Evelyn Weinfurter (13)

Onkel Max, der Unglücksrabe

Onkel Max saß unter dem alten, knorrigen Kirschbaum und haderte wieder einmal mit sich und aller Welt. Eingehüllt in blau-graue Rauchkringelchen, zog er bedächtig an seiner Pfeife und starrte Löcher in die Luft. Seine extrem hohe Denkerstirn, die sich im Laufe der vergangenen Jahre rasant gelichtet hatte, in zentimeterdicke Sorgenfalten gelegt, knurrte er verdrossen vor sich hin: "Seitdem ich in Pension bin, fühle ich mich wie ein ausrangierter Waggon auf dem Abstellgleis – alt, grau und schäbig."

Sein Selbstwertgefühl hatte mittlerweile den absoluten Tiefpunkt erreicht, und der Gedanke, nicht mehr gebraucht zu werden, saß wie ein Stachel in seiner empfindsamen Seele und schmerzte fürchterlich. Alles lief bei ihm in letzter Zeit schief, einfach alles, was er anfasste. Sogar seine Ehe lief schief, die lief sogar im Zick-Zack den Bach hinunter. Ständig gab es Knatsch zwischen ihm und seiner Frau Agathe. Nichts, aber rein gar nichts, konnte er ihr recht machen. An allem hatte sie etwas auszusetzen und herumzunörgeln. Es war ein Jammer!

Neulich hatte sie ihn sogar, ohne lange zu fackeln, aus der Küche geworfen. Einfach so, ohne große Worte und ohne viel Geschrei. Soviel seelische Grausamkeit hätte er seiner Agathe nun doch nicht zugetraut. Und das ausgerechnet am 35. Hochzeitstag, exakt an jenem Tag, an dem er sie mit einem exzellenten Festtagsmenü à la Max überraschen wollte.

Mühevoll hatte er einen wirklich bis ins kleinste Detail ausgeklügelten Speiseplan entworfen. Nahezu perfekt, fast wie ein prämierter Hauben-Koch im 4-Sterne-Hotel. Sogar die Bohnenschoten hatte er eigenhändig aus dem Gemüsegarten geholt. Schote für Schote hatte er mit der Haushaltsschere sorgfältig und exakt abgeschnitten. In diesen Dingen war er sehr penibel.

So hechelte Onkel Max alsdann leicht gestresst und mit dicken Schweißperlen auf der Stirn um den Herd herum, von Fleischtopf zu Gemüsepfanne und wieder retour. Zwischendurch warf er hin und wieder einen hastigen Blick in das aufgeschlagene Kochbuch, das er schlauerweise auf einem alten Notenständer neben dem Herd plaziert hatte. Alles lief wie geschmiert, bis auf diese heimtückischen und durch und durch hinterlistigen Zwiebelknollen. Schon beim Zerkleinern hatte sich eines dieser Biester quergelegt und war ihm doch aalglatt aus der Hand geflutscht. Anstelle eines Zwiebelringes lag Onkel Maximilians linke Zeigefingerkuppe auf dem Schneidbrett.

Ganz und gar unsympathisch wurden ihm diese Dinger aber dann beim Rösten. Da zeigten diese Kringel doch glatt eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Chamäleon. Binnen Sekunden und ohne jegliche Vorwarnung änderten sie ihre Farbe von dezentem honiggelb in kohlrabenschwarz. Dichter Qualm sowie ein äußerst penetrant-beißender Gestank durchzogen die Küche, bahnten sich ihren Weg durch sämtliche Türritzen und verbreiteten sich in Windeseile im ganzen Haus.

Währenddessen Onkel Max, von qualvollen Hustenanfällen geschüttelt, verzweifelt gegen den Erstickungstod ankämpfte, legte Tante Agathe, von den Rauchschwaden alarmiert, einen nahezu weltrekordverdächtigen Sprint hin, und zwar von Nachbars Garten bis hin zum heimischen Küchen-Schlachtfeld.

Das Bild, das sich ihr bot, jagte ihren Blutdruck in beängstigende Höhe, und die Adern an ihren Schläfen schwollen an, wie kleine Gebirgsbäche bei starkem Regenfall. Fassungslos starrte sie auf die riesigen Stapel von angebrannten Töpfen und Pfannen, die kreuz und quer durch die ganze Küche verteilt waren. Ihre Augen wurden unnatürlich groß und weit, die Brauen schnellten nach oben, und ihre Gesichtsfarbe bot ein faszinierendes Farbenspiel von leichenblass bis krebsrot. Tante Agathe rang sichtlich nach Luft, und ihr ansonsten so gewaltiges Sprachorgan hatte sich kurzfristig verabschiedet. Als dann auch noch ihr Blick auf das dick verkrustete Ceranfeld des neuen Elektroherdes fiel, brannten bei ihr vollends die Sicherungen durch. Sie schnappte Max mit energischem Griff an den Hosenträgern und setzte ihn kurzerhand an die frische Luft. Seit diesem verhängnisvollen Tag hat Onkel Max absolutes Küchenverbot.

Doch neulich wollte er im Wohnzimmer ein Bild aufhängen. "Das ist reine Männersache", meinte er und machte sich sogleich mit Hammer und Nagel frischfröhlich ans Werk. Doch so sehr er sich auch abmühte, der Nagel wollte einfach nicht in die Wand. Nach mehreren missglückten Versuchen und einem grün-blau geschlagenem Daumen, holte er zähneknirschend die schwere Bohrmaschine Marke "Hilti" aus dem Keller. "Jetzt oder nie", brummte er mit ärgerlicher Stimme, und schon zischte der Bohrer surrend durch das knallharte Mauerwerk.

Doch plötzlich ging mit Onkel Max eine erstaunliche Verwandlung vor. Zuerst zuckten seine Hände, dann klapperte sein Gebiss und danach brach anscheinend unter seinen Füßen ein mittleres Erdbeben aus, denn ein anhaltendes Zittern durchlief seinen ganzen Körper. Kein Wunder, er hatte die Stromleitung erwischt. Während Max durch den Stromschlag einen wahren Bauchtanz vollführte, durchschlug der Bohrer die Wohnzimmerwand und kam erst zum Stillstand, als die Bohrerspitze schon weit ins gegenüberliegende Schlafzimmer hineinragte. Onkel Max war baff und Tante Agathe stocksauer.

Vergangene Woche war das Abflussrohr der Küchenspüle verstopft. Tante Agathe wollte einen Installateur zu Hilfe rufen, doch Max winkte energisch ab: "Kommt nicht in Frage", wetterte er drauflos, "den Schaden reparier’ ich selbst."

Flugs holte er seinen Werkzeugkasten und schon ging es zur Sache. Mittels Rohrzange schraubte er das Gewinde zwischen Rohrstutzen und Rohrbogen auf und beseitigte die Verstopfung. "Saubere Arbeit", meinte Tante Agathe und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Doch leider hatte Max das Gewinde nicht fest genug zugedreht, und so stand kurz darauf die Küche unter Wasser.

Als er dann auch noch beim Rasenmähen über seine eigenen Füße gestolpert und mitsamt dem Rasenmäher im Biotop gelandet war, da sah Tante Agathe rot. Sie verfrachtete Max mit seinem gebrochenen Zeh ins Auto und fuhr mit ihm, auf Teufel komm raus, ins nahegelegene Krankenhaus. Dort angelangt, steuerte sie sogleich zielstrebig auf einen der diensthabenden Ärzte zu und bat händeringend: "Herr Doktor, ich flehe sie an, verpassen’s meinem Mann einen Gips, aber bitte gleich vom kleinen Zeh bis hinauf zum Halswirbel, damit er endlich Ruhe gibt."

Der junge Arzt konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er in dem Unglücksraben seinen ehemaligen Lehrer erkannte. "So ändern sich die Zeiten", meinte er belustigt, "seinerzeit haben Sie mir meine aufgeschlagenen Knie verarztet, und heute bin ich dran." Und Herr Doktor Maier leistete ganze Arbeit – er gipste und modellierte wie ein begnadeter Bildhauer und setzte damit Onkel Max für einige Wochen außer Gefecht.