Adina F. Camhy (12)

Die Hüterinnen der Träume

Kai saß vor dem Fernsehapparat. Irgendwie hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Auf dem Bild war gerade ein Kind zu sehen, das Fußball spielte. Plötzlich verschwand das Bild, und der Fernseher ging aus. Fluchend erhob sich Kai von der bequemen Couch und stolperte auf den Fernseher zu. Im nächsten Moment gab die Flimmerkiste einen ächzenden Laut von sich. Rauch stieg vom Fernseher auf. Eindeutig kaputt!

Auf einmal tönten Stimmen aus dem Lautsprecher. Sie waren hell und stark, aber Kai konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde. Er zog den Stecker heraus, doch er hörte die Stimmen noch immer. Das letzte bisschen Farbe wich aus seinem Gesicht, und er bekam eine Gänsehaut. Jetzt konnte er verstehen, was die Stimmen sprachen. »Bitte Kai, hilf uns, bitte!«

Danach Stille. Kai lauschte. Nichts. Er überlegte, ob das alles vielleicht nur ein Traum gewesen war, aber er wußte, dass er nicht träumte. Er warf sich auf die Knie. Tränen standen in den Augen und er sagte: »Wer seid ihr? Was wollt ihr von mir ?«

»Hilf uns Kai, bitte! Wir sind die Hüterinnen der Träume.« sagten die Stimmen.

Stille. Kai zitterte am ganzen Körper, aber er hörte keinen Stimmen mehr. »Vielleicht war es nur Einbildung!?« dachte er. Doch er wusste, dass es keine Einbildung und kein Traum gewesen war. Er beschloss, sich hinzulegen und schlafen zu gehen. Kai warf sich ins Bett, und er lag noch keine Minute darin, als er auch schon eingeschlafen war.

Er wanderte an Wiesen und Feldern, an Bächen und Flüssen, Seen, Kornfeldern und Hügeln vorbei. Die Sonne strahlte eine wohltuende Wärme aus, und schien ihm wie das Gesicht eines wunderhübschen Mädchens, das ihn anlächelte.

Plötzlich sah er am Horizont ein weißes Schloß. Er ging darauf zu, und obwohl es ein paar Meilen bis zum Schloß waren, näherte er sich bei jedem Schritt zirka hundert Meter. Obwohl es unglaublich war, wunderte er sich nicht darüber. Bald hatte er das Schloß erreicht und klopfte an das goldene Tor. Es wurde ihm von einem Mädchen mit schwarzem, schulterlangen Haar geöffnet. Es trug ein weißes seidenes Kleid, das wie die Strahlen der Sonne aussah. Das Mädchen deutete ihm einzutreten. Er folgte ihm. Es brachte Kai durch mehrere Gänge und Säle, deren Wände, Fußböden und Decken in allen Farben des Regenbodens schimmerten. Das Mädchen blieb zögernd vor einer großen Türe stehen und öffnete sie. Kai trat ein.

Er befand sich nun in einem großen Saal, dessen Wände golden glänzten. Sie spiegelten den ganzen Raum. Ein Stimme ließ ihn zusammenfahren. Er drehte sich um. Vor ihm stand nun ein kleines, unscheinbares Mädchen, das allerhöchstens vier Jahre alt war. »Wir haben dich schon erwartet, Kai!« sagte sie. Ihre Stimme klang hell und kindlich, aber trotzdem ernst.

»Wer bist du? Was mache ich hier? Wo bin ich?« All diese Fragen schossen Kai durch den Kopf. Er mußte sie laut gestellt haben, denn das Mädchen meinte: »Wir sind die Hüterinnen der Träume, du bist in unserem Schloß. Ich heiße Elisia. Bitte, hilf uns.«

Kai war vollkommen verwirrt. »Wer sind die Hüterinnen der Träume?« fragte Kai ungeduldig.

»Jeden Abend, wenn du einschläfst, sorgen wir dafür, dass du etwas Schönes träumst. In den Träumen erfüllen wir die geheimsten Wünsche der Menschen.« meinte Elisia ruhig.

»Aber ... aber ... das gibt es doch nur im Märchen!« flüsterte Kai, aber es klang nicht sehr überzeugend.

»Die Menschen glauben nicht mehr an die Erfüllung ihrer Wünsche, und deswegen träumen sie nichts Schönes mehr. Bald werden nur noch Alpträume herrschen!« Die letzte Worte hatte das elfengleiche Wesen, das vor Kai stand, nur noch geschluchzt.

Mit einem Mal tat ihm Elisia leid. »Es tut mir leid!« sagte Kai, obwohl er nicht wußte, warum er das überhaupt sagte. »Ich werde euch helfen!«

Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein Lächeln über ihre Züge, aber es war so schnell verschwunden, wie es aufgetaucht war.

»Aber was soll ich denn nur machen?« fragte Kai verzweifelt.

»Wir dürfen es dir nicht sagen!« sagte Elisia.

»Wie kann ich euch dann helfen?« fragte Kai weiter.

»Die Menschen denken nur an Tod und Haß und Krieg. Niemand denkt mehr an die positiven Seiten des Lebens. Da sie den ganzen Tag nur an so etwas denken, träumen sie auch davon.« fuhr Elisia in einem energischen Tonfall fort. Ihre Stimme hallte in dem riesigen Raum. »Du bist unsere einzige Hoffnung!«

Im nächsten Moment waren das Mädchen, der wunderbare Raum und das Schloß verschwunden. Wo früher noch der glänzende Marmorboden war, war jetzt Wiese, so weit das Auge reichte. Ohne zu wissen wohin, ging Kai los. Er ging solange, bis ihm seine Füße den Dienst versagten und er der Länge nach hinfiel. Mühsam rappelte er sich auf. Er war durstig und müde. Die Sonne würde bald untergehen. Eine Weile ging er so weiter. Schließlich erreichte er einen Bach. Das Wasser war klar und rein. Kai stillte seinen Durst, und mit ihm verschwand auch seine Müdigkeit.

Er wußte nicht, wie lange er gegangen war, als er eine Hütte sah. Es war schon dunkel. Es brannte Licht in der Hütte, und er hörte leise Stimmen. Zögernd klopfte er an. Eine alte Frau öffnete ihm. »Oh, Besuch!« sprach sie zu ihrem Mann, der hinter ihr stand. »Ich weiß, warum du kommst.« sagte sie kichernd. »Warte kurz!«

Sie verschwand im Haus, kam aber kurz darauf wieder zurück. Sie hielt etwas Funkelndes in ihrer Hand. Es war eine Glaskugel. »Hier!« sagte sie. Die Alte reichte Kai die Kugel. »Die Hoffnung!«

»Die Hoffnung?« fragte Kai. »Was ist das?«

Der Mann, der die ganze Zeit hinter der Alten gestanden war und nichts gesagt hatte, meinte: »‚Die Hoffnung‘ ist diese Glaskugel. Sie ist die letzte Hoffnung für die Träume der Menschen. Kein Bewohner dieses Landes kann diese Glaskugel angreifen, nur ein Mensch, der noch an das Gute glaubt!«

»Aber wieso darf dann deine Frau die Glaskugel angreifen?« fragte Kai.

»Weil sie eine Hexe ist, eine gute Hexe. Aber ihr Zauber wirkt nur im Haus. Aber jetzt genug, du mußt dich beeilen. Nur du kannst ‚die Hoffnung‘ bis zum Schloß tragen, aber laß sie ja nicht fallen, sonst ist alles verloren.« hetzte ihn der Mann.

Behutsam steckte Kai die Glaskugel in seine Tasche. »Ich soll den ganzen Weg noch einmal zurück gehen?« fragte Kai.

»Natürlich nicht!« meinte die Alte. Sie schnippte mit den Fingern, und plötzlich tauchte vor Kai ein weißes Einhorn auf. Sofort kletterte Kai auf den Rücken des Einhorns und bedankte sich für alles.

Das Einhorn galoppierte los. Kai winkte noch lange zurück. Plötzlich stieg das Einhorn in die Lüfte und Kai wäre um ein Haar heruntergefallen, hätte er sich nicht im letzten Moment an den Zügeln festgehalten. Auf einmal hörte er eine Stimme, aber konnte niemanden sehen. »Wie heißt du?« fragte ihn die seltsame Stimme.

»Ich heiße Kai, aber wer und wo bist du?« antwortete Kai.

»Haha!« erscholl die Stimme. »Du sitzt auf mir oben, und ich heiße Phantom!«

Kai beugte sich vor, so daß er dem Einhorn in die Augen sehen konnte und fragte: »Du kannst sprechen?«

»Natürlich!« sagte das Einhorn beleidigt, »Du kannst doch auch sprechen oder?«

Kai antwortete nicht, denn in diesem Moment setzte Phantom zur Landung an.

Kai konnte nirgends die Marmorpracht sehen, die er am Tag zuvor gesehen hatte, da es so dunkel war. Sanft landete Phantom auf der feuchten Wiese und hielt direkt vor dem prächtigen Tor an, dass in das Schloß führte. »Komm schon, spring ab!« meinte Phantom freundlich.

Kai hatte Mühe, vom Einhorn herunterzuklettern. Als er es endlich geschafft hatte, stolperte Kai auf das Tor zu. Wie von Geisterhand öffneten sich die riesigen Torflügel. Kai drehte sich noch einmal zu Phantom um und verschwand dann im Schloß.

Er machte sich auf den Weg in die große Halle. Jetzt achtete er nicht auf die regenbogenfarbenen Räume und die ganze Pracht. Er wollte nur so schnell wie möglich in die große Halle. Endlich erreichte er die große Türe, die in den Saal führte. Er stieß sie auf. Vor ihm stand das kleine Mädchen, das noch immer die bunten, hellen Kleider trug. Sie lächelte über das ganze Gesicht. Kai lief auf sie zu und zog hastig die Glaskugel aus seiner Tasche. Doch er stolperte über seine eigenen Beine und ließ ‚die Hoffnung‘ los. Das Mädchen gab einen erschrockenen Laut von sich, doch es war zu spät. ‚die Hoffnung‘ flog durch den ganzen Saal und krachte am anderen Ende splitternd zu Boden. In diesem Moment war es, als hielte die Welt den Atem an.

Ein eisiger Schauer lief Kai über den Rücken. Erschrocken blickte er zu dem kleinen Mädchen. Es war zu Eis erstarrt. Ihr sonst so rosiges Gesicht war blau vor Kälte, und sie bewegte sich nicht. Kai blickte auf die zerbrochene ‚Hoffnung‘. Die Splitter der Glaskugel waren so klein, dass man sie fast nicht sehen konnte. »Was habe ich nur angerichtet?« dachte Kai verzweifelt.

Er rannte hinaus zu Phantom, doch auch das Einhorn war zu Eis erstarrt. »Das wollte ich nicht!« rief er, so laut er konnte.

Voll letzter Hoffnung eilte er zurück in den Saal. Dort angekommen, schloß er die Augen und dachte ganz fest an das kleine Mädchen, an Phantom und ‚die Hoffnung‘. Er dachte an die Sonne, an ihren hellen Schein und ihre wärmenden Strahlen. Je länger er an die Sonne dachte, desto wärmer wurde es Kai. Er begann zu schwitzen.

Er wußte nicht, wie lange er so dagestanden war, aber als er die Augen aufschlug, war er erschöpft und müde, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Aber das erste, was er sah, war das kleine Mädchen Elisia, das lächelte und ‚die Hoffnung‘ in ihren kleinen Händen hielt. »Danke, Kai! Du hast die Träume gerettet!« rief sie.