: »Weißt du noch, früher, hatten wir nicht immer mit Riesengenuss gegessen? Hatten wir uns nicht immer über diesen lächerlichen Fitness- und Schlankheitswahn mokiert? War es nicht so, damals? Du und ich, überglücklich, wenn unser zusammengelegtes Geld für einen Hamburger reichte?«

Unwillkürlich hat sich nun doch ein Lächeln auf meine Lippen gestohlen, als ich ihn sich so in Rage reden sehe. Ich kann nicht umhin, die Ironie zu genießen, dass es nun an ihm ist, in den Erinnerungen an gemeinsame Kindheitsjahre zu schwelgen.

Erbarmen besiegt mich, und ich werfe ihm den langersehnten Rettungsring zu, an dem er nicht nur sich, sondern uns beide aus dem peinlichen Schweigen ziehen kann:

»Also, erzähl mir schon von gestern, von diesem Mädchen.«

Well, you must tell me, Baby, how your head feels under something like that, under your brandnew Leopard-Skin Pill-Box HatFrüher als gewöhnlich hievt er sich ächzend ins Zimmer, eine Zigarette zwischen den Zähnen und einen kurzen Gruß auf den Lippen. Seiner fröhlichen Stimmung glaube ich entnehmen zu können, dass er den Ausgang des heutigen Frühstücks anders im Gedächtnis behalten hat als ich, dass er meine säuerlichen Kommentare, mit denen ich seine Geschichte würzte, nicht ernst nahm, vielleicht sogar zu versteckter Bewunderung uminterpretierte. Jedenfalls grinst er in seiner besten jungenhaften Manier, als seien meine morgendliche Appetitlosigkeit und Schweigsamkeit, die nur von seiner Geschichte unterbrochen worden war, um danach noch tiefer zu werden, vergessen.

Obwohl sein Lächeln keine Erwiderung findet, beginnt er, sich auf unsere gemeinsame Nachtruhe einzustellen, zieht sich die Schuhe aus und wirft sie in die Ecke, versenkt dann die halb gerauchte Zigarette in einem Wasserglas auf meinem Nachttisch und sich selbst in meinem Bett.

Ich strecke mich neben ihm aus, atme einmal durch, um einen klärenden Luftzug in mein Gehirn zu lassen, der all meine Gedanken an ihre richtigen Plätze wehen soll; es gibt vieles zu sagen, vielen Ärger in möglichst verletzende Worte zu kleiden, doch bevor ich dies in die Tat umsetzen kann, werde ich plötzlich von derselben betäubenden Schläfrigkeit getroffen, die sich gestern partout nicht einstellen wollte.

Als wäre der Schlaf eine Schildkröte, in deren Maul ich kauere, und die ihren Kopf viel zu abrupt einzieht, zurück in ihren dunkeln, mit Träumen gefüllten Panzer.

Unfähig, ihn noch aus dem Bett zu stoßen, unternehme ich einen letzten kläglichen Versuch, Tom meine Missgunst fühlen zu lassen: »Zieh den Scheißhut aus. Dein Kopf nimmt wirklich schon genug Platz weg.«

»Mach erst das Licht aus!«Erinnerungen an das erste Mal, dass dieser Hut unglaublich deplaziert über Toms Gesicht thronte, auf welchem Ungläubigkeit und Traurigkeit miteinander rangen, sind verbunden mit Erinnerungen, an die Art, wie er meine Hand packte, bevor ich noch in Lachen über diesen Hut ausbrechen konnte, und sie gegen seine Wange drückte.

»Bartstoppeln«, meinte er. Ich forschte in seinem Gesicht nach irgendeinem Anzeichen von Erwartung, wie meine Reaktion auf diese Feststellung ausfallen sollte, doch ich begegnete nur seinen erwartungsvollen Augen, in einem gänzlich unbewegten Gesicht.

»Nun«, begann ich zögernd, und legte eine Pause ein, um ihm die Gelegenheit zu geben, mich zu unterbrechen und zurückzustoßen, bevor ich mich in die falsche Richtung bewegen konnte.

»Hast du erwartet, du würdest nie in die Pubertät kommen?« platzte es schließlich aus mir heraus, und sofort wünschte ich, jedes einzelne dieser Worte des Spottes, die nun zwischen uns in der Luft hingen, in meinen Mund zurücksaugen zu können, wünschte, ich hätte nie mitansehen müssen, wie sein zuvor bemüht ruhiges Gesicht einen verletzten Ausdruck annahm.

Er rang offenbar mit sich, ob er weggehen sollte, doch schließlich siegte der Wunsch, sich mir anzuvertrauen, vielleicht, um mir sein seltsames Verhalten begreiflicher zu machen.

»Ich hasse es«, meinte er ruhig, und es gelang ihm tatsächlich, ohne die geringste Spur von Selbstmitleid, hinzuzufügen: »Mein Gesicht, ich hasse es. Denn… ich hasse es.«

»Deshalb der Hut?« fragte ich, plötzlich beginnend zu begreifen. »Deshalb dieser Scheißhut?«

Er senkte den Kopf, als wollte er beweisen, dass besagter Hut tatsächlich seinen Zweck erfüllte und sein Gesicht in Schatten tauchte, wenn er den Kopf sinken ließ. Einzig sein nervös zuckender Nacken verriet mir etwas darüber, wie sehr er mit sich rang, wieviel er mir erzählen und zumuten dürfte. Ich hatte offenbar seine Zweifel in mich bekräftigt, da ich ihn abblocken ließ an der Mauer von Verständnislosigkeit, die ich um mich herum aufgebaut hatte.

»Ich suche meine Mutter, wirklich, aber ich finde nicht die geringste Spur von ihr. Es ist mein Vater, der mich anstarrt, und alles ist mein Vater, und jeder meiner Gesichtszüge wird den seinen Tag um Tag ähnlicher. Es wird magerer, starrender, bärtiger, blasser und scheißerwachsener, und ja, noch vor einigen Jahren nur war ich der süße Kleine, ein Abguss meiner Mutter, bejubelt von den selben Scheißverwandten meiner Mutter, die mich noch immer, selbst jetzt noch mit liebevollen Worten bombardieren, und mich doch gleichzeitig mit Blicken durchbohren, die einem Ungeziefer gegenüber angebrachter wären, als mir gegenüber, vielleicht.«

Jetzt war es sein Gesicht, welches zuckte, qualvoll verzerrt im Wissen, nicht weinen zu können, obwohl der Drang dazu von ihm Besitz ergriffen hatte, je hastiger seine Worte wurden, bis sie sich in Schluchzen auflösten; doch eine Tränen erlaubte er sich nicht, auch wenn sein Gesicht im Schutze des Huts lag.

Unsichere Kleinmädchenhaftigkeit tröstet. »Er ist nicht schlecht, weißst du. Und selbst, wenn er es sein sollte. Du bist nicht er. Du kannst dein Leben selbst in die Hand nehmen und bekommen, was du willst.«

Er erlaubt meiner Hand, streichelnd sein Rückgrat nachzuziehen, und doch entfernt er sich von mir, quälend langsam verschwindet er ganz unter dem schwarz-verbeulten Hut.