Lisa-Marie Falzberger

Graz; 9 Jahre

1. Preis (8-10 Jahre)

ANGST - KEINE ANGST

Es klappert am Fenster. Annemarie, das Annerl, schreckt in ihrem Bett auf. Es ist stockdunkel, und sie kann gar nichts erkennen. Doch schon wieder ist das Klappern zu hören. Jetzt hebt sie vorsichtig die Hand und knipst ihre Leselampe an. Schlaftrunken tapst sie zum Fenster, aber es ist alles so wie immer.

Das Klopfgeräusch hat aufgehört. Eigentlich müsste Annerl jetzt beruhigt sein, aber ihr Herz hört gar nicht auf zu pochen. Sie traut sich nicht einmal zurück in ihr Bett zu hüpfen.

Nach drei Stunden sinkt sie zu Boden und schläft ein.

Am nächsten Morgen um halb sieben Uhr kommt Kathi, ihre ältere Schwester, herein. Als sie Annemarie sieht, schreit sie schrill: „Mama, das Annerl ... !"

Die Mutter, Frau Bleistiftspitz, kommt im Morgenmantel, noch ganz im Halbschlaf ins Zimmer. Aber als sie sieht, was mit dem Annerl los ist, ist sie sofort hellwach. Sie schreit Kathi hysterisch, aber auch ängstlich an: „Los, hilf mir bitte, sie auf das Bett zu schleppen!" Kathi hilft, sie ist ihrer Mutter wegen der schroffen Anrede nicht böse, denn sie kennt Frau Bleistiftspitz immerhin schon 13 Jahre lang und weiß schon, wann solche Schreier aus ihr herausschießen. Sie streichelt Annemarie über das normalerweise geschmeidige Haar, aber heute ist es voller Angstschweiß.

Annerl lässt ein leises Stöhnen hören. Da kommt Kathi, die aus dem Zimmer gegangen war, mit einem Tablett, voll bedeckt mit leckerem Frühstuck, wieder zurück. Ein Fieberthermometer ist auch darauf.

Irgendwie schafft es Frau Bleistiftspitz, Annemarie aufzuwecken, und Annerl stottert drauflos. Nach ungefähr zehn Minuten verstehen Kathi und die liebe Frau Mama, worum es geht. Kathi nimmt nun das Fieberthermometer, welches sie vor zehn Minuten ihrer Schwester unter die rechte Achsel gesteckt hatte, heraus und sagt: „38,4°!"

Frau Bleistiftspitz, die sich gewöhnlich höflich auszudrücken pflegt, lässt ein leises „Scheisse" hören.

Es ist wirklich sehr unangenehm, denn Herr Bleistiftspitz fuhr schon um 6 Uhr zur Arbeit, und Frau Bleistiftspitz wollte um 7 Uhr an ihrem Arbeitsplatz sein, aber nun ist es schon fünf vor sieben. Annemarie meldet sich zu Wort. „Ihr könnt ruhig gehen, ich bin ja kein Baby mehr!" Aber Frau Bleistiftspitz ist dagegen: „Ich kann doch ein zehnjähriges Kind nicht allein zu Hause lassen, na, jedenfalls nicht mit 38,4°C!" „Aber Mama!" entgegnete da Kathi, „In einer Stunde hat sie 37°, und das hält sie locker aus, nicht wahr?" Kathi zwinkert Annemarie zu, und die zwinkert zurück. Die Mutter sieht in Annerls blaue, glasige Augen – dann nickt sie. Schon wieder lässt Annerl ein Stöhnen hören, aber diesmal ein erleichtertes.

Dann sagt Frau Bleistiftspitz nicht mehr viel, nur noch, dass sie Annemarie zu jeder Zeit im Büro erreichen könne.

Als Frau Bleistiftspitz (endlich) weg ist, schlüpft Annerl in ihre Patschen und tapst ins Vorhaus, wo ihr Hund Bello gerade seinen Gummiknochen in Stücke reisst. Annerl krault ihn unterm Ohr. Das hat er besonders gern. Bello ist ein vier Monate alter Labrador-Mischling.

Aber Bello ist nicht das einzige Tier der Familie Bleistiftspitz. Ich glaube, es ist weniger kompliziert, wenn ich euch über die Menschen und Tiere in diesem Haus erst einmal aufkläre:

Also – beginnen wir mit Herrn Bleistiftspitz, mit Vornamen Bruno. Er ist 40 Jahre alt, 1m85 groß und wiegt 79 kg. Er arbeitet in einer Schule, 20 km von Morgenstadt entfernt. Seine Augen sind dunkelgrün, er hat einen breiten Mund, und wenn er lacht, sieht man, das ihm von seinem linken Vorderzahn ein Stück abgebrochen ist. Seine Nase ist eine kantige Hakennase. Seine Haare sind grau-weiß-braun. Ja, und sein Merkmal ist eine kleine Narbe auf der Stirn.

So, jetzt zu Frau Bleistiftspitz. Sie ist eine rundliche, kleine Frau, die früher einmal Köchin werden wollte. Jetzt arbeitet sie bei der Kages als Sekretärin. Ihre Ohren stehen sehr frech hervor, jedenfalls findet sie das. Was sie sonst noch an ihrem Körper stört, ist, dass sie 77 kg wiegt. Sie ist 34 Jahre alt, hat schwarze Haare und hellblaue Augen. Bei ihrer Nase handelt es sich um eine Mischung aus Stups- und Knollennase. Mehr interessante Sachen gibt es bei ihr auch nicht.

Kathi Bleistiftspitz heißt mit vollem Namen: Malinekatharinesabine. Sie hat glattes, braunes Haar, braune Augen und eine zarte Stupsnase, auf der sich viele Sommersprossen tummeln. Sie ist 13 Jahre und 3 Monate alt, ist von Beruf Schülerin, liebt ihre Katze Maunzmiezmuz, ist nie müde und ein richtiges „Springinkerl". Das ist alles, was ich über Malinekatharinesabine weiß.

So, jetzt kommen wir also zu Annemarie. Sie ist 10 Jahre alt, hat 34 kg bei einer Größe von 1m39, isst mit Vorliebe Spaghetti und ist normalerweise nicht ängstlich. Sie möchte Tierärztin werden, schwimmt wie ein Fisch, und ihr Hobby ist: Rollerskates fahren. Sie vertraut ihrem Hund alles, was sie denkt, an und kann ausserdem besser Scrabble spielen als irgendein anderer.

Jetzt noch zu den Tieren von Familie Bleistiftspitz:

Bello ist Annerls Hund. Er wurde mit ungefähr zwei Monaten ausgesetzt und von Annerl gefunden.

Maunzmiezmuz ist ein Jahr alt und eine wunderschöne Perserkatze. Sie war einmal Kathis Geburtstagsgeschenk.

Kommen wir zu Bibs und Babs. Das sind zwei Ratten, die sich bei Frau Bleistiftspitz eingeschmeichelt haben. Tante Frieda hatte die Ratten vor einem Versuchslabor gerettet, weil sie Bibs und Babs aber nicht behalten konnte, fasste sich Frau Bleistiftspitz ein Herz und nahm sie zu sich.

Ja, und mit Balduin ist es so eine Sache; er hat, na sagen wir mal eine schreckliche Kindheit hinter sich. Ihm wurde nämlich, als er noch klein war, irgendwie die Zunge gestutzt. Weil es angeblich heißt, dass Raben, wenn man ihnen die Zunge stutzt, sprechen können. Balduin konnte es aber trotz Zungenstutzung nicht, und deswegen verkauften sie ihn um 10 $, und das ist nicht gerade viel für einen Raben mit- blauen Augen!

Aber jetzt habe ich genug erzählt.

Also, Annerl schlurft in die Küche, und Bello zottelt hinter ihr nach. Denn er weiß, dass Annerl nur in die Küche geht, um Tierfutter zu holen. Seit Frau Bleistiftspitz die Küche rosa ausmalen ließ, hält sich Annerl nur höchst ungern in der Küche auf.

Schnell tapst sie zum Küchenkasterl und holt eine Dose Chappi für Bello, ein Schalerl Whiskas für Maunzmiezmuz, ein paar Weintrauben für Bibs und Babs, ja und zu guterletzt noch eine Körnermischung für Balduin. Jetzt sieht man die Hälfte von Annemarie gar nicht mehr, so bepackt ist sie.

Es dauert fast eine halbe Stunde, bis alle versorgt sind. Völlig erschöpft lässt sie sich auf den Boden sinken. Nach einer Weile ist sie wieder putzmunter. Sie steht auf und tut etwas sehr Seltsames: Sie holt ihre Stricknadeln und beginnt zu stricken. Gerade, als sie einen Fehler auftrennen will, klingelt es an der Tür. Der Postbote gibt sich zu erkennen.

Annerl huscht auf den eiskalten Flur, und macht, wie jedesmal, wenn der Postbote kommt, die Tür auf. Er hat ein riesengroßes Paket in der Hand. In der Hand ist etwas untertrieben! Er hat Mühe, nicht gleich wie Annerl hinterm Futterberg, hinter diesem Paket zu verschwinden. Herr Klappermann stellt das Monstrum hin und sagt: „Baba Annerl, ich muss weiter." „Ebenfalls", rief das Annerl. Plötzlich dreht sich der Bote um und fragt neugierig: „Annerl, warum, bist du nicht in der Schule? Geschwänzt?" „Nein, nein, ich hab' nur ein bisserl Fieber." „Und warum, wenn ich fragen darf?" „Naja ich hab' in der Nacht so ein komisches Geräusch gehört, so ein Klappern. Weißt‘" „Seltsam, kann ich reinkommen?" „Sicher", antwortet Annemarie. Sie setzen sich an den Wohnzimmertisch und Herr Klappermann fragt: „Ein Klappern also!?" „Ja, ein Klappern!" „Bei mir nämlich auch, weißt du?! Aber ich habe mir eingeredet, es seien irgendwelche Geräusche von den Bauarbeiten." „Aber Herr Klappermann, die Bauarbeiter hören doch schon um 5 Uhr am Nachmittag auf zu arbeiten!" „Ja, ich weiß ja. Deswegen hab' ich mich ja so erschrocken!"

Annerl und Herr Klappermann wohnen in der gleichen Siedlung. Allerdings gibt es für alle nur einen großen Keller. Plötzlich rufen Annerl und Herr Klappermann wie aus einem Munde: „Natürlich, das Geräusch kam aus dem Keller!" Herr Klappermanns Blick fällt auf die Wanduhr, und jetzt heißt es für den Postboten nichts wie ab, zum nächsten Haus! Er ruft Annerl noch zu: „Um das Geräusch werde ich mich schon kümmern!"

 

Um vier Uhr hört man einen völlig erschöpften Vater nach Hause kommen. Er befragt- Annerl, warum sie schon daheim ist, und diese beginnt zu erzählen. Vom Klappern, dem Postboten, dem Keller und so weiter. Da fragt Papa plötzlich, was denn im Paket drinwar. Völlig verlegen seufzt Annerl: „Weiß ich noch gar nicht. Vor lauter Überlegen hab' ich ganz vergessen, das Paket zu öffnen!"

Gemeinsam mit ihrem Vater machen sie sich daran, das Paket aufzumachen. Währenddessen- kommen Kathi und Frau Bleistiftspitz nach Hause. Sie sind sehr gespannt, was in dem Paket drin sein könnte.

Endlich ist es offen! Drin liegt ein Zettel auf dem steht:

LIEBES ANNERL!

Es tut mir sehr leid, dass ich zu deinem Geburtstag nicht kommen konnte. Aber, das werde ich am 5. Februar nachholen! Also ich komme in zwei Wochen. Es freut sich auf dich und die anderen – deine Oma Valerie-Sofie!

Alle Familienmitglieder freuen sich. Plötzlich klingelt das Telefon. Annerl hebt ab, und Herr Klappermann meldet sich: „Ich glaube, heute wirst du beruhigt schlafen können!" Und er legt auf.

Um 21 Uhr geht Annerl endlich ins Bett. Sie kriecht etwas ängstlich unter ihre Bettdecke, schläft aber bald darauf ein.

Die ganze Nacht schlummert Annemarie friedlich und ohne jegliches Klopfgeräusch.

 

Am nächsten Morgen klingelt das Telefon wieder und Herr Klappermann fragt: „Na Annerl, hast du gut geschlafen?" „Ja, sehr!" „Wir beide sind ganz schön dumm! Weißt du, was der Grund für das Klappern war? Ich sag es dir. Die Kellerfenster waren offen ... und der Wind hat sie auf- und zugeschlagenen!"

 

Annerl fällt dazu sofort ein Reim ein:

Nun ist Annerl alles klar,
dass sie dumm war ganz und gar –
denn der Wind geblasen sehr
peitschte die Fenster hin und her.

 

Also schau bevor du bangst – dann hast du gar keine Angst!

 

Und genau das werde ich in Zukunft tun, wenn ich mich fürchte.