Iris Christina Zechner (13)
Früher, damals, jetzt
Wie sie ihn anstarrten.
Mit roten zusammengekniffenen Augen, salzige Streifen im Gesicht. Früher, wenn jetzt früher wäre, vor zwanzig, dreißig Jahren vielleicht, dann würden sie es nicht wagen, so herumzulaufen. Hätten noch Respekt vor den Alten. Würden ihm diesen Anblick nicht zumuten. Er wollte einen verächtlichen Schnauber ausstoßen, doch es wurde nur ein schwaches Pusten, zu leise, um von jemandem bemerkt zu werden. Die Frau neben seinem Bett schaute nach oben. Seine Tochter. Wie hatte sie sich verändert. Wenn er die Augen schloss, konnte er sie noch sehen, wie sie im weiten Kleid und mit den langen Zöpfen auf der Wiese herumlief. Und jetzt? Jetzt trug sie Hosen und hatte einen Kurzhaarschnitt. Blond. Weil ihr das besser gefiel.
Wieder versuchte er es mit einem Schnauben. Es fiel sehr leise aus, wenn schon ein wenig kräftiger als vorhin.
Und da die Enkelkinder. Kathy und Timo. Mit Kathys Namen war er nie ganz einverstanden gewesen. Als Abkürzung, na gut, aber als ganzer Name? Es hätte doch Kathrin sein können. Oder Katharina.
Obwohl, wenn er sie jetzt so betrachtete, die Hand auf der Schulter des kleinen Bruders, passte Katharina nicht zu ihr. So hießen kleine brave Mädchen mit ordentlicher Kleidung, die nicht trösteten, sondern selbst getröstet wurden. Und bestimmt trugen sie keine überlangen Ohrringe mit einem viel zu kurzen Rock. Mini nannte man so etwas jetzt. Gar nicht so unpassend, der Name.
Ihm fiel ein, wie er seine Frau das erste Mal gesehen hatte. Beim Putzen. Den Hof hatte sie gefegt, in einem langen zerrissenen Kleid. Damals war sie sehr dünn gewesen. Abgemagert. Aber nach der Heirat hatte er ihr genug zu essen besorgt, mehr als genug sogar. Vielleicht war sie ja an Herzverfettung gestorben und nicht an Altersschwäche. So alt war sie noch gar nicht gewesen. Jünger als er jetzt.
Mit einem Male bekam er eine Gänsehaut.
Seine Tochter berührte seinen Arm. Er zuckte zurück, sie ließ ihn rasch los. Er hasste diese Berührungen. Wenn er das bei seinem Vater gemacht hätte, wenn der versuchte zu schlafen oder zumindest so tat, als versuche er es … Unhöflich und unsittlich war das.
Aber vielleicht machte man das jetzt ja so. Alles hatte sich verändert, langsam, Schritt für Schritt, sodass man es nicht leicht mitbekommen und aufhalten konnte. Doch nun, da es ihm aufgefallen war, schien es ihm unmöglich, ja geradezu unerhört. Was die jungen Leute heutzutage so alles machten, das war ja nicht zum Aushalten.
Ein drittes Mal versuchte er ein verächtliches Schnauben, und diesmal gelang es ihm auch. Seine Tochter sah ihn besorgt an, ihr Gesicht schaute schmutzig aus. Das kam wohl vom Weinen.
Ihr Ehemann, der nette Daniel, hatte bestimmt nicht geweint. Vielleicht war er gerade bester Laune. Er versuchte sich einzureden, dass es ihn nicht störte. Die zwei Männer hatten sich nie sonderlich gut verstanden. Besser gesagt, hatten sie sich nie richtig kennen gelernt. Daniel war ihm aus dem Weg gegangen. Oder war es umgekehrt gewesen? Nein, bestimmt nicht. Auf keinen Fall. Und wenn, wäre es viel weniger schlimm gewesen. Er wäre nie auf die Idee gekommen, kein Wort mit seinem Schwiegervater zu sprechen. Damals hatte es noch so etwas wie Respekt gegeben.
Aber wie könnte er all die guten Dinge zurückholen? Er war doch nur ein alter Mann, den es ohnehin nicht mehr lange geben würde. Der Arzt hatte es ihm bestätigt; seine Zeit ging zu Ende.
Er sah zu seiner Tochter. Schade, dass sie sich so auseinander gelebt hatten. Sie schien weit weg zu sein, wie ein fremder Mensch. War nicht mehr wie früher. Anders. Nicht unbedingt schlecht, aber anders, ja, das war ein gutes Wort.
Vielleicht war er selbst auch ein bisschen schuld daran. Vielleicht hätte er sich mitverändern sollen, und es wäre ihm nicht aufgefallen. Fast schämte er sich, manchmal aufgelegt zu haben, wenn sie anrief, um ihr später zu erzählen, das Telefon sei kaputt gewesen. Sie mochte ihn doch, ihren alten Vater, auch wenn sie in einer anderen, einer neueren Welt lebte als er. Und hatte sich wirklich alles zum Schlechten verändert? Zumindest medizinisch, ja, da waren Erfolge gemacht worden. Ein Lichtblick im Dunkeln. Bei diesem Gedanken musste er lächeln.
Dann, von einer plötzlichen Neigung gepackt, griff er nach der Hand seiner Tochter, hielt sie fest. Er sah ihr verblüfftes, aber doch frohes Gesicht und flüsterte noch ein »Schöne Grüße an Daniel«, bevor er die Augen schloss.