Martina Gütl (12)

Rolfs Geheimnis

Rolf Kubinski hatte eine Laune, die man mit Recht als sauschlecht bezeichnen konnte. Sein Gesicht war ein Siebentageregenwetter-Gesicht, und die drei grellroten Pickel, die sich auf Rolfs Nase befanden, stellten nicht gerade eine Verschönerung da.

Aber bei dem Problem würde mein Stimmungsbarometer auch nicht gerade über die Skala hinausschießen. Rolfs Eltern interessierte das allerdings nicht die Bohne, und die beiden waren gerade auf dem Weg in die Oper, um sich "Die Fledermaus" von Strauß anzusehen und zu genießen.

"Genießen" was war das? Zur Zeit wusste das Rolf wirklich nicht.

Die Pendeluhr im Wohnzimmer kündete an, dass es bereits 21.00 Uhr war. Rolf hatte nicht mehr viel Zeit, er musste sich etwas einfallen lassen. Denn er hatte wirklich keine Lust, Probleme mit der Polizei zu bekommen oder vielleicht in den Knast zu wandern. Was in seinem Fall aber noch nicht möglich war, schließlich dauerte sein Leben erst 15 Jahre, 6 Monate und ein paar Tage. So genau wusste er das auch nicht, und wollte es auch nicht wissen.

Alle seine Probleme hatten letzten Dienstag angefangen. Und er war selbst schuld daran. Er würde keinem diese Untat anhängen können. Nein, er musste das allein ausbaden. Egal wie!

Rolf ließ die Geschehnisse des letzten Dienstags immer und immer wieder vor seinen Augen ablaufen:

Die Schulglocke läutete. Endlich aus! Rolf sprang auf und hastete in den Keller, wo sich die Spints befanden. Vor dem Kästchen 290 blieb er stehen und sperrte es auf. Mit einem Griff fischte er seine Lederjacke heraus. Er musste sich beeilen. Er musste weg sein, bevor seine Schulkollegen den Keller stürmten. Mit einem Krach fiel das Schultor hinter ihm zu. Schneller, schneller! Sein Plan musste aufgehen!

Mehrmals rutschte Rolf der Rucksack von der Schulter, aber dem Jungen war das egal. Er raffte ihn noch im Laufen wieder hinauf und hielt erst vor einem kleinen Geschäft, ein paar Straßen vom Schulgebäude entfernt. Die Gasse war eng und dunkel und erweckte den Eindruck, tot und ausgestorben zu sein.

Rolf passte auf, dass ihn der Verkäufer nicht durch die Auslage erblickte. Im Schutz einer Telefonzelle stülpte er sich einen Damenstrumpf über den Kopf. Ruckartig griff Rolf in seine Tasche. Er konnte das Messer spüren. Mit ihm würde er in wenigen Minuten Herrn Riedl bedrohen und ihn auffordern, im Geld zu geben.

"Keinen Mucks und einpacken!" rief er mit verstellter Stimme. Sie klang jetzt tief und männlich. Und da Rolf auch ziemlich groß für sein Alter war, würde man ihn nie für einen Jungen halten.

Herr Riedl war wie erstarrt, tat aber, was ihm befohlen worden war! Er packte eine Plastiktüte und begann die Kassa zu lehren. Als er damit fertig war, entriss Rolf ihm das Säckchen und stürmte aus dem Laden.

Hatte ihn jemand beobachtet? Nein, der Jugendliche hatte den Zeitpunkt der Tat gut geplant. Und das nicht aus Zufall. Er hatte öfters die Schule geschwänzt und hier gelauert, so kam er nach einiger Zeit darauf, dass zwischen 13.05 Uhr und 13.15 Uhr niemand den Laden betrat und sich auch niemand in dieser Gegend aufhielt. Nur ein paar alte Frauen, die aber heute auch ausgeblieben waren. Rolf riss sich die Maske vom Kopf und steckte seine Beute in seine innere Jackentasche. Danach bog er um die Ecke, als wäre nichts geschehen.

Zum Teil fühlte er sich froh und erleichtert, und zum anderen Teil quälte ihn das Gewissen. Ihm war gar nicht klar, was er gerade getan hatte. Es wurde ihm erst jetzt bewusst.

Aber er hatte das Geld gebraucht, um Danny damit zu bezahlen. Ein Muskelproz aus seiner Klasse, der einen Schummelzettel von ihm für die Matheschularbeit entdeckt und eingesteckt hatte. "Ich zeige das Ding der Matheprof!" hatte er gedroht, "Außer, du bringst mir in der nächsten Woche 5000 Mäuse!" Naja, und da gab es für Rolf nur mehr einen Ausweg.

Jetzt hatte Danny das Geld bereits und lachte sich ins Fäustchen. Von dem Überfall wusste er nichts.

Rolf drehte das Radio an:

"Noch immer wird nach dem Mann gefahndet, der vor vier Tagen das Lebensmittelgeschäft Riedl überfallen hat. Seine Beute: 6134 Schilling. Er ist ungefähr 1m 80cm groß, schlank und hat eine tiefe Stimme. Hinweise, die auf seine Spur führen könnten, an die Polizei. Allerdings vermutet man, dass er sich schon ins Ausland abgesetzt hat."

Der Junge drehte das Gerät wieder ab. Er konnte es nicht ertragen. Er wollte so nicht weiterleben. Er musste ein Geständnis machen. Auch die 1134 Schilling, die er sich selbst behalten hatte, würde er zurückgeben. Nur, was war mit den restlichen 5000?

Rolf nahm den Hörer des Telefons ab. Langsam wählte er die Nummer der Polizei. Es läutete. "Ja, hier die Polizei, was ist? Sprechen sie doch! Hallo, hallo!"

Rolf legte auf. Er musste sich eingestehen, dass ihm der Mut für ein Geständnis fehlte. Der Junge hatte Angst vor der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Was sollte er bloß tun?

Er schlurfte in das Schlafzimmer der Eltern und begann, die Laden zu durchsuchen.

Zwei Stunden später ging die Wohnungstür auf, und Herr und Frau Kubinski traten in die Wohnung. Rolfs Mutter sah nach ihrem Sohn. Da er sich nicht in seinem Zimmer befand, rief sie nach ihm. Keine Antwort. Im Schlafzimmer fand sie ihn dann. Er lag neben dem Bett am Boden und sah so aus, als würde er schlafen. Doch als die Eltern die leere Schachtel mit Schlaftabletten in seiner Hand erblickten, stand es fest. Rolf hatte sein Geheimnis mit in den Tod genommen.