Cordula Simon (13)

Weiße Weste

 

Langsam, ganz langsam, gleich, gleich.........Stop.

Ich hätte mir nie gedacht, dass es so schwierig wäre, mit dem Kopf nach unten, an einem Seil baumelnd, einen Ausstellungskasten zu öffnen.

Vor ein paar Tagen habe ich mir (ebenfalls kopfüber) den Schlüsselabdruck für den Schaukasten besorgt.

Vor ein paar Wochen habe ich dem Wächter den Schlüssel zum Hauptportal geklaut, damit ich überhaupt aufs Dach komme.

Vor ein paar Monaten entwickelte sich der Traum, es zu besitzen, das Canning-Juwel.

Beim Film "Topkapi" habe ich mir einiges abgeguckt, mit dem mächtigen Unterschied, dass ich die Sache alleine durchziehe.

Ich darf den Boden nicht berühren (eine schreckliche Alarmanlage). Jetzt den Schlüssel ganz extra mega langsam ins Schloss. Es macht klack. Er passt. Er passt. Jetzt genauso langsam umdrehen. Bitte, bitte, bitte. Ja!

Offen! Einer meiner Freunde würde jetzt sagen: "So sehr kann sich nur eine Anfängerin freuen." Ja, ich bin noch eine Anfängerin, aber eine sogenannte Elite-Schülerin unter den Dieben. Ich wurde noch nie erwischt, das heißt, mein Name ist in keiner Kartei enthalten. Mit diesem Coup werde ich so gesehen zur Professionellen.

Also: Ruhig, ganz ruhig den Glasdeckel hoch. Die Fälschung in den Kasten. Ich habe es, das Canning-Juwel. Mein Traum. Pling. Was war das? Der Schlüssel, mir ist der Schlüssel hinuntergefallen! Die Alarmanlage! Jetzt kann ich genausogut durch die Tür abhauen.

Schnell, Schneller. Ich hoffe, ich schaffe es. Die Dachrinne vom Wachhaus hoch, durch das Dachfenster hinein die fünf Treppen hinunter, das Stromkabel durchschneiden. Kein Licht im ganzen Haus. Weg hier, durch die Gasse über die Kreuzung – geschafft. Sie folgen mir nicht mehr, ich habe sie behalten, meine weiße Weste.

 

Schlechte Laune

Ich wäre auch so schlecht gelaunt, wenn mir so etwas passiert wäre. Vielleicht noch schlechter. Viel schlechter. Denn es ist unmöglich, bei so etwas noch gute Laune zu haben. Vor allem, wenn noch so ein blöder großer Bruder mit dem Format eines trächtigen vietnamesischen Hängebauchschweines (dessen einziges Problem die Fettsucht ist) daherkommt und fragt: "Na, leiden wir mal wieder unter hormonellen Störungen?"

Na, wissen wir überhaupt, was Hormone sind? Der hat sowieso nur Fußballspielen und Rennautos im Kopf. Seine einzigen Probleme sind, dass Hakkinen verliert, und sein Lieblingsstar Schwarzenegger nicht in den Großsteinbacher Fussballclub eintritt. Wenn Rolf nur auch so sein könnte. So einfach. So unkompliziert. So dumm. Nein, jetzt kann er wirklich nicht mehr schlechter gelaunt sein. Schlechter geht’s nicht mehr für ein 13jähriges Wesen, außer wenn ...

"Rolfi, Tante Hilde kommt heute zu Besuch!" hört er seine Mutter rufen.

Das war wohl das einzige, was seine Stimmung noch weiter hinunter drücken könnte. Tante Hilde macht Träume wahr (selbst wenn sie noch so schrecklich sind): Küsschen hier und Küsschen da. Magst du ein Zuckerl? Die sieht ihn wohl immer noch in Strampelhose herumlaufen und bildet sich ein, dass ihm, wenn er wütend ist, bloß die ersten Zähne wachsen. Da sind ihm die Mein-Gott-bist-du-groß-geworden-Verwandten noch lieber.

Viele würden meinen, das ist übertrieben, aber beim letzten Besuch wollte sie ihm einen Schnuller mitsamt Schnullerkette schenken. Das ist zwei Wochen her. Was wird er wohl diesmal von dieser schrulligen Hexe geschenkt bekommen? Ein Milupa-Fläschchen oder Baby-Puder? Beim vorletzten Besuch war es besonders schlimm: Sie ist mit einem Anhänger Karottenmus angekurvt. Für den lieben Kleinen. Er ist immerhin schon dreizehn. Diese Verrückte hat wohl überhaupt kein Zeitgefühl, und ihr Psychiaterteam (mittlerweile zwölf Personen) weiß sich auch nicht mehr zu helfen. Und leider ist das einzige Irrenhaus weit und breit überfüllt.

Wer wäre nicht so mies drauf, bei den Geschehnissen der letzten Woche.

Das, was passiert ist, stellt sich Rolf vor, wenn er das Wort "Hölle" hört. Passiert ist nämlich das: Seinen besten Freund hat er nicht mehr gesehen, weil der eine Freundin hat. Das Mädchen, in das er verknallt ist, hasst ihn. Er hat drei Fünfer im Zeugnis, und die Eltern wissen noch nichts davon. Die Lehrer hassen ihn sowieso, von den Schülern wird er aus einem, ihm unerklärlichen Grund, verspottet, sein CD-Player hat den Geist aufgegeben, seine Eltern haben die Baustellenampel für sein Zimmer weggeräumt und Tante Hilde kommt zu Besuch.

Somit ist bewiesen: Gegen Rolfs Mitmenschen IST DER TEUFEL EIN UNSCHULDSLAMM.

 

IN DER HÖLLE

Ich hasse ihn. Ganz einfach. Ich habe ihn immer gehasst. Muss er mich immer piesacken? Er ist der schrecklichste Mensch an meiner Schule, und bei allen hyperbeliebt. Der unerträglichste Schüler, den es gibt. Liebe ist doch angeblich, wenn man: nicht essen kann, nicht schlafen, nach den Sternen greift, sich fühlt, als hätte man das entscheidende Tor bei der Fussball-WM geschossen. Wenn es einem heißkalt den Rücken hinunterläuft, man Schwitzhändchen bekommt, rot wird und kein vernünftiges Wort aus dem Mund kriegt, wenn man nur an die Person denkt.

Genau das Gegenteil fühle ich für diesen Affen ohne Haare.

Und jetzt muss ich ihm auch noch im Schwimmbad begegnen.

Ich greife nach seinen Haaren, ganz langsam drücke ich seinen Kopf hinunter, immer weiter, ganz lange, er wehrt sich, er zappelt, eine Minute ist er bestimmt schon unten, ich halte seinen Kopf unter Wasser. Ganz fest drücke ich ihn herunter. Seine Gesichtszüge verzerren sich. Die Wellen spiegeln mir das zornentbrannte Leuchten seiner Augen wieder. Er starrt mich an. Sein Blick sagt mir: "Ich hätte dich auch lieber tot." Tod: dieses Zauberwort. Das Ende des Lebens. Eine magische Formel zur Problemlösung. Er ist mein Problem. Ob er weiß, was ich denke? Er rudert nicht mehr mit den Armen. Er bewegt sich nicht mehr, er ist tot: "Auf Wiedersehen! Vielleicht treffen wir uns in der Hölle wieder!"