Antonia Willemsen (11)

Liebe in Schritten?

»Was, glaubt ihr, haben Schritte in unserem Leben für eine Bedeutung?«, fragte unser Philosophielehrer und schaute uns erwartungsvoll an. Da schossen einige Finger in die Höhe. Die meisten Schüler sagten, dass Schritte eigentlich keine große Bedeutung hätten, außer natürlich die Schritte, die man läuft. Andere fanden die Schritte der Wissenschaft auch sehr wichtig. Ich dachte ebenfalls, dass Schritte keine große Bedeutung hätten. Unser Lehrer hatte wohl mit anderen Kommentaren gerechnet. Er meinte, wir sollten uns mehr mit der Frage beschäftigen und Referate darüber halten. Mein Thema war: ›In Schritten handeln‹, und ich sollte es mit meiner besten Freundin Amy bearbeiten. Die wollte ich heute nach der Schule sowieso besuchen, denn wir hatten etwas Besonderes vor. Amy war nämlich richtig verliebt. Nun wollten wir versuchen, sie und Ricky, so hieß der Junge, in den sie verliebt war, zusammenzubringen. Danach wollten wir uns gemeinsam an das Referat machen.

Am Nachmittag klingelte ich an Amys Haustüre, die schwungvoll aufgerissen wurde. Mir stand ein schlankes, hübsches Mädchen gegenüber, das wundervolle, braune Locken hatte und mich fröhlich anlachte. Ich seufzte. Wie gern hätte ich auch Locken gehabt! Aber ich hatte glatte, straßenköterblonde Haare und fand mich gar nicht hübsch. Aber daran ließ sich leider nichts ändern.

»Hi Amy!«, begrüßte ich sie.

»Hallo Katherina, schön, dass du da bist!«

Ich trat ins Haus, und wir gingen in ihr Zimmer. Dort wollten wir nun überlegen, wie wir sie und Ricky zusammenbringen konnten.

»Liebe muss man in Schritten aufbauen!«, meinte Amy und nahm sich erst einmal Papier und Stift.

»Wenn das nicht gut zu unserem Philosophiethema passt!«, dachte ich.

Doch dafür war jetzt keine Zeit, denn Amy war schon einen Schritt weiter. »Okay!«, begann sie, »Zuallererst muss er mich kennen lernen! Meinst du nicht auch?«

»Doch, klar! Aber du solltest dich dann auch von deiner besten Seite zeigen. Also müssen wir dich natürlich hübsch machen«, stimmte ich ihr eifrig zu.

Sie antwortete: »Das kommt nachher! Also, ich notiere:«


Schritt 1: Bekanntmachung

»Aber erwähne auch noch, dass wir dich mindestens zwei Stunden vorher vorbereiten müssen, sonst vergessen wir es nachher, und es geht total in die Hose!«, riet ich ihr.

Ich hatte schon die Erfahrung gemacht. Bei dem ersten Treffen mit meinem großen Schwarm hab’ ich mir noch nicht mal die Haare gewaschen … Doch das war jetzt unwichtig! »Notier es noch!«, drängte ich sie.

»Na gut, ich schreib’ noch dahinter: Mindestens zwei Stunden vorbereiten. Zufrieden?«, fragte sie widerwillig.

Ich nickte und fragte: »Was ist Schritt zwei?«

»Mmh … Küssen!«, schlug Amy vor.

»Nein, nein, das geht doch viel zu schnell!« Ich schüttelte den Kopf und überlegte eine Weile. »Ich hab’s!«, rief ich aus. »Wenn ihr euch genug kennen gelernt habt, fragst du ihn nach seiner Handynummer!«

Doch Amy war skeptisch. »Wenn wir alles in so Mini-Schritten machen, ist unsere Liste nachher ellenlang, und wir brauchen schon ewig, bis wir sie fertig haben. Nein, ich will ja nicht in einem Jahr mit Ricky zusammen sein, sondern möglichst bald! Am besten, ich frage ihn direkt, ob er mit mir gehen will. Ich notiere: …«

»Halt, halt! Wenn es alles zu plötzlich geht, will er nachher nichts mehr von dir wissen. Dann könntest du ihn auch direkt fragen, ob er dich heiraten will. Zuerst muss er dich ein bisschen kennen!«

»Klar, aber dafür haben wir doch schon Schritt eins.« Amy wurde langsam ungeduldig. »Warum denn noch einen Schritt darauf verschwenden?«

Ich seufzte. Mann, o Mann, das Mädel hatte echt keine Ahnung von Liebe! Also versuchte ich es ihr zu erklären: »Von dem ersten Treffen weiß er vielleicht, was du für Hobbys hast! Aber wie du dich wann fühlst, weiß er noch lange nicht. Dafür musst du schon mindestens drei Tage mit ihm SMS geschrieben haben!«

Amy guckte mich immer noch skeptisch an, räumte dann aber ein: »Mmh, vielleicht hast du Recht. Wenn ich recht überlege, hast du sogar sehr wahrscheinlich Recht! Die Idee hätte von mir kommen können! Dann notiere ich:«


Schritt 2: Handynummern austauschen

Ich nickte zufrieden. »Was soll der nächste Schritt werden?«, fragte Amy.

»Nachdem ihr euch drei Tage lang SMS geschrieben habt, fragst du ihn, ob er eine Freundin hat. Wenn nicht, fragst du ihn, ob er mit dir zusammen sein will.«

Amy legte den Kopf schief. Sie schien zu überlegen. Schließlich nickte sie zustimmend. »Ja, das ist gut. Wann wird das sein? Morgen? Übermorgen? Ich will so schnell wie möglich mit ihm zusammenkommen!«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich erinnere dich noch einmal an die drei Tage, die du mit ihm SMS schreibst. Außerdem müsst ihr doch erst einen Termin für eure Verabredung finden! Es dauert bestimmt noch eine Woche!«, erinnerte ich sie.

Amy nickte seufzend. »Wenn es doch nur schneller ginge! Na ja! Ich notiere:


Schritt 3: Fragen, ob er will

Schritt vier ist … Küssen!«, schlug sie begeistert vor und schaute mich erwartungsvoll an.

Ich überlegte einen Moment, nickte aber dann. »Wenn er dazu schon bereit ist! Und wenn er überhaupt mit dir zusammen sein will!«, gab ich zu bedenken.

»Natürlich will er das! Oder hast du irgendetwas an mir auszusetzen?« Amy ließ keine Zweifel zu. Sie fand den Gedanken wohl absurd, dass Ricky nicht in sie verliebt sein könnte und notierte:


Schritt 4: Küssen

»Damit wären wir fertig!«, verkündete sie stolz.

Ich nickte, holte meine Pappe für das Philosophiereferat heraus und hielt sie ihr unter die Nase. »Jetzt fangen wir mit dem Referat an!«, meinte ich.

»Okay!«, stimmte sie mir zu. »Hast du Material mit?«

»Klar! Worüber wollen wir als Erstes schreiben?«, fragte ich.

»Über Schritte!«

Ich verdrehte die Augen. »Super! Geht es auch etwas konkreter?«

Wir dachten lange nach. Plötzlich schlug sich Amy an die Stirn. »Natürlich! Wir schreiben darüber, wie man Liebe in Schritten aufbaut! Genau das, worüber wir gerade eine Liste gemacht haben!«

Ich stimmte ihr zu. Das war eine tolle Idee.

Eifrig begannen wir zu schreiben.


Am Freitag war dann der große Tag. Wir wollten unseren Plan endlich in die Tat umsetzen. Amy hatte sich nämlich mit Ricky verabredet. Ich war etwas früher da, ganz wie wir es im ersten Schritt aufgeschrieben hatten. Wir fingen an, Amy vorzubereiten. Sie wusch sich die Haare, ich föhnte und schminkte sie. Schließlich war Amy fertig und ging ganz aufgeregt zum Eiscafé, denn dort wollte sie Ricky treffen.

»Also denk daran! Frag möglichst viel nach ihm und erzähl möglichst viel von dir, und erst am Schluss nach seiner Handynummer fragen. Erst am Ende, hörst du? Wir müssen die Reihenfolge der Schritte beachten. Also denk daran! Schritt eins und zwei!«, schärfte ich ihr kurz vorher noch einmal ein.

Aber Amy war mit ihren Gedanken schon längst bei Ricky. Abwesend rief sie mir ein kurzes »Tschau« zu und verschwand.

Am Abend wollte ich natürlich alles ganz genau wissen.

Amy hielt mir stolz einen Zettel unter die Nase. »Ich habe seine Handynummer!«, rief sie glücklich. »Er hat zwar etwas gezögert, aber er hat sie mir gegeben!«

Ich runzelte besorgt die Stirn. Wenn er gezögert hat, ist das kein gutes Zeichen. Wäre er über beide Ohren in Amy verliebt, hätte er ihr die Handynummer ohne Zögern gegeben. Jetzt mussten die SMS alles regeln. Er musste nach den drei Tagen so in sie verliebt sein, dass er fast zuerst fragt. Sonst konnte Amy ihre große Liebe vergessen.

Amy erzählte mir unterdessen von ihrem Treffen mit Ricky. Anscheinend hatte sie alle Schritte durchgeführt. Doch aus ihrer Erzählung konnte ich schließen, dass Ricky nicht ganz so begeistert von Amy war, wie Amy von Ricky, und das bereitete mir große Sorgen.

Am nächsten Morgen rief Amy mich an und sagte stolz zu mir: »Ich hab’ ihm heute schon sechs SMS geschrieben!«

Wow, dabei hatte ich noch nicht einmal gefrühstückt. Jetzt staunte ich wirklich Bauklötze über Amys Eifer. Was Liebe nicht alles bewirken kann. Für Amy muss es wohl verunsichernd gewesen sein, als ich stumm blieb.

Jedenfalls fragte sie: »War das falsch? Hab’ ich es jetzt vermasselt?«

»Nein! Bestimmt nicht«, sagte ich mit voller Überzeugung, aber innerlich kamen mir doch Zweifel.

Hoffentlich war Ricky nicht genervt von so vielen SMS von einer Person, die er erst am letzten Abend genauer kennen gelernt hatte. Wahrscheinlich wird er das Abgeben seiner Handynummer schon jetzt bereuen.

Am Montag in der Schule fragte Amy mich: »Meinst du, ich kann ihn heute Mittag endlich fragen? Ich weiß, die drei Tage sind erst morgen vorbei, aber ich hab’ ihm bis jetzt bestimmt schon so viele SMS geschrieben wie in drei Tagen!« Sie schaute mich bittend an.

Ich zuckte mit den Achseln. »Das musst du selbst entscheiden, je nachdem, wie gut es bis jetzt läuft, solltest du ihn heute oder morgen fragen. Entscheide selbst!«

Amy legte den Kopf schief. »Ich denke, ich frage ihn heute Mittag!«

Ich nickte ihr aufmunternd zu.

Nachmittags rief mich eine völlig aufgelöste und weinende Amy an. »Er hat ›Nein‹ gesagt! Ricky hat mich abserviert! Oh, das ertrage ich nicht! Wie konnte er das nur tun?«, schluchzte sie ins Telefon.

»Hey Amy, weine doch nicht wegen so eines blöden Typen!« Ein besserer Trost fiel mir nicht ein.

Da kam heftiger Protest von der anderen Seite: »Ricky ist nicht blöd! Er ist der netteste und süßeste Typ auf der ganzen Schule!«, erwiderte Amy schluchzend.

Ich seufzte. »Weißt du was? Komm doch eben zu mir!«, meinte ich zu ihr.


Ein paar Minuten später stand sie vor meiner Tür.

»Er mag zwar süß sein, aber er hat dich abserviert, und das war nicht gerade nett von ihm! Weine nicht um ihn!«, versuchte ich sie zu beruhigen.

Sie schaute mich schluchzend an. »Meinst du wirklich?«, fragte sie.

Ich nickte.

Da hörte sie auf zu weinen. »Du hast Recht! Dabei war ich mir so sicher, dass es klappt. Wir hatten doch so einen guten Plan!«

»Ich glaube, unser Vorgehen war gar nicht so gut!«, gab ich zu bedenken, nachdem ich ihr ein Taschentuch angeboten hatte.

»Wie meinst du das?«, fragte Amy. »Liebe kann man keinem einreden. Entweder liebt er dich von Anfang an oder nach einem Tag SMS-Schreiben. Wenn nicht, sollte man sich keine zu großen Hoffnungen machen. Und das genau war dein Fehler. Du warst so sicher, dass er auch in dich verliebt ist, und hast mit keiner anderen Antwort gerechnet als: ›Ja, natürlich will ich mit dir zusammen sein!‹ Deswegen bist du jetzt umso enttäuschter! Ich glaube, man kann Liebe nicht in Schritten oder einem genauen Plan aufbauen. Das geht nicht. Man muss nach dem Gefühl handeln!«

Sie nickte bekümmert.

Den Rest des Abends hörten wir Musik und nach und nach ging es Amy wieder besser.

Mein »tolles« Philosophiereferat musste ich nach dieser Erfahrung natürlich noch einmal überarbeiten, denn unser Plan war ja so richtig schief gegangen. Also begann ich.

»Man kann viele Sachen in Schritten machen, in Form von einer Liste, die man schrittweise abarbeitet. Das klappt zum Beispiel beim Kuchenbacken.

Schritt 1: Mehl und Milch

Schritt 2: Eier usw.

So erhält man eine Übersicht über alle Punkte, die man erledigen muss, es geht meistens schneller und man vergisst nichts.

Wenn man entdeckt hat, dass Schritte beim Kuchenbacken oder Zimmeraufräumen wirklich nützlich sind, heißt das aber noch lange nicht, dass man alles in Schritten machen kann. Manchmal sind Schritte gar nicht so praktisch. Gefühle, zum Beispiel Liebe, kann man nicht in Schritten aufbauen. Da sollte man seine Entscheidungen nicht nach einem genauen Schema treffen. Wenn man das macht, gibt es garantiert einen Reinfall. Man achtet dann nicht mehr auf seine eigenen Gefühle oder auf die des anderen. Überlegt euch also immer gut, welche Sachen ihr in Schritten macht und welche nicht!«


Als ich das Referat am nächsten Tag hielt, war mein Lehrer richtig begeistert und gab mir sogar eine Eins dafür.

Nach der Schule kam Amy dann ganz aufgeregt zu mir. »Ich habe gerade einen ganz süßen Typen in der Stadt getroffen! Ich bin schon total verliebt!«, erzählte sie mir glücklich.

»Diesmal willst du aber nicht, das wir deine Liebe in Schritten aufbauen, oder?«, fragte ich, und wir beide lachten.