Thera Töglhofer (14)

Als wäre das Leben nicht schwer genug

Samstag und schon um acht raus aus den Federn. Die erste Konfrontation mit meinem Spiegelbild. Der erste Eindruck mit einem einzigen Wort treffend beschrieben: Entsetzen! Der Abdeckstift – mein Freund und Helfer. Aber ist nie da, wenn man ihn braucht. Keine Zeit mehr zum Frühstücken, keine Zeit mehr zum Zähneputzen.

»Beeil dich, bist du soweit, wo willst du denn hin?« trägt meine Mutter zu meinem weiteren Mißmut bei.

»Ich habe ein Rendezvous mit der Klobrille!« knurre ich.

»Warum so mißgelaunt?«

»Warum, warum? Samstag, acht Uhr morgens, aufstehen, Zahnarzt, ein wahrer Horrortrip. Und da fragst du noch warum!«

»Beeil dich, einen Zahnarzt lässt man nicht warten!«

Meiner Mutter wurde die Pünktlichkeit wohl schon in die Wiege gelegt. Und Dr. Phillips, Facharzt für Zahn- und Kieferheilkunde, rennt mir auch nicht davon. Seine Zahnspiegel und Speichelabsauger schon gar nicht.

»Pünktlichkeit ist eine Tugend, die auch lernen muss die Jugend!« gibt mein weises Mütterlein zum besten.

»Eile mit Weile, weile mit Eile!« kontere ich blitzschnell.

Also gut, bringen wir es hinter uns. Das Wartezimmer, menschenleer. Wer lässt sich schon für samstags um neun einen Termin geben, außer meiner Mutter, ein wahre Frühaufstehernatur. Aber hat sie dabei an mich gedacht?

»Du hättest echt nicht mitkommen müssen!«

»Ich will doch hören, was Dr. Phillips sagt!«

»Das kann ich dir doch auch sagen!«

Meine Mutter macht ein zweifelndes Gesicht. Ich kenne dieses Gesicht. Es ist das »Hachdaskindverstehtmichnichtwoherweißichdenndassesmirwahrheitsgetreuerzähltwasderdoktorgesagthat-Gesicht«.

Ich beginne, mir schwere Selbstvorwürfe zu machen. »Achhättichdochachhättichdochnurmeinespangeöftersgetragen«-Vorwürfe.

Ihn diesem Augenblick beginnt Mama zu nörgeln:

»Hast du die Spange wohl auch immer getragen? Mir kommt vor, die hilft nicht viel ...«

Das habe ich jetzt noch gebraucht. Noch bevor ich ihr an die Gurgel springen kann, ruft mich die Assistentin auf. Und was macht meine Mutter? Packt mich doch glatt an der Hand und zerrt mich ins Behandlungszimmer.

Ich setze mein Pokerface auf und sehe zur Tür, durch die jeden Moment Dr. Phillips, ca. 1,70, um die 50, leichter Schwabbelbauch, graues Haar, Halbglatze, selbst Zähne wie ein Pferd, den Raum betreten müsste. Aber wer kommt? Ca. 1,75, ungefähr Mitte 20, Waschbrettbauch, dunkelblondes Haar ohne kahle Stellen, Zahnpastalächeln. Selbst ein paar chirurgische Eingriffe hätten Dr. Phillips nicht so widerspiegeln können. Meine Mutter streckt ihm nur kurz die Hand entgegen und fragt gleich, wo denn der gute, alte Dr. Phillips geblieben sei.

»Kongress, zwei Wochen ... in Mailand ...« Na, ist jedenfalls unwichtig. Ich schüttle die Hand des Stellvertreters bedeutend länger als meine Mutter und spüre, wie es hoch und immer höher geht mit mir: in Richtung Himmel Nr. 7.

Die Bruchlandung ist umso rasanter. In einem Zahnarztstuhl, waagrechte Lage. Der Stellvertreter ist inzwischen als Dr. Kling enttarnt, und Ring konnte ich an seinem Finger keinen entdecken. Er beginnt an meinen Zähnen herumzubasteln.

In diesen herrlichen blauen Augen könnte ich versinken. Nur für den Bruchteil einer Sekunde schließe ich die Augen. Als ich sie wieder öffne, sehe ich jedoch nicht das Antlitz des anscheinend unverheirateten Dr. Kling vor mir, sondern die Gesichtszüge meiner Mutter, die fasziniert auf Dr. Klings Finger in meiner Essluke starrt. Neugierig ist sie ja schon immer nicht gewesen. Die Anti-Faltencreme, das muss ich herzlos feststellen, hat keine Wirkung gezeigt. Schnell schließe ich die Augen wieder.

»Deine Zahnspange zeigt nicht die Wirkung, die sie zeigen sollte. Es tut mir leid, aber ich werde dir wohl oder übel Brackets montieren müssen!«

Ich fahre erschrocken in die senkrechte. Ungläubig glotze ich Dr. Kling an. Ich will schreien, will aufwachen und feststellen, dass alles nur ein Alptraum ist, aber die Stimme meiner Mutter lässt keine Zweifel zu:

»Ist doch alles nicht so schlimm!« Ich befinde mich in der Realität, der Gegenwart, der Wirklichkeit. Es platzt aus mir raus:

»Schlimm? Eine Katastrophe! Und es ist mir nicht wohl, absolut nicht. Nur übel, übel, übel und ich will nicht mit Schneeketten auf meinem Kauwerkzeug rumrennen!«

»Du wirst dich dran gewöhnen. Nun mach doch kein Theater. Trägst du eben drei oder vier Jahre die Metalldinger. Na und? Take it easy und stay on the floor. Sagst du doch auch immer!«

Ich will nicht am floor stayen, ich will die Wände hochgehen. Meine Mutter soll sich ihre Lebensweisheiten sparen! Aber es hilft nichts. Die Brackets sind beschlossene Sache.

Die Prozedur kann beginnen. Ruhig und gefasst stelle ich mich meinem Schicksal, unter der Begleitung weiterer Lebensweisheiten meiner wahrlich hilfreichen, nervtötenden Mutter. Als erstes werden Abdrücke von meinen Zähnen gemacht. Unwichtiges Detail: Dabei wäre ich fast erstickt! Dann beginnt Dr. Kling, mir meine Beißerchen mit Kleber zu beschmieren.

Inzwischen hat sich mein ehemaliger Mr. Perfect auf echtes Zahnarztniveau heruntergeschraubt, und für einen Anruf einer gewissen Sandy läßt er mich geschlagene zehn Minuten warten. Inzwischen wird natürlich der Kleber auf meinen Zähnen fest, und das ganze muss noch mal von vorne beginnen. Ganze zehn Minuten bin ich allein mit meiner Mutter in einem Raum, und trotz des Klebers verschont sie mich nicht vor einer gepflegten Konversation.

Dieser Kling (den Dr. Titel werde ich weglassen, wer weiß, vielleicht hat er ihn sich von irgendeiner Mafia-Organisation gekauft) entpuppt sich als echtes Nervenfrack, und als ich einmal gedankenverloren meinen Mund zufallen lasse, gibt er gleich einen lauten Schmerzenschrei von sich. Er hätte eben besser reagieren und die Finger schneller aus meinem Mund nehmen sollen. Von einer Schwellung, wie er behauptet, ist auch nichts zu bemerken, und meine Zahnabdrücke verblassen schon nach zirka zehn Minuten.

Endlich ist es ausgestanden. Mein Quäler Kling spricht mir nicht einmal einen Beileidswunsch aus, und meine Mutter muss zu meinen Silberecken auch noch ihren Senf dazugeben. Dann beginnt sie noch eine angeregte Unterhaltung mit dem Heini, über Parodontose. Ich muss sie förmlich aus der Praxis schleifen. Diese, schwöre ich mir, nie wieder zu betreten, aber das wird wohl fast unumgänglich sein: DI, 15:30, nächster Termin. Wieder bei diesem Möchtegerndoktor Kling.

Mittlerweile zwickt und zwackt es in meinem Mund, und es beginnt zu ziehen, dass ich glaube, mir wird demnächst das Drahtgestell samt meinen Beißerchen aus dem Mund brechen. Alles, wohin ich will, ist nach Hause, und mich in meinem Zimmer einschließen. Vier Jahre bei Wasser und Brot und mit meinem Abdeckstift. Meine Mutter scheint das zu spüren. Instinktiv will sie unbedingt noch ein paar Sachen in der Stadt erledigen.

Willenlos lasse ich mich von ihr von Geschäft zu Geschäft zerren und bin sogar zu kraftlos, um ein Veto einzulegen, als sie meine Hand beim Überqueren der Straße packt. Überraschenderweise muss die doch irgendwie auf die Idee gekommen sein, dass mich das mit den Brackets ziemlich runterzieht. Jedenfalls rationalisiert sie die Anzahl ihrer Spruchweisheiten drastisch und meint gönnerhaft:

»Jetzt kriegst du ein Eis als Trost!«

Ich bin doch kein kleines Kind mehr. Eis gegen Brackets – ein schlechter Tausch. Das Eis schmeckte herrlich. Wahrscheinlich das einzig Positive an diesem Tag!

»Kraack!« beiße ich in die Tüte!

»Aaaaahhhh!« das ist der Schmerzensschrei, der folgt. Diese Brackets sind wirklich ein Teufelszeug.

Endlich zu Hause. Demonstrativ halte ich meine Lippen eisern verschlossen. Mein Vater findet das natürlich zum Kugeln komisch. Ha, ich würde ja gerne mitlachen, du Scherzkeks, aber bei jeder unnötigen Bewegung meiner Zähne muss ich schreien.

Abends im Bett lasse ich den katastrophalen Tag noch einmal Revue passieren und ziehe die Bilanz:

Meine Zähne sind mit Schneeketten verpflastert. Ich habe Bekanntschaft mit dem scheintrügenden, doktortitelbetrügenden Möchtegern-Kieferorthopäden Kling gemacht. Meine Mutter hat mir meine letzten Nerven geraubt, und ich habe furchtbaren Hunger (wegen Essensverweigerung, mein Gebiss ist eh für nichts zu gebrauchen) und wohl die verständnislosesten Eltern der Welt.

Als wäre das Leben nicht schwer genug!