Laura Steiner (12)

Ein Tag perfektes Leben

"Aufsteh’n! Schnoe! I hab’ vergess’n, euch aufzuweck’n!"

Meine Mutter schrie wie jeden Morgen durch das Haus, um meine Geschwister und mich aufzuwecken oder besser gesagt aufzuschreien. Sie hatte nie Zeit! Wie denn auch? Sie hatte ja schließlich selber zu arbeiten. Jeden Tag um sechs auf. "Schnell die Kinder aufwecken!" Ihr erster Gedanke. Allen vier Kindern Jause richten, dass sie nur schnell weg sind, damit sie Floh schnell in die Volksschule bringen konnte, bevor die kleine Fünfjährige aufwacht. Dann sie in den Kindergarten bringen und schnell wieder nach Hause, sich selber anziehen, ins Auto rein und in die Arbeit.

Puh! Ob ich (Bernadette) das schaffen würde.

Und wenn das nicht alles auf die Minute klappt, ist der Tag für sie verhaut, weil sie zu spät in die Arbeit kommt und dann von ihrem Boss angeschrien wird. Obwohl sie eh’ nur bei einem kleinen ‘Greißler’ abeitet und nicht sehr viel verdient.

Wahrscheinlich fragen sich jetzt alle, die das lesen: "Und wo ist denn der Vater?" Das kann ich auch nicht so genau beantworten.

Ich weiß nur, dass er die Mama verlassen hat, als Sybille, meine älteste Schwester, geboren wurde. Er wollte sie nicht. Ich und meine anderen Geschwister sind ‘Unfälle’. Wunderschön zu wissen, dass man eigentlich nicht ‘gewollt’ worden war.

"Berni! Kummst jetzta endli? Oda sui i dia erst a Einlodung moch’n?"

Ich trotte müde hinunter, holte mein Gewand, dass ich gestern im Badezimmer liegen gelassen hatte und zog mich an. Dann spazierte ich schlaftrunken in die Küche. "Bist zufällig müde?"spottete Sybille. "Kein Wunder bei dem Geschrei," murmelte Carin, meine Schwester, und schaute dabei Mama an, die sich bei den Worten überhaupt nicht betroffen fühlte.

Plötzlich wankte mein kleinstes Geschwisterchen in die Küche.

"Scheiße!" Meine Mutter fluchte, weil die Kleine schon auf war.

"Scheiße sagt man nicht Mama!" zog sie Floh auf, der auch auf war. Alle lachten. Auch Mama, bei der es selten war, lachte mit. Jetzt musste sie Finni wohl oder übel mitnehmen, wenn sie mit Floh in die Schule fuhr.

Wir verabschiedeten uns und machten uns auf den Weg zur Haltestelle.

Als ich in die Klasse kam, bestürmte mich Monika, meine beste Freundin, und ließ laut verkünden, dass wir heute nur vier Stunden hätten. Dann nahm sie meine Hand und tanzte mit mir durch die Klasse. Die vier Stunden verflogen nicht gerade sehr schnell. Sie verschlichen eher. Wir hatten nähmlich Bio, Geo, Physik und Geschichte.

Als dann doch die Schule vorbei war, drückte mir Manuel - genannt Manu - einen Brief in die Hand. "Erst zu Hause aufmachen!" schrie er beim Wegrennen dazu. Als ich im Bus saß dachte ich, "Mein Gott! Jetzt kann ich ihn ja wohl aufmachen."

"Was aufmachen?"

Ich hatte ganz vergessen, dass Dominik, der schon lange in mich ‘unglücklich’ verliebt war, neben mir saß. "Ach! Nur ein Brief, sonst nix." Das war die Gelegenheit, ihm zu zeigen, dass ich ihn nicht liebte.

"Zeig’ mal her!" Er versuchte, sich den Brief von Manuel zu schnappen, aber ich zog ihn schnell weg. Er schnappte ins Leere. "Warum zeigst ihn mir nicht?"

Er war so dumm. Er kam nicht einmal auf die Idee, dass das ein Liebesbrief war. Ich öffnete ihn.

 

ICH HABE DICH GELIEBT,
DOCH DU HAST MICH NICHT GELIEBT!
DU SAU!
ICH HASSE DICH, DU TRAMPEL!
DU G’SCHISSENER, FETTER IDIOT!
DU G’STÖRTE VAPLARIN!
DU GRINDIGE NUPLERIN!

 

Mich traf fast der Schlag.

"Was ist denn?" fragte Dominik besorgt.

"Dadada steht ... ich liebe dich!"

"Ich liebe dich auch!" Dominik hatte das wieder einmal total falsch aufgefasst. Er nahm meine Hand, schloß seine Augen, küsste sie und murmelte überglücklich: "Ich werde dich nie wieder loslassen." Ich zog meine Hand aus seiner.

"Wawas hab’ ich denn falsch gemacht?" fragte Dominik verduzt.

"Nein, nein! Im Brief steht ‘Ich liebe dich’."

Dominik schaute mich traurig an. "Ich hab’ geglaubt, du liebst mich."

"Ja das hab’ ich gemerkt. Entschuldigung, dass ich das so blöd vorgelesen habe."

"Du hast es nicht blöd vorgelesen. Ich bin nur so saudumm. Mich würdest du ja nie lieben, oder?" Er schaute mich fragend mit seinen traurigen Augen an.

Irgendwie tat er mir leid.

"Siehst du! Jetzt hab’ich wieder so eine saudumme Frage gestellt, wo du nicht nein sagen kannst. Natürlich liebst du mich nicht! Ich bin fett! Ich bin häßlich, und ich habe eine blöde Art!"

Mir kam vor, dass er sich mit diesen Worten total reingesteigert hatte, deshalb fügte ich schnell hinzu: "Deine Art ist gar nicht so doof. Ich finde, dass deine Art sogar toll ist! Weil du nämlich sehr offen mit deinen Gefühlen bist. Du hast mir sofort gesagt, dass du mich liebst, und du sagst immer das, was du gerade denkst."

"Soll das heißen, du magst mich?" fragte Dominik mit einem traurigen Dackelblick.

Ich fühlte mich total beschissen. Mir wurde klar, dass ich jetzt auf keinen Fall etwas falsches sagen durfte. Er war ja jetzt schon so traurig. Also fügte ich schnell hinzu: "Na klar! Aber als ‘Kumpel’ nicht als ... na, du weißt schon!"

"Freund." fügte er schnell hinzu.

Ich war sehr erleichtert, dass ich das so locker herausgebracht hatte.

"Können ‘Kumpels’ auch miteinander ins Kino gehen?" fragte er aufgeregt.

Ich nickte lachend. "Also morgen um zwei beim ‘CINEPLEXX’!" schrie ich beim Austeigen schnell. Er nickte und winkte mir glücklich nach.

 

17.5.98

Liebes Tagebuch,

 

ich hatte letzte Nacht einen merkwürdigen Traum. Ich habe geträumt, dass ich mich wie verabredet mit dem Dominik vor dem ‘CINEPLEXX’ treffe. Plötzlich drücke ich ihm ein Küsschen auf die Wange und er tut so als wäre das ganz normal und nimmt mich in seinen rechten Arm. Alles verläuft so als ob wir zusammen wären, auch ich tat so als ob ich mit ihm zusammen bin. Er lädt mich ein und ist voll lieb zu mir. Er wird plötzlich so wie ich ihn gar nicht kenne. Er drückte mir eine Schatulle mit einem wunderschönem Ring in die Hand und gestand mir seine Liebe. Ich freue mich wahnsinnig. Plötzlich standen wir nur mehr da und schauten uns in die Augen. Und den Film den wir waren hieß ‘Romeo und Julia’

Entschuldige, Liebes Tagebuch! Das Telefon klingelt. Ich werde morgen schreiben wie es mit dem Dominik im Kino war.

 

Ich sprang von meinem Stuhl auf und rannte zu unserem Telephon.

"Scheiße!" fluchte ich, "wo ist das Tele?" War eh’ klar. Sybille hatte es in ihrem Zimmer. Ich stolperte in ihr Zimmer und murmelte ein erschöpftes

"Bernadette Rosenstingel?" in den Hörer.

"Hallöchen! Ich bin’s, Dominik." Ich musste ziemlich gekeucht haben, denn Dominik fragte: "Warum schnaufst denn so?"

Ich war ziemlich verwundert, als ich ohne zu stottern sagte, dass ich von seinem Anruf überrascht worden war und dass ich deshalb so schnell rennen musste.

Dann fragte ich ihn noch, ob ich irgendetwas für ihn tun kann. "Ich wollte nur fragen, was für einen Film wir zusammen anschauen. Du hast mir nämlich nicht gesagt, was du anschauen willst!" sagte er in den Hörer.

"Mir ist es eigentlich egal. Sag du!" murmelte ich ahnungslos.

"Ich würde so gerne ‘Romeo und Julia’ anschauen, weil mir das, wie ich es im Fernsehen in der Werbung gesehen habe, so gut gefallen hat."

Er wartete auf meine Antwort.

Das war der Film, von dem ich heute Nacht geträumt hatte. Als ich dann endlich "O.K." in den Hörer sagte, war er, glaube ich, ziemlich erleichtert. Dann verabschiedeten wir uns von einander.

Kurz vor eins saß ich - Kekse mampfend - vor meinem Rattenkäfig und fütterte Sizilien, meine Ratte. Als ich dann endlich fertig gefüttert hatte, ging ich in die Küche und bemerkte, dass es schon viertel nach eins war.

"Oh, shit!!!"

Als ich rauf ins Zimmer rennen wollte, stolperte ich bei der Treppe und mein Schienbein schlug gegen die Kante. Ich schrie auf vor Schmerz, raffte mich aber dann doch auf und humpelte in mein Zimmer.

Ich hatte kein schickes Gewand und keine tollen Schuh und außerdem tat mein Schienbein noch immer von dem Sturz auf der Treppe weh, aber ich versuchte mühsam, mir etwas zusammen zu mixen, das dann vielleicht doch annehmbar ausschaute.

Ich fand schließlich ein normales weißes T-Shirt und nahm die ärmellose, schwarze Stoffjacke von Sybille. Sie ist ungefähr gleich groß wie ich. Jetzt musste ich nur noch eine passende Hose dazu finden.

Ich wühlte in den Kästen meiner ganzen Familie, doch niemand hatte eine dazupassende Hose für mich.

Als ich erschöpft in mein Zimmer zurückkehrte, fiel mir ein, dass meine Mutter mir vor längerer Zeit eine Hose aus einem Katalog bestellt hatte, aber sie war mir damals viel zu groß. Also würde sie mir jetzt erstens passen und zweitens war sie SCHWARZ. Also marschierte ich in unser Kammerl und wühlte in dem Kasten für zu kleine und zu große Kleidung. Was ich alles fand. Leggins, T-Shirts, alte BH’s von der Größe eines Zwei-Mann-Zeltes – hatte meine Mutter wirklich einen so großen Busen? Unterhosen, Socken – und dann stieß ich auf diese schwarze, noch nicht einmal getragene Hose. Und sie passte!!

Aber leider war es schon Viertel vor zwei. Ich wohnte aber leider vierzig Minuten mit dem Rad vom CINEPLEXX entfernt. Also machte ich mich hurtig auf den Weg. Es war halb drei.

Dominik wartete schon ungeduldig. "Der Film hat schon längst angefangen." murmelte er traurig. Wir stiegen beide niedergeschlagen auf die Rolltreppe. Wir erkundigten uns, wann der nächste Romeo-und-Julia-Film anfangen würde.

"Also! Der wirklich nächste Romeo und Julia Film fängt dann doch schon um, ich glaube, ich bin mir aber nicht ganz sicher ..."

Sie kam nicht weiter, denn ich schrie: "Könnten Sie uns einfach nur die Uhrzeit sagen?" Dabei verkutzte ich mich und stand röchelnd, mich an die Scheibe lehnend, an der Kassa.

"In einer halben Stunde." näselte die Frau erschrocken.

In der Zwischenzeit setzten wir uns in ein Caféhaus. Erst dort bemerkte ich, dass ich vom Fahrradfahren total verschwitzt war und fürchterlich roch. Mir war das ziemlich peinlich, so sagte ich ihm, dass ich nur schnell weg müsste. Schnell rannte ich zum nächsten Drogeriemarkt und kaufte mir ein Parfum, das nach Veilchen duftete. Nun war es etwas angenehmer.

Im Café angekommen, fragte mich Dominik, wo ich denn so lange gewesen wäre. Ich redete mich auf dringenden Klodrang aus, indem ich einfach sagte: "Die Natur hat gerufen."

Ich bestellte mir ein Glas Mineralwasser, bei dem ich aber keine Chance hatte, es zu trinken, denn ich schüttete es nach sofortigem Erhalt aus. Dominik wurde rot, als ich mich für mein patschertes Verhalten entschuldigte. Dann war es halb drei.

Die Dame an der Kassa, es war die gleiche, die vorher so erschrocken war, saß wieder dort, und sie näselte stärker als vorher, glatt so, als hätte sie starken Schnupfen, auf den sie sehr stolz war. "Der Film fängt erst um drei an. Ich hatte euch halb drei gesagt, damit ihr noch zurecht kommt, und euch nicht so beeilen müsst."

"Danke sehr!" bedankte sich Dominik höflich.

Die Frau war ganz entzückt, endlich mal einen Menschen zu treffen, der zu ihr höflich war.

"Könnten wir jetzt bitte die Karten haben?"

"Romeo und Julia, letzte Reihe, Mitte!" erwiderte ich darauf mindestens gleich so höflich. Keine Spur von Romantik tauchte auf. Wie denn auch? Ich wich, sobald er zu mir schaute, ein bißchen weg. Als ob er gefährlich wäre. Aber als er mir dann ein Popcorn spendieren wollte, ließ ich dieses Wegweichen und tat so, als wären wir schon ganz lange so gut befreundet.

"Die Werbung kenne ich schon so ewig." motzte ich gelangweilt.

"Ich finde, sie ist voll witzig!" entgegnete Do.

Dann kam endlich der Hauptfilm. Es wurde stockdunkel.

Als dann am Ende Romeo, gespielt von meinem Liebling Leonardo, sich umbrachte, flüsterte ich zu Dominik: "Können sich ‘Kumpels auch die Hände halten?"

Er sah mich verwirrt an und zuckte dann mit den Schultern.

"Ich glaube schon." flüsterte ich wieder und nahm seine Hand.