Thera Töglhofer (14)

Urlaub in Österreich

Sag ja zu A! Dieser Werbeslogan war Heinz schon beim Durchblättern der Prospekte regelrecht in die Augen gesprungen. Hohe Berge, blaue Seen, einfach dieses alpenländische Flair genießen. Und je mehr er sich die Sache überlegte, desto besser gefiel sie ihm. Nach dem vierten Prospekt hatte er sich dann entschlossen. Er wollte einen Urlaub bei den Nachbarn riskieren. Schnell hatte er sich auch ein Quartier ausgesucht. "Urlaub am Bauernhof" in den Tiroler Alpen. "Pension Edelweiß" – das klang verlockend nach Ruhe und Abgeschiedenheit.

Von diesem Tag an schien Heinz die Arbeit wieder leichter zu fallen. Wenn der Chef mies drauf war und ihn deshalb wieder mal zur Schnecke machte, brauchte er nur an eine Tiroler Almwiese zu denken, und ein Lächeln zauberte sich automatisch auf sein Gesicht.

Und dann war es soweit.

Im Busbahnhof von Oberalmendorf wurde er schon von Sepp junior, dem Sohn des Pensionsbesitzers, mit den Worten erwartet.

Zu Heinz’ Enttäuschung war Sepp ganz normal gekleidet. Jeans, ausgetragenes T-Shirt, Nikes und Zungenpiercing. Keine Spur von einer traditionellen Lederhose, Kniestutzen oder wenigstens einem Trachtenhemd. Aber was konnte man sich von der heutigen Jugend schon erwarten?

"Ich bringe sie zu meiner Kutsche. Die Pferdestärke ist zwar nicht berauschend, aber dafür ist sie ein original 60er Modell."

Die Aussicht auf eine Kutschenfahrt ließ Heinz gar nicht bemerken, dass er seine Koffer selbst schleppen durfte. Doch schon wurde seine Freude getrübt. Sepp steuerte auf einen rostigen VW-Käfer zu, nahm Heinz die Koffer aus der Hand und vestaute sie im Kofferraum seines Vehikels. "Das ist sie also, meine Kutsche!" meinte Sepp.

Unglücklicherweise war Heinz ein ziemlich großgewachsener Mann. 1.90, zu klein für einen Basketball-Star, zu groß für einen VW-Käfer. Die Fahrt hinterließ wohl keinen so guten Eindruck. Das letzte Stück des Weges zur Pension Edelweiß war nicht mehr asphaltiert, und bei jedem größeren Stein und jedem kleineren Felsbrocken wurde der Wagen hin- und hergeschleudert, was des öfteren eine Kollision von Heinz’ Schädeldecke mit dem Autodach bewirkte.

Die Wirtin und der Chef der Pension Edelweiß waren, was Kleidung betrifft, der völlige Kontrast von ihrem Sprößling Sepp junior. Er in Lederhose und Kniestutzen. Sie mit Schürze und Dirndl. So wie es sich eben für einen Original-Österreicher gehörte, fand Heinz.

Zum Abendessen tischte die Wirtin originale Tiroler Speckknödel auf. Es schmeckte fast zu gut, um wahr zu sein. Nach dem ersten Knödel machte Heinz sich noch Sorgen um seinen Kalorienwert, nach dem dritten waren alle Diätpläne Schnee von gestern, nach dem fünften musste er feststellen, dass für einen sechsten Knödel kein Platz mehr war.

Am nächsten Tag frühmorgens beschloß Heinz, sich Alpenflair pur zu genehmigen. Also schnürte er seine Riemchensandalen und begann, sich keuchend bergauf zu walzen. Zu irgendeinem Gipfel hin, einfach immer der Nase nach.

Nach etwa fünf Minuten hörte er hinter sich heftiges Atmen. Zwei Mountainbiker strampelten flott den Berg hinauf. Heinz begann zu überlegen, warum eigentlich mountainbiken, ja sogar Bergwanderungen, nicht zur Extremsportart erklärt wurden. So hing er seinen Gedanken nach, als er schließlich wieder ein Keuchen hinter sich hörte. Ein Keuchen, oder besser bezeichnet als Schnauben, ein Trampeln, ein Stampfen, ein Muhen.

Hinter Sepp stand der Zuchtstier des Bergbauern vom Almrauschhof persönlich. Als Geste der Freundschaft senkte er die Hörner. Diese Geste wurde von Heinz jedoch wohl missverstanden und als Bedrohung empfunden. Es war erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit der sonst etwas schwerfällige Heinz auf einmal dem Gipfel zuhopste, wie eine übermütige Gemse, dicht gefolgt von dem Bullen, der ihm mit einem Hörnertransport den Weg erleichtern wollte. Da Heinz, Stadtmensch auf Lebenszeit, die Rinderbrücke, über die er gerade rannte, nicht als solche enttarnte, bemerkte er erst etwa 500 Meter weiter, dass er seinen Verfolger abgeschüttelt hatte.

Doch jetzt waren alle Strapazen vergessen, denn der Gipfel winkte. Heinz winkte zurück und ließ sich erleichtert ins Gras plumpsen. Dann durfte er seine poetischen Fähigkeiten walten lassen, die Eintragung ins Gipfelbuch:

"Zum Gipfel ich gekommen,
Vom Almrausch leicht benommen,
Den Hörnern eines Bullen entflohen,
Sah schon den Kreislaufkollaps mir drohen,
Dieser Berg hat seinen Reiz,
Das Heldentum ist meinerseits."

Heinz Schmidt, am 8.8.99

Und jetzt musste er noch dreimal um das Gipfelkreuz rennen. Das bringe Glück, besagte eine alte Bergsteigerweisheit. In diesem Fall hätte es aber einen 60 Meter-Absturz bedeutet, die Nordwand fiel senkrecht in die Tiefe und so ließ Heinz das lieber bleiben.

Der Abstieg stand nun kurz bevor, zwar nicht auf der Nordwand, aber er durfte in der Mittagshitze trotzdem sehr schweißtreibend werden. Mit der Gondel ins Tal zu fahren, das war unmöglich. Zum einen ließ es Heinz’ Stolz nicht zu, zum anderen seine panische Angst vor solchen schwankenden Kabinen. Seufzend machte er sich auf den Weg zurück. Diesmal auf einem anderen Weg, denn auf eine zweite Begegnung mit dem Zuchtstier wollte er verzichten.

Abwärts ging es über Stock und Stein. Mittlerweile bereute Heinz es, seine Riemchensandalen angezogen zu haben. Die Sole löste sich langsam, und Blasen kamen zum Vorschein. Immer langsamer kam er vorwärts, die Ausflugsgruppe des Pensionistenheimes Oberalmendorf hätte ihn glatt überholt.

Ein schattiges Wäldchen lud ihn zum Rasten ein, und prompt folgte er dieser Einladung. Nach einer halben Stunde wohlverdienter Pause würde es sicher wieder ein besseres Vorwärtskommen geben. Doch aus dem ursprünglich geplanten halben Stündchen wurde ein Ganzes, und davon folgten noch drei Weitere. Heinz war eingeschlafen.

Als er erwachte, war es bereits dämmrig, es war acht Uhr abends. Das Wäldchen entpuppte sich nun als Wald. Um halb zehn war es so finster, dass Heinz seine Hand vor den Augen kaum mehr sehen konnte. Ein vernünftiger, erfahrener Wanderer hätte jetzt wohl eingesehen, dass es keinen Sinn hätte weiterzugehen. Aber Heinz war weder das eine noch das andere. Irgendeine bösartige Wurzel brachte ihn schließlich zu Fall. Und wie er fiel, jeder Stuntman hätte ihn beneidet: Die Augen weit aufgerissen, mit den Armen rudernd und den Mund zu einem lauten Schmerzensschrei halb geöffnet. Ein Schiedsrichter hätte für diesen Fall Heinz’ Gegenspieler mit einer roten Karte vom Platz verwiesen.

Ein heftiger Schmerz durchfuhr seinen Knöchel. Und auch wenn Heinz nie eine besonders große Leuchte gewesen war, so wusste er doch, dass dies der Schmerz eines gebrochenen Knochens war. An ein Weiterkommen war nun nicht mehr zu denken.

"Mein Handy," fiel es ihm ein. Damit konnte er sicher Hilfe holen. Rettung, Polizei, Feuerwehr, irgend jemand musste ihm doch helfen können.

Bald darauf schreckten seine wilden Beschimpfungen alle Wildtiere im Umkreis von fünf Kilometern auf: "Scheiß-Ösis! Hinterwäldler, Alpendösis, kein Empfang, kein Empfang, wozu hat man denn ein Handy?!"

In dieser Nacht tat er kein Auge zu. Seine Liegestätte war unbequem, der Hunger nagte in ihm, es wurde kalt und immer kälter und er bekam Panikattacken, wenn er meinte, ein Knacken oder ein Schnauben zu hören. Er hatte keine Angst vor Wölfen, Füchsen oder Schlangen, einzig und allein vor Zuchtstieren!

Deshalb war er froh als, die ersten Sonnenstrahlen hinter den Bergspitzen hervortraten. Er streckte sich und hielt seine blaugefrorene Nase der aufgehenden Sonne entgegen, blinzelte gen Osten. Und was er sah verschlug ihm die Sprache. Taunasse Gräser, wundervolle Wiesenblumen und etwa 200 Meter weiter die Silhouette oder, neumoderner gesagt, die Skyline von Oberalmendorf vor sich.

Dieses Jahr hat Heinz einen Mallorca-Urlaub geplant, wie alle anderen auch. Und eines hat er sich ins Hirn graviert: Sag nö, zu Ö!