Evelyn Weinfurter (12)

Sag’ stets die Wahrheit, mein Kind!

Kaum war ich dem Windelhöschenalter entwachsen, begann Mama sogleich zielstrebig mit ihrer sogenannten "frühkindlichen Erziehung". Sie hatte sich diesbezüglich durch einschlägige Literatur schlau gemacht und war nun mit der kindlichen Psyche bestens vertraut, so dachte sie jedenfalls. Pädagogisch äußerst wertvolle Sprüche wie "Lügen haben kurze Beine", "Ehrlich währt am längsten" oder "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht ..." standen an der Tagesordnung. Mama hatte für jede Situation einen passenden Spruch auf Lager, sie war in dieser Richtung sehr erfinderisch. Lange Zeit glaubte ich auch fest an die Sinnhaftigkeit dieser Sprüche und wagte meine Mutter weder anzuschwindeln, geschweige denn sie anzulügen. Bis zu dem Tag, an dem ich die Welt schlagartig mit anderen Augen sah.

Tante Hanna aus Deutschland hatte ihren Besuch angekündigt. Ich kannte Tante Hanna nicht, hatte sie noch nie zuvor gesehen, aber ich freute mich auf ihr Kommen. Bestimmt würde sie mir, ihrer einzigen Nichte, ein hübsches Geschenk mitbringen. Vielleicht eine Puppe oder einen knuddeligen Teddybär, auf jeden Fall aber sicher etwas ganz Tolles. Tante Hanna musste eine sehr elegante Dame sein, gestylt von Kopf bis Fuß, da sie, wie ich wusste, in einer Großstadt lebt.

Ich konnte den Tag ihrer Ankunft kaum erwarten, doch als sie dann vor mir stand, wich meine Freude blankem Entsetzen. Nein wirklich, das konnte doch unmöglich meine Tante Hanna sein. Sie sah genauso aus wie die Hexe Kniesebein in meinem Bilderbuch. Diese Ähnlichkeit, ich war sprachlos! Dieselbe grässliche Höckernase, dieselben kolossal vorstehenden Zähne, ähnlich einem Pferdegebiss, und dann noch diese kalten, leblosen Fischaugen, die mir bis auf den Grund meiner Seele zu blicken schienen. Ich brachte keinen einzigen Ton über die Lippen, ich war total geschockt.

Da beugte sie sich auch noch zu mir herunter und fragte mich mit frostiger Stimme: "Willst du mir denn nicht guten Tag sagen, mein Kind?"

"Tag", flüsterte ich völlig eingeschüchtert.

"Na also", meinte diese nun doch eine Spur freundlicher "und jetzt bekomme ich noch ein Küsschen."

Nein, das war eindeutig zuviel verlangt, schoss es mir durch den Kopf, das kann ich einfach nicht. Ich bekam ganz weiche Knie, mein Herz begann zu rasen und verzweifelt schaute ich zu Mama. Sie musste mir doch beistehen in meiner grenzenlosen Not.

Doch sie meinte nur lächelnd: "Na komm schon, gib ihr doch ein liebes Bussi."

Ich stand da wie zur Salzsäule erstarrt und rührte mich nicht vom Fleck.

Da fragte mich meine Tante mit süßsaurem Gesicht: "Willst du mir denn kein Küsschen geben?"

Meine Gedanken spielten ping-pong, wie bei einem Tischtennismatch. Da stand ich nun vor einer äußerst schwerwiegenden Entscheidung. Sag ich nein, so bin ich unhöflich, sag ich ja, dann lüge ich. Lügen ist schlimmer dachte ich und entschied mich für ein klares, lautstarkes "nein".

Aber Tante Hanna gab nicht auf, sie bohrte hartnäckig weiter in meiner schlimmen Seelenqual. "Warum möchtest du mir kein Küsschen geben, wenn ich fragen darf, junge Dame?", flötete sie mir nun mit zuckersüßer Stimme ins Ohr.

Ich hatte mich nun mal entschieden bei der Wahrheit zu bleiben und damit basta! "Tante Hanna, sei mir bitte nicht böse", stammelte ich etwas kleinlaut, "aber ich kann dir leider kein Küsschen geben. Du siehst nämlich genauso aus wie die böse Hexe Kniesebein und der würde ich doch auch niemals ein Bussi geben."

So, nun war es endlich gesagt! Ich war direkt stolz auf mich, denn ich hatte auch in dieser wirklich schwierigen Situation nicht gelogen. Als ich erleichtert in die Runde blickte, sah ich überall nur betretene Gesichter.

Eines muss man Tante Hanna wirklich zugute halten: Sie wollte retten, was noch zu retten war. Sie zauberte aus ihrer Tasche ein Märchenbuch hervor und drückte es mir freudig in die Hand. "Na, was sagst du, gefällt es dir?"

Ich starrte traurig auf das Buch in meiner Hand. Eine innere Stimme flüsterte mir zu: "Keine Puppe, kein Teddy, dafür ein Buch das du schon hast und dessen Geschichten du schon auswendig kannst." Mein Gott, was für eine Pleite!

"Nun sag schon, ob dir das Buch gefällt", drängte Tante Hanna.

"Es ist wirklich sehr schön, doch das gleiche Buch steht schon in meinem Bücherregal. Aber trotzdem vielen Dank, Tante Hanna", murmelte ich und kämpfte gegen die aufkommenden Tränen an.

Gleich nachdem sich meine Tante verabschiedet hatte, nahm mich Mama zur Seite und versuchte mir den Unterschied zwischen einer Lüge aus Höflichkeit und einer normalen Lüge begreiflich zu machen. Verstanden habe ich das allerdings bis heute nicht.

Kurze Zeit später fand ich Mamas "Ratgeber für Kindererziehung" im Altpapiercontainer. Sie hatte wohl erkannt, dass Theorie und Praxis nicht immer übereinstimmen.