Theodora Voráčková (13)

Das schwere Leben einer Puppe

Der Lichtschalter knackte. Ein Luster, der aussah, als hätte jemand an ihm ein Spiel ausprobiert, das »Wer die meisten in der Nacht leuchtenden Sterne hier aufklebt, gewinnt« hieß, erleuchtete das Zimmer. Ein kleines Mädchen trat ein. »Hallo!« Sie sprach zu ihren Puppen. Sie hatte viele von ihnen. Unzählige. Puppen in allen möglichen Größen und Farben, rosa, braune, ganz bleiche. Manche hatten lange, dunkle, lockige Haare, manche kurz geschnittene blonde, manche sogar gar keine. Alle waren in verschiedene Kleider gestriegelt und gebügelt, Röcke und Blusen, Hochzeitskleider, Jeans und moderne T-Shirts, weiß, rot, himmelblau … Sie waren überall. Sie lagen auf und unter dem Bett, standen auf dem Boden, den Rücken an die Wand gelehnt, saßen auf den weißen Kommoden oder auf dem Schreibtisch.

»Ich wollte mich noch schnell verabschieden, bevor wir gehen. Ihr wisst doch, meine Mama nimmt mich mit ins Theater. Die kleine Prinzessin Caramella heißt das Stück. Meine beste Freundin meint, es ist weltberühmt. Nein, schau mich nicht so an, Elisabeth, du weißt doch, dass ich euch nicht mitnehmen kann«, sagte sie und deutete mit dem Finger auf eine Puppe, die hinter einem Abfalleimer, mit dem Gesicht zum Boden gedreht, lag.

»Ich weiß, Monika, ich habe euch ein Kaffeekränzchen versprochen, aber ich will das Theater nicht verpassen. Morgen machen wir es, ja?« Sie sah sich um und hob eine Puppe mit künstlich rosaroten Wangen und einem kirschfarbigen Mund vom Bett. »Keine Angst, Paulinchen«, flüsterte sie der Puppe ins Ohr und streichelte ihre langen blonden Haare. »Ich komme am Abend wieder. Macht’s gut.«

»Laura, Laura! Wo steckst du denn?«, rief eine Stimme, die aus dem unteren Stock des Hauses kam, »Ich wollte schon vor fünf Minuten losfahren. Also komm jetzt!«

»Keine Angst Mama!«, rief das kleine Mädchen, »ich bin gleich fertig.«

Es warf die Puppe wieder hin und verließ das Zimmer. Man konnte noch hören, wie sie sich im Vorraum von ihrem Papa und den drei Geschwistern verabschiedete, dann ging sie mit ihrer Mutter fort. Für eine Weile regte sich im Zimmer nichts.

Agathe, die größte und zerbrechlichste Porzellanpuppe, stand auf und streckte sich. »Okay, Mädels. Die Luft ist rein. Partyzeit!«, rief sie, »Was ist los, Paulinchen, schon wieder so verärgert?«

»Hör auf, mich Paulinchen zu nennen, du weißt doch, dass ich ein Junge bin!«, sagte die blonde Puppe und sprang vom Bett. »Wenn es unsere Besitzerin nicht erkannt hat, könnt bitte wenigstens ihr aufhören, so zu tun, als wäre ich eine Frau? Warum kapiert es den niemand?«

Alle anderen Puppen begannen zu lachen und auf sein rosa Hochzeitskleid zu zeigen.

»Ah ja, das hier …«, murmelte Paulinchen, und seine Wangen liefen noch mehr rot an, als sie bis jetzt gewesen waren.

»Wenn du willst, dass alle begreifen, dass du ein Junge bist, musst du dich eben mehr bemühen«, sagte Agathe leise.

Er schüttelte den Kopf: »Wir dürfen uns doch nicht bewegen, wenn uns Menschen zusehen!«

Doch sie lächelte: »Nein, dafür dürfen wir es aber, wenn sie nicht dabei sind …«

Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff. »Du meinst …«, er blickte sich um und stellte sich auf ein dickes Märchenbuch, das auf dem Boden lag: »Hört alle zu.«

Nach und nach hörten die Puppen mit allen auf, womit sie sich gerade beschäftigten, und begannen ihm Aufmerksamkeit zu schenken.

»Hat jemand einen guten Vorschlag für einen neuen Namen für mich?«

»Moritz«, rief eine Puppe und kicherte.

»Helmut«, schrie eine andere.

»Benjamin Blümchen.«

»Wenzel.«

»Brutus!«

»Oh ja, genau, das hätte gut zu seinen Locken gepasst!«

Alle anderen Vorschläge verschwanden im Gelächter.

Paulinchen war verärgert. »He, ich habe es ernst gemeint!«

»Wir doch auch«, meinte ein schwarzes Babyborn, »du kannst dich bemühen, wie du willst, aber für uns bleibst du sowieso Paulinchen, Pralinchen, oh, mein Herzchen, Röschen.«

Eine winzige Puppe, die Einzige aus Holz, richtete sich auf: »Wie wäre es mit Christian?«

»Genau«, lachte Paulinchen, »von nun an bin ich Chris. Aber jetzt muss ich endlich dieses Ding loswerden!«

Dabei begann er an verschiedenen Schleifen und Mascherln herumzuzerren, die an seinem Kleid zugenäht waren. Doch die Knoten waren zu fest gebunden. Er sah sich um und erblickte eine Schere, die auf dem Schreibtisch lag. Inzwischen begannen manche Puppen wieder zu plaudern, aber die meisten beobachteten ihn immer noch. Er kletterte wieder von dem Märchenbuch herunter und machte sich auf den Weg zum Tisch. Dabei stolperte er mehrmals über den Saum seines Kleides und brauchte viel Zeit, um sich wieder aufzurichten. Die anderen Puppen schienen gut amüsiert zu sein, sogar Agathe, die meistens so verständnisvoll war, musste bei diesem Anblick lachen. Als sie jedoch sah, wie er versuchte, auf die glatten Tischbeine zu klettern und immer wieder runterrutschte, lief sie zu ihm, hob ihn auf und stellte ihn dort hin. Für sie war es kein Problem, denn sie selbst reichte viel höher, als die Oberfläche des Schreibtisches.

Er bedankte sich, kletterte über einige zerknirschte Papierkugeln (was wegen seines Kleides noch schwieriger war), ging um ein Federmäppchen herum und erreichte die Schere. Sie lag auf einem Blatt Papier und sah aus, als hätte sie nur auf ihn gewartet. Doch nun entstand ein weiteres Problem: Wie sollte er sie bloß aufheben? Sie war ja halb so groß wie er. Er überlegte kurz und entschied sich dann herunterzuknien, die Hände in die Löcher zu stecken, die eigentlich beide nur für einen Finger da sein sollten, und die beiden Seiten der Schere mit aller Kraft auseinander zu pressen. Dann legte er sich erschöpft auf den Bauch, so, dass die meisten Schleifen zwischen die Scherenseiten hingen, und presste sie wieder zusammen. Jetzt leistete das Kleid keinen Widerstand mehr. Er wiederholte es noch ein paar Mal, dann schlüpfte er aus seinem zerschnippelten Kleid. Stolz richtete er sich auf. Alle Puppen begannen auf ihn zu zeigen und zu lachen.

»Mist!«, wie konnte er bloß so dumm gewesen sein. Jetzt stand er da, splitternackt, oben auf dem Schreibtisch, vor einer ganzen Armee Weiber. Schnell hob er die Überreste seines Kleides auf und wickelte sie um sich, als wäre er gerade aus dem Bad gekommen. Dabei hinderten ihn die langen lockigen Haare, die ihm immer wieder ins Gesicht fielen. So beschloss er, wieder mit dem komplizierten Schneideprozess anzufangen. Er verkürzte nicht nur sein Haar, sondern auch seine künstlichen Wimpern. Endlich sah er fast wie ein junger Mann aus, von den rosa Wangen und dem auffälligen Lippenstift einmal abgesehen.

Er brauchte nur noch etwas zum Anziehen. Er ließ sich wieder von Agathe auf den Boden stellen und überlegte: »Wo könnte ich Kleidung finden?« Natürlich! In der untersten Schublade des Schrankes. Dort befanden sich alle Puppensachen. Schmuck, Handtaschen, Pferde und andere Plastiktiere, Mini-Kaffeeservice, kleine Möbelstücke, Kissen, Decken …

»Äh … könnte mir jemand helfen, diese Schublade zu öffnen?« Noch bevor er diese Frage zu Ende brachte, wurde ihm klar, dass sie überflüssig war. Die Puppen schenkten ihm keine Aufmerksamkeit. Wenn er nicht den Rest des Tages in Lumpen herumrennen wollte, musste er sie bestechen. »Also gut, wer mir jetzt hilft, bekommt morgen beim Kaffeekränzchen ein Stück von meinem Kuchen!«

Jetzt sprangen alle Puppen, die ihn gehört hatten, auf und liefen zu ihm. Er lächelte vergnügt und begann gleich Instruktionen zu verteilen. »Du stehst dort und navigierst. Ihr fünf zieht hier, ihr drei auf der anderen Seite … Seid ihr bereit? Drei, zwei, eins und zieeeh! Und zieeeh! Und noch einmal!«

Langsam öffneten die Puppen die Schublade. Chris kletterte hinein und sah unzählige Stapel von Kleidungsstücken. Er begann, sich durch die Klamotten zu kämpfen. Überall lagen Mädchensachen, bloß ganz hinten, unter einem Haufen Blusen, befand sich ein altes, aber unbenutztes Hemd für Männer und sogar eine breite, schwarze Jeans mit vielen Hosentaschen. Er überprüfte, dass alle Puppen in eine andere Richtung schauten, und zog sich um. Wenn er die Ärmel von dem Hemd ein wenig aufstrich, stand ihm das neue Outfit eigentlich ziemlich gut. Er kletterte wieder heraus und musterte sich in einem Spiegel, der an der Wand hing. Etwas fehlte noch. Irgendwas, das sein Gesicht männlicher wirken lassen würde. Doch … Was könnte es sein? Er räusperte sich: »Claudia, du kannst doch so schön malen, nicht wahr?«

Eine rothaarige Porzellanpuppe drehte sich um. Sie presste die Lippen zusammen und begann den Kopf von einer Seite zur anderen zu bewegen: »Na ja …«

»Hör auf, so bescheiden zu tun. Ich wollte dich fragen, ob du mir einen Bart malen könntest.«

»Einen Bart? Also gut, wenn du glaubst, dass es dir hilft … He, Clara, Sabine, Petra! Helft mir bitte, den schwarzen Filzstift, der hier liegt, zu öffnen.«

Ihre drei Freundinnen rannten sofort los und folgten ihrem Befehl.

»Danke! Oh, der ist ja schwer. Könnt ihr mir noch mal helfen?«

Gemeinsam hoben sie den Filzstift auf.

»Welchen Bart willst du denn, Paulinchen, äh, ich meine Chris?«

»Ziegenbart.«

Sie lächelte: »Also setz dich hin. An die Arbeit! Petra, beweg den Stift ein wenig nach links. Clara, du etwas niedriger. Genau! Macht einen Schritt nach vorne, duckt euch, einen Schritt nach hinten, jetzt rechts, höher, höher … Stopp!«

Nach und nach zeichneten sie ihm alle vier seinen gewünschten Bart auf das Kinn.

Man hörte, wie die Haustür geöffnet wurde. »Hallo, da sind wir wieder!«, rief eine fröhliche Frauenstimme. Dann machte sich eine Mädchenstimme hörbar. »Es war absolut spitze, Papa, ich muss es dir unbedingt erzählen! Aber zuerst gehe ich noch das hier in mein Zimmer legen.«

Chris zuckte zusammen. Dabei rutschte der Filzstift aus den Händen der Puppen und machte ein wildes Gekrickel über seine linke Wange.

»Na, das hast du toll gemacht!«, schimpfte Claudia, »Jetzt müssen wir es abwischen und wieder von vorne anfangen.«

»Na, das könnt ihr vergessen«, rief Agathe, »hört ihr denn nicht, dass Laura schon die Treppe hinaufrennt? Lasst alles liegen, alle auf eure Plätze!« Tatsächlich. Die Schritte im Haus kamen immer näher. Schnell rannten die Puppen in verschiedene Richtungen los. Sie schafften es gerade noch rechtzeitig, sich aufzustellen, bevor Laura in das Zimmer hüpfte.

»Hallo, ihr alle! Paulinchen, ich …« Sie schrie auf.

So laut, dass alle ihre drei älteren Brüder in ihr Zimmer rannten. Sie starten auf die Puppe, die sie in der Hand hielt.

Thomas hob die Augenbrauen: »Was ist das denn?«

»Na, das wollte ich euch fragen«, sie schluchzte und wischte sich die Tränen aus den Augen. Eine Welle der Wut stieg in ihr hoch. »Wer von euch hat meine Lieblingspuppe missgebildet?!«, schrie sie und stampfte mit den Beinen.

Daniel sah Thomas fragend an. Dieser schüttelte den Kopf. »Ich dachte, du warst es«, flüsterte er, zuckte mit den Schultern und verließ das Zimmer. Daniel blieb noch für eine Weile stehen, als könnte er sich nicht entscheiden, etwas zu tun, dann folgte er ihm. Sebastian umarmte seine kleine Schwester, die noch immer schluchzend dastand.

»Hör zu«, sagte er, »ich war es nicht, ich schwöre es. Es tut mir leid.« Mit einem Seufzer ging er davon.

Laura wandte sich wieder ihrer Puppe zu: »Keine Angst, Paulinchen, wir waschen dich, dann ziehen wir dich um, und morgen besorgen wir eine Perücke für dich, ja? Dann siehst du wieder wie eine Prinzessin aus.«