Laura Steiner (12)

Hilfe, ich habe Angst!

Ich kann mich ganz genau erinnern, wie alles noch anders war.Marie war früher so fröhlich und frei gewesen. Jetzt ist sie eher ... hilflos. Es ist schrecklich mitanzusehen, wie sie leidet. Manchmal bekommt sie einfach Wutanfälle und schlägt und tritt gegen die Wand. Nach solchen Wutanfällen ist sie immer ganz aufgelöst, sitzt am Boden und heult. Da sie laufend solche Wutanfälle hat, haben wir sie zum Psychologen geschickt. Danach hatte sie zwar viel seltener diese Anfälle, doch jedesmal, wenn sie von der Therapie zurückkam, schaute sie ganz traurig. Ich weiß einfach nicht, wie ich ihr helfen soll. Gestern saß sie wieder am Balkon, heulte und schrie jeden an, der ihr nur in die Nähe kam. Für uns sind solche Sachen mittlerweile schon normal geworden. Aber früher haben wir uns immer total erschreckt. Es hat alles damit begonnen, dass sie diesen Tom kennengelernt hat. Sie war immer nur mit ihm zusammen. Die ganze Zeit! Sie schrieb diese Dinge immer in ihr Tagebuch. Ich weiß ganz genau, was damals passierte. Ich habe nämlich ihr Tagebuch einmal im Mistkübel gefunden. Mir erzählt sie diese Dinge nicht, also habe ich ihr Tagebuch zu lesen angefangen. Ich weiß, dass man so etwas normalerweise nicht macht. Bei uns kann man aber nicht »normal« sagen. Bei uns ist nämlich nichts normal. Ich bin jetzt bestens darüber informiert, wie das mit diesem Tom war. Wenn sie nicht mit ihm zusammen gewesen wäre, wäre es nicht so weit gekommen. Sie tut mir so leid.

 

20/9

Hallo!

Hier bin ich wieder. Anika, meine beste Freundin, hat einen Freund. Ich fühle mich leer, denn ich habe keinen. Ich wünsche mir manchmal, ich hätte einen Freund, an den ich mich kuscheln kann, alle Probleme erzählen und auch Spass haben kann. Wenn ich einen Freund hätte, das habe ich mir schon genau ausgemalt, würde ich so viele Dinge mit ihm tun. Aber vor allem würde ich nie wieder alleine sein!!!

Anika schwärmt die ganze Zeit, wie fesch Manu ist. Oh, Gott! Wenn die wüsste, was sie für ein Glück hat. Und sie nimmt das so selbstverständlich!!!

25/9

Hi Tagebuch!Ich bin sooo aufgeregt! Heute im Bus bin ich mit Anika und Ihrem Freund zum Kino gefahren. Sie hat sich nicht mit ihm alleine zum Kino getraut. Die Beiden natürlich Händchen-haltend. Wir sind auf einem Vierer-Sitzplatz gesessen. Plötzlich hat sich ein anderer Junge neben mich gesetzt.

Er hat die beiden Verliebten sofort bemerkt und hat dann trübsinnig auf den Boden geschaut und dann gesagt: »Die haben es gut!«

Ich habe ihm traurig zugenickt. Plötzlich hat es in meinem Bauch zu kribbeln angefangen, als würden tausend Schmetterlinge drinnen rumfliegen. Ich habe mich auf den ersten Blick in ihn verliebt. Als er dann ausgestiegen ist, hat er mir einen Zettel in die Hand gedrückt. Ich habe mich nicht getraut, ihn aufzumachen. Erst zu Hause habe ich den Brief angeschaut.

Auf dem Zettel stand seine Telphonnummer.

Gerade vorher habe ich ihn angerufen. Meine Stimme und meine Finger waren ganz zittrig. Er war total froh, als ich anrief. ich habe ihm dann auch meine Telephonnummer gegeben. Als ich dann auflegen wollte, flüsterte er noch »ICH LIEBE DICH« in den Höhrer. Ich habe mich total gefreut.

Dann habe ich aufgelegt. Oh, mein Gott! Ich glaube, mich hat es erwischt!

26/9

Halli, hallo!

Heute, als ich nach der Schule heimgekommen bin, hat er mich gleich angerufen. Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm ins Kino gehen will. Ich habe natürlich sofort ja gesagt. Morgen werden wir uns dann vor dem Kino treffen. Ich bin ja soo aufgeregt. Was soll ich nur anziehen? Was würde ihm denn gefallen? Was soll ich mir für eine Frisur machen?

Ich kann nicht mehr weiterschreiben, denn meine Hände vibrieren vor Aufregung.

27/9

Ooooooo, liebes Tagebuch!!!

Wir waren heute im Kino! Es war richtig romantisch. Wir haben während des ganzen Films Händchen gehalten. Er hat mir sogar ein Popcorn und ein Cola spendiert. Er wollte mich eigentlich auch zum Kino einladen, aber ich habe darauf bestanden, dass ich es selbst bezahle. Zum Abschied hat er mir ein Bussi auf die Wange gegeben! Ich befinde mich im Moment im siebten Himmel!!! Ich bin ja soooo glücklich!

1/10

Hi Buch!

Wir telephonieren jeden Tag, den wir nicht zusammen verbringen. Wir telephonieren eine Stunde miteinander, eine halbe Stunde er, eine halbe Stunde ich.Ich vermisse ihn jede Sekunde, die wir nicht zusammen sind. Und er hat gesagt, dass er das auch tut.

5/10

Hallöchen!

Heute war ich mit ihm am Abend essen. Wir sind in ein total feines Restaurant gegangen. Er hat mich sogar abgeholt. Dann hat er mich auch noch eingeladen. Es war so schön. Dann hat er mich wieder nach Hause gebracht, und wir haben einander versprochen, immer zusammen zu bleiben.

10/10

Hallo Tagebuch!

Jetzt telephonieren wir schon jeden Tag zwei Stunden miteinander, und wir sehen uns jeden Tag zusätzlich noch. Heute haben wir uns in der Stadt getroffen, und ich habe für uns eine Tüte Kastanien gekauft. Es war nicht besonders viel, also hat Tom uns noch eine gekauft. Ich wollte es zwar nicht, aber er bestand darauf. Plötzlich fing ein eisig kalter Wind zu wehen an. Mir wurde total kalt. Ich hatte auch keine Jacke mit. Ich fing an zu zittern, und beim Reden brachte ich auch fast kein Wort mehr heraus. Als Tom das merkte, legte er seine Hand um mich und nahm mich unter seine Jacke. Sofort wurde mir warm. Dann verabschiedeten wir uns von einander. Es ist so ein schönes Gefühl, von Tom geliebt zu werden.

19/10

Halli, hallo Tagebuch!

Heute habe ich mich mit Tom nach der Schule getroffen. Er hat gesagt, dass er für mich eine Überraschung hat. Ich war natürlich total gespannt und bin so schnell wie möglich zu unserem Treffplatz gerannt. Er wartete dort schon ungeduldig. Er schaute ganz feierlich drein. Dann streckte er seine Arme nach mir aus und sagte: »Du weißt ja, dass ich dich unheimlich liebe ....... Ich glaubte, es ist etwas Schlimmes, weil er so redete, doch dann fuhr er fort: »Naja, ... und da habe ich mir gedacht, dass wir einmal Zeit brauchen, um alleine zu sein. Und ich habe da so einen Bekannten, dem eine Almhütte gehört, und da habe ich mir gedacht, dass wir dieses Wochenende dort hin fahren ...« Ich fiel ihm überglücklich um den Hals und schrie herum, weil ich so glücklich war. Also dieses Wochenende bin ich nur mit Tom zusammen! Ich freue mich ja schon so!!!

22/10

Hallöchen Buch!

Ich bin ja so gespannt auf das Wochenende!!! Was soll ich nur alles mitnehmen? Wir fahren morgen, am Freitag nach der Schule mit seinem Auto zum Schöckl, dort werden wir übernachten. Ich habe ja am Samstag immer schulfrei, deswegen können wir schon früher fahren.

27/10

Halli, hallo liebes, liebes Tagebuch!

Oh, Gott! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich ich bin! Das Wochenende mit Tom war wunderschön. Es war total romantisch. Die Almhütte war ganz klein. Sie hatte nur ein kleines Wohnzimmer mit einem Kamin und ein kleines Schlafzimmer mit zwei schmalen Betten.

Jeden Tag sind wir bis lange in der Nacht zusammen gesessen, haben Karten gespielt und uns ganz lange in die Augen geschaut. Am Tag sind wir meistens ins Dorf gegangen, einkaufen, oder wir sind zu einem nahen Bauern spaziert und haben Kühe und kleine Schweinchen gestreichelt. Es war alles so toll. Tom ist noch viel süßer, wenn er mit mir alleine ist. Wir haben uns sogar verlobt! Es war schon spasshalber, aber er hat mir versprochen, nur mich zu heiraten, und ich habe ihm versprochen, nur ihn zu heiraten. Er hat mir sogar als Beweis einen Ring im Dorf gekauft. Er hat sicher viel gekostet, denn er ist aus echtem Silber, und drinnen ist ein echter Bergkristall.

Also das Wochenende war das schönste das ich je erlebt hatte.

30/10

Halli, hallöchen liebes Tagebuch!Am 10/11 habe ich Geburtstag! Meine Eltern wollen unbedingt, dass wir zu meinem Geburtstag zu meiner Oma fahren und mit meiner ganzen Familie feiern. Ich will aber nicht! Ich finde das total ätzend! Ich will mit Tom zusammensein! Er ist der Einzige, der mir wirklich was bedeutet! Ich werde jetzt gleich zu meiner Mutter gehen und ihr sagen, dass ich schon was anderes vorhabe.

In letzter Zeit habe ich Tom nicht mehr so oft gesehen, aber dafür ruft er mich jeden Tag an. Ich bin schon so gespannt, was er mir zum Geburtstag schenkt.

4/11

Hey!

Ich muss zu meiner Oma! Ich finde das so Scheiße!!!Zu meinem Geburtstag werde ich ja wohl das machen dürfen, was ich will! Aber nein! Meine Eltern meinen, dass sowas ganz normal sei! »Alle Kinder fahren zu ihrer Familie, um dort den Geburtstag zu verbringen.« meint meine Mutter. Ich werde es morgen Tom sagen, wenn wir uns nach der Schule treffen.

5/11

Hilihi!

Heute habe ich mich mit Tom getroffen. Wir sind zum Macy Essen gegangen. Ich habe ihm das mit meinem Geburtstag und zu meiner Oma Fahren erzählt. Er hat mir vorgeschlagen, dass er mich, wenn wir bei meiner Oma sind, dort abholt, und wir irgendwas Tolles unternehmen. Ich bin total froh, dass ich Tom habe. Also wird mein Geburtstag doch nicht durch ein fades Familientreffen versaut.

11/11

Hallöchen süßes Tagebuch!

Es war absolut Spitze!!!

Tom hat mich, wie verabredet, gestern abgeholt. Er hat mir als Begrüßung ein langes Bussi auf die Wange gedrückt.

Anschließend sind wir in eine Disco gegangen. Es waren so viele nette Leute dort. Tom hat mich allen seinen Freunden vorgestellt. Ich glaube er war richtig stolz!

Dann ist er zu dem DJ gegangen und hat ins Mikrophon gesagt, dass ich heute Geburtstag habe. Alle Leute haben mir zugejubelt und mich beglückwünscht. Dann hat mich Tom zur Seite gezogen und gefragt, ob ich etwas ganz Tolles ausprobieren will. Ich nickte. Er hat mir ein Säckchen in die Hand gedrückt. »Probier mal! Danach fühlst du dich voll edel!« hat er mir ins Ohr geflüstert. Ich habe probiert und wirklich ... es kam mir vor, als hätte ich tausend Schmetterlinge im Bauch! Es war ein total tolles Feeling.

Und heute hat Tom mich wieder angerufen, ob ich morgen mit ihm in die Disco gehen will. Natürlich!!! Bis jetzt habe ich nur coole Sachen mit Tom erlebt. Ich freue mich schon auf morgen!

20/11

Hallöchen, Popöchen!

Ich gehe jetzt jeden Tag mit Tom in die Disco.

Vor ein paar Tagen habe ich dann Tom gefragt, was das tolle Zeug ist, das er mir immer gibt. Als er »Extasy« murmelte, war ich ganz erschrocken. Aber als er mir versicherte, dass es nicht schlimm sei, war ich erleichtert und glaubte ihm.

 

Mehr habe ich von Marie nicht gefunden, wahrscheinlich, weil sie schon zu dieser Zeit sehr kaputt war.

Am Abend, als sie das letzte Mal von der Disco heimgekommen ist, war sie ganz niedergeschlagen. Ich wollte sie in den Arm nehmen, doch sie hat mich einfach weggestoßen. Ich meine, das hat sie immer gemacht, aber nicht auf diese Art. Nicht mit dieser Gleichgültigkeit in den Augen. Am nächsten Tag wollte ich mit ihr zum Arzt gehen, weil sie Fieber hatte, aber sie hat sich mit Händen und Füßen geweigert. Nach ein paar Tagen, als es ihr schon wieder besser ging, ist sie aus der Schule heimgekommen, hat mir einen Zettel auf den Tisch geworfen und hat zu heulen angefangen. Dann ist sie in ihr Zimmer gerannt. Sie wollte nicht, dass ich sie weinen sehe. Vor mir hat Marie noch nie geweint.

Sie war freiwillig mit ihrer Freundin beim Psychologen. Danach bin ich mit ihr jeden Tag zum Psychologen gegangen. Als ich Marie schlafen gelegt hatte, hat sie zu mir »Mama, ich habe Angst vor mir!« gesagt.

Es geht ihr jetzt zwar jeden Tag besser, aber es wird sicher nie mehr so wie früher. Es wird nie mehr wie früher, weil sie dieser Tom total kaputt gemacht hat.

Vor kurzem hat Marie sogar gesagt:

»Mama, ich habe schon noch Angst, aber es wird jeden Tag besser.«