Martina Gütl (12)


"Die Fremde" oder "Die Landstreicherin"

Sie war klein, hatte dunkle Haare und große braune Augen. Nicht einmal sie selbst wusste wie ihr Name lautete. Das Mädchen war gezwungen von Stadt zu Stadt oder von Dorf zu Dorf zu ziehen, um zu betteln. Wo die Menschen mehr Mitleid hatten und mehr gaben, blieb sie länger, sonst wurde sie sowieso fortgejagt.
Eines Morgens, mitten im Winter, sah sie wieder ein kleines Dorf im Morgen grauen vor sich auftauchen. Der Kirchturm ragte etwas über die dahinter liegenden Berge. Es schlug sechs. Die kleine sah sich schüchtern um und hüllte sich fest in ein schon sehr zerrissenes Tuch. Darunter trug sie nur ein dünnes Sommerkleidchen. Mehr besaß sie nicht. Ihr Magen knurrte. Das letzte harte Stück Brot hatte sie vor einem Tag gegessen. Sie beschloss an einer Haustür zu klopfen um etwas zu erbitten.
Schnell strich sie sich die Haare aus dem Gesicht und rückte ihr Kleid zurecht. Dann schlug sie mit ihrer kleinen, knochigen Faust gegen die Tür. Das Mädchen wartete, voller Hoffnung, etwas Eßbares zu erhalten. Als niemand öffnete, versuchte sie es ein zweites Mal. Plötzlich stand eine dicke Frau in einem Nachthemd vor ihr. Sie sah auf die elende Gestalt nieder und schrie mit bösem Gesichtsausdruck: "Verschwinde! Mach das du wegkommst. Ich gebe dir nichts, du bettelnde Göre!" Sie warf die Tür zu.
Oft hatte das Mädchen schon überlegt, ob ihr Name vielleicht "Göre" sei, denn viele Leute nannten sie so. Aber warum machte sie sich Gedanken über ihren Namen, denn ja sowieso niemand wissen wollte. Sie sollte lieber zusehen, dass sie etwas zu essen bekam. Langsam schritt sie durch die noch unbelebten Straßen und Gassen, bis sie sich dann auf einem umgedrehten Eimer neben eine Bauernhof niederließ. Vor Kälte konnte sie ihre Füße nicht mehr spüren, es war, als wären sie tot. Mit den Händen rieb sie ihren abgemagerten Körper, so hoffte sie, ich wenigstens ein bisschen zu erwärmen.
Etwas später herrschte bereits reges Treiben in den Straßen. Kinder liefen zur Schule und Bauern versuchten ihre Waren zu verkaufen. Oh, der Stand mit Würsten, wie gerne hätte sie nur eine gehabt, nur eine Kleine. Da kam eine Dame auf sie zu. "Oh, bitte gnädige Frau, nur eine kleine Spende!" bat das arme Mädchen, doch die Dame spuckte ihr nur auf die bloßen Füße.
Plötzlich kamen Schulkinder an ihr vorbei. Sie zogen die Kleine an den Haaren und nannten sie "Hexe" oder "Zigeunerin". So ging es den ganzen Tag hindurch, und niemand erbarmte sich ihrer.
Langsam wurde es dunkel. Die Lippen des Kindes waren blau und ihr Körper fühlte sich wie Eis an. Es fiel ihr schwer sich zu bewegen.
Leise rief ein Käuzchen. Plötzlich wurde dem Mädchen ganz warm, sie sah an sich herunter. Sie trug ein prächtiges Kleid und Schuhe. Die Kleine streckte ihr Arme dem Himmel entgegen, die Sterne leuchteten hell. Sie sank zurück und schlief ein.
Am nächsten Tag fand man sie dort liegen. In ihren alten schmutzigen Kleidern. Tot. Erfroren. Und plötzlich fühlten alle mit ihr. "Das arme Ding!" sagte die Frau, die ihr am Vortag noch auf die Füße gespuckt hatte. Doch jetzt war es zu spät für das Mädchen.