Evelyn Weinfurter

Weiz; 13 Jahre

1. Preis (11-13 Jahre)

(Keine) Angst

Keuchend stolperte ich den steilen Berghang hinauf, dicht gefolgt von Willi, einem 16-jährigen Jungen. Er war mit seinen Eltern im selben Ferienbotel wie wir abgestiegen und lauerte mir seit seiner Ankunft immer und überall auf. Irgendwie tat er mit leid. Obwohl er geistig schwerst behindert war, sprühte er dennoch vor Lebensfreude. Meine Eltern hatten mir eingebleut, stets nett zu ihm zu sein, und so kam es, dass ich ihn anfangs immer freundlich anlächelte oder ihm kurz zuwinkte.

Doch neulich hatte ich im Speiseraum des Hotels ungewollt ein Gespräch unserer Tischnachbarn mitangehört. Sie sprachen über Willi. Sie meinten, dass dieser durch seine Behinderung mitunter unberechenbar sein könnte:, vielleicht sogar gefährlich. Seitdem machte ich, so gut ich konnte, einen weiten Bogen um ihn.

Doch heute hatte er sich hartnäckig an meine Fersen geheftet und ließ sich einfach nicht abhängen. Er verfolgte mich bereits seit einer geschlagenen Stunde kreuz und quer durch den verschneiten Ferienort und war partout nicht abzuschütteln. Sobald ich zu laufen begann, lief auch er, und so konnte ich meinen ohnehin nur geringen Vorsprung kaum vergrößern. Mittlerweile war ich stinksauer auf ihn, er sollte mich gefälligst in Ruhe lassen, er machte mir Angst. Allmählich war es dunkler geworden, und ich stapfte verdrossen auf den nahen Berghang zu. Verdammt nochmal, Willi musste doch endlich umkehren, seine Eltern würden ihn bestimmt schon vermissen. Plötzlich stieß er hinter mir wilde Schreie aus und machte die sonderbarsten Verrenkungen. In diesem Moment hatte er eine starke Ähnlichkeit mit einem wildgewordenen Stier. „Jetzt ist es soweit", dachte ich entsetzt, „nun dreht er völlig durch", und ein Kälteschauer lief mir den Rücken entlang. Ich wollte so rasch wie möglich davonlaufen, aber meine Beine wurden schwer wie Blei, mein Herz drohte auszusetzen, und mein Kopf dröhnte, wie ein Presslufthammer. Fieberhaft suchte ich nach einem Ausweg aus dieser misslichen Lage. Um Hilfe rufen war sinnlos, kein Mensch würde mich hier hören. Es war zum Verrücktwerden, keine einzige Menschenseele weit und breit, nur ich und dieser geistesgestörte Willi.

 

Mühsam kämpfte ich mich auf allen Vieren über meterhohe Schneewächten und Eisplatten hindurch, immer weiter den Hang hinauf. Willis Schreie drangen nur mehr gedämpft an mein Ohr, folglich musste ich meinen Vorsprung ausgebaut haben. Somit konnte ich mir durchaus eine kleine Verschnaufpause gönnen. Ich atmete tief durch und fühlte mich sogleich eine Spur besser. Doch plötzlich gaben meine Füße unter mir nach, ich verlor das Gleichgewicht und sauste wie eine Lawine den Hang hinunter. Die Landung war katastrophal, ein Baumstumpf hatte mich aufgefangen. So lag ich nun wie einbetoniert im frischen Pulverschnee und konnte keinen Zentimeter nach vor und auch nicht zurück. Meine Jacke hatte sich am Baumstumpf verfangen. Panische Angst überkam mich. Es war mittlerweile stockfinster, und ich spürte sämtliche Knochen im Leibe. So lag ich also gottergeben in meinem Schneebett und starrte angsterfüllt hinauf in den dunklen Himmel. Rings um mich nur tiefe Stille und Schnee. Mir wurde kalt, erbärmlich kalt, und meine Finger fühlten sich an wie Eiszapfen, hart und steifgefroren. Es war mir klar, dass ich hier unweigerlich erfrieren würde.

In diesem Moment ging mir so allerlei durch den Kopf, und ich erinnerte mich an das Buch „Titanic", das ich vor gar nicht allzu langer Zeit gelesen hatte. Die Menschen an Bord des sinkenden Schiffes hatten dem Tod mutig ins Auge geblickt. Ein wahrhaft heldenhafter Tod! Nun hieß es wohl auch für mich Abschied nehmen und der Welt „Adieu" zu sagen. Mit krächzender Stimme schmetterte ich wehmütig mein „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus ..." in die dunkle Nacht hinein.

Ein leises Knirschen, schleppende Schritte, und aus der Dunkelheit tauchte plötzlich eine schattenhafte Gestalt auf. „Ich bring dich jetzt nach Hause", murmelte dieses tiefvermummte Etwas, und seine Stimme klang wie geborstenes Glas. „Der Todesengel", flüsterte mir meine innere Stimme zu, „er holt dich, obwohl du noch gar nicht richtig tot bist." Vor Schreck rutschte mir das Herz in Null-Komma-nichts eine Etage tiefer. Erbarmungslos zerrte mich dieses Wesen nun hoch und schleppte mich wie einen alten Mehlsack über Stock und Stein. Also wirklich, von einem Engel hatte ich eigentlich doch etwas mehr Feingefühl erwartet. Dieser hier war wahrlich ein ausgesprochener Tolpatsch. Anstatt langsam in den Himmel zu schweben, latschten wir müden Schrittes die Dorfstraße entlang. Ein denkbar unwürdiger Abgang. Das hatte ich wirklich nicht verdient. Meine Fußsohlen brannten mittlerweile wie Feuer, und meine Nase tropfte wie ein kaputter Wasserhahn.

Ohne Vorwarnung blieb dieser Tolpatsch von einem Engel plötzliche stehen, und ich schlitterte ungebremst und mit voller Wucht gegen einen Laternenpfahl. Es war wie in der Silvesternacht – ich sah tausend kleine, funkelnde Sternchen. Inmitten all dieser Sternenpracht tauchte jedoch, wie von Geisterhand geschaffen, ein Gesicht auf. Es war durchaus nicht der vermeintliche Todesengel, nein, es war Willi. Er hatte mich vorhin durch sein Geschrei nur vor dem gefährlichen Berghang warnen wollen.

Nach einem kurzen Blick in seine treuherzigen Dackelaugen war mir klar, dieser Junge kann nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun. Beschämt strich ich ihm über seine unförmige Wollmütze, und wir beide marschierten Hand in Hand zu unserem Hotel.