Astrid Sonnleitner (14)

Durch die Wand

Er las zum sechsundzwanzigsten Mal die selbe Zeitschrift, doch er wusste noch immer nicht genau worum es in den vielen Artikeln mit den schwarzweißen Fotos ging, denn er konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder wanderte sein Blick unwillkürlich zum Fenster.
So sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich nicht einmal einen einzigen Satz durchlesen, ohne schon wieder abgelenkt zu werden, aber er wusste nicht einmal, wovon er abgelenkt wurde.
Abrupt stand er auf und begann zu malen. Mit schwarzen Stiften, denn andere wurden ihm nicht zur Verfügung gestellt. Und wieder einmal malte er das, was er durch das Fenster sah, denn ein anderes Motiv hatte er nicht. Wieder einmal hängte er sich das Bild an die Wand.
Neben Viele mit dem selben Motiv.
Dann stellte er sich ans Fenster und blickte hinaus. Er verspürte wieder das Gefühl, das er schon vor einigen Wochen hatte. Der Anblick der Vögel und Bäume ließ in ihm abgrundtiefe Verzweiflung aufsteigen. Verzweiflung, die sich nicht unterdrücken ließ.
Seine Gedanken schweiften zurück in seine Kindheit. Seine Mutter hatte einmal zu ihm gesagt: "Merke dir eines, Junge! Das Schönste, das du besitzt, ist die Freiheit.” Und sein Vater hatte hinzugefügt: "Solange du frei bist, hast du zumindest einen Grund, glücklich zu sein. Danke Gott dafür!” Damals hatte er seine Eltern nicht verstanden. Freiheit ist doch verständlich!
Plötzlich wusste er, warum er so verzweifelt war. Er brauchte Freiheit. Einfach in der Natur umhergehen und das Leben genießen. Ja, das war es! Jetzt wusste er es.
Er konnte an nichts anderes mehr denken. Er starrte nur noch das Fenster an. Doch bald darauf wurde ihm auch dieser Ausblick genommen. Er wurde in eine andere Zelle gesperrt – ohne Fenster! Er hielt es einfach nicht mehr aus! Er musste aus dieser Strafanstalt heraus. Er konnte stundenlang die Wand anstarren, denn er wusste, dass dahinter die Freiheit war. Er stellte sich vor, wie es dahinter sein würde. Mit der Zeit war er kaum noch ansprechbar, wenn er vor der Wand saß. Deshalb bekam er psychologische Betreuung, doch wenn er im Therapieraum des Psychologen saß, starrte er nur noch aus dem Fenster.
Auch wenn er es nicht wollte, nahm dieser Gedanke mehr und mehr seinen Körper und seine Seele ein. er dachte nur noch an eines: Er musste irgendwie aus dem Gefängnis!
Er hörte eine innere Stimme immer wieder "Freiheit” rufen. "Sei still,” rief er dann laut, so dass alle verwundert aufsahen. Denn er sprach in letzter Zeit nur noch selten. Alle zuckten mit den Schultern: ”Er dreht doch durch, oder?”
Er versuchte es mit autogenem Training, wie es der Psychologe gesagt hatte.
"Ich bin ganz ruhig, meine linke Hand wird schwer ”, sprach er sich immer vor, doch dann schrie er sich zurück: ”Nein, du lügst – du willst hinaus! ”Danach folgte ein Schreikrampf und endete damit, dass er weinend und nach Luft ringend auf den Boden sank.
"Schau doch, wie schön es hier ist, du kennst schon so viele Leute”, dachte er sich, auch wenn er das Leben hier von Anfang an gehasst hatte. Bei jedem Versuch kam wieder die innere Stimme. Erschöpft lehnte er sich gegen die Zellenwand. Ja, er musste hinaus!”
Und plötzlich konnte er seine Hand durch die Wand stecken. Er zweifelte an seinem übrig gebliebenen Verstand. Er versuchte es noch einmal. Ja es war ganz einfach. Er wurde mutiger. Und plötzlich stand er im Freien. Verwundert drehte er sich um. Er klopfte sich auf den Kopf, aber es war kein Traum. Er war frei – in der Freiheit. Ein sommerlicher Lufthauch wehte ihm an der Nase vorbei. Langsam ging er weg, weg vom Gefängnis. Der Kies knirschte unter seinen Füßen. Noch nie hatte er die Freiheit so intensiv gespürt. Er begann zu laufen. "Schöne Welt” ,rief er, während er die Vögel am Himmel betrachtete. Von den langsam vorbeiziehenden Wolken konnte er seinen Blick nicht abwenden. Er dachte an seine Eltern. Was würden die wohl sagen, wenn er sie wiedersehen wird?

Ein Schritt, ein Schrei, ein dumpfer Aufprall.
Leblos blieb sein Körper am Straßenrand einer verlassenen Seitenstraße im Sonnenschein
liegen.