Teodora Toc (11)

Die Wölfe

Es schneite pausenlos seit zwei Tagen. Der Schnee hatte mit seiner gestalteten Decke vieles verborgen; man konnte die Wege nicht mehr erkennen, auf den Feldern, die gerade vor einigen Monaten voller roter Herbstblumen waren, herrschte nur Schnee, der so glänzte, als ob sich darinnen Edelsteine versteckten. In den Wäldern war es unmöglich, den schmalen Pfaden zu folgen, obwohl da die hohen Bäume den Boden ein wenig schützten. Alle Tiere hatten sich in ihren Häuschen versteckt und warteten auf bessere Zeiten, wenn die Sonne wieder schien und die Blumen sie mit ihrem Duft herauslockten.

Arwid saß am Fenster und schaute, wie eintönig die Schneeflocken auf den Boden, auf die Äste der Bäume fielen. Er dachte an die schönen Tage mit Sonne, wenn er mit seinem Vater in den Wald gehen würde, um Bäume zu fällen; wenn die Tiere wieder mit ihrem Dabeisein das Bild fröhlicher machen würden. All das schien Arwid in dem Augenblick unmöglich.

Der Junge wohnte zusammen mit seinem Vater in einer kleinen Holzhütte, am Rande eines Tannenwaldes, weit entfernt von der Stadt. Sein Vater war von Beruf Holzfäller und verdiente das tägliche Brot recht schwer.

Arwid konnte nicht lesen und schreiben und hatte nie eine Schule besucht. Er verschwendete seine Zeit, indem er durch den Wald spazierte und sich Geschichten von seinem Vater anhörte. Solche Geschichten, die am Feuer mitten im Winter erzählt werden, von alten Zeiten, als Hexen die Welt regierten und Tiere sprechen konnten, oder solche über Waldgeister, die Wünsche erfüllen können. Obwohl Arwid den stets grünen Tannenwald sehr gut kannte und oft auf Entdeckungsreise ging, hatte er nie einen Waldgeist gesehen, einen solchen, von welchem sein Vater so lebendig erzählte. Einmal hatte sich der Junge vorgestellt, er würde einen Schatz finden und mit dem Geld, das er für den Verkauf bekommen würde, in eine Stadt ziehen, wo er die Schule besuchen durfte und sein Vater eine gute Arbeitsstelle bekommen würde; das gab auch dem Vater, der gar nicht mehr jung war, Hoffnung, das Holzfällen zu verlassen, und er machte sich mit Arwid auf ein Abenteuer. Doch so sehr sie auch Wochen an den Wurzeln der Bäume, in kleinen Grotten und am Rande eines Flusses suchten und durch die Erde bohrten, fanden sie nichts.

Arwid schaute weiter aus dem Fenster und träumte, endlich einmal Freunde zu haben und sich nie mehr zu langweilen. Drinnen, wo sich der Vater mit dem Feuer beschäftigte, war es warm und bequem, während man draußen sah, wie der Wind die Schneeflocken zu einem wilden Tanz führte. Es war ziemlich dunkel und düster, dicke, graue Wolken beherrschten den Himmel und ließen keinen Sonnenschein ein bisschen Freude in die Herzen der Menschen bringen. Arwid dachte an die Länder, von welchen sein Vater so oft erzählt hatte, von denen, wo die Sonne nie untergeht, wo es immer schön warm ist, wo die Vögel immer fröhlich zwitschern und das blaue Meer den Meerjungfrauen Schutz bietet. Das Meer. Es klang so melodisch, so schön. Wie fühlt es sich an? Wie schaut es in Wirklichkeit aus?, fragte sich Arwid, der mehr als die Umgebung, in der er wohnte, den Wald und die Holzhütte, nicht kannte. Er wünschte sich so sehr, in einem der sonnigen Länder zu sein, deren Schönheit alle Märchen loben …

Ein Schütteln brach Arwids Träume. Er drehte sich um. Sein Vater stand mit besorgtem Gesicht vor ihm. In seinen blauen Augen konnte Arwid bemerken, dass er unruhig war. Seine ziemlich weißen Haare verrieten, dass er auch nicht mehr sehr jung war. »Wir brauchen dringend Holz fürs Feuer, Arwid. Ich muss hier bleiben, damit das Feuer nicht erlischt. Sei bitte aufmerksam, damit du nicht irgendwo hinfällst und dir wehtust.«

Arwid zog einen dicken Pelzmantel und seine Lederstiefeln an, und ging auf die hölzerne Tür zu. Als er sie öffnete, kam der Wind ins Haus herein, und die Kälte drang für einige Momente herein, sodass man im schwachen Licht sehen konnte, wie er die wenigen Feuerflammen fast auslöschte.

»Schließ doch die Tür zu! Und bleib nicht lange im Wald, sondern komm schnell zurück!«, schrie der Vater, der neben dem Ofen stand und versuchte, das Feuer wieder anzuzünden.

Arwid packte schnell die Klinke und schloss die Tür mit Kraft, sodass der Wind nicht mehr ins Haus gelangen konnte. Er atmete tief ein. Es fehlte ihm der Duft der Blumen und der Geruch nach frischem Gras so sehr. Nur die schwere, sehr kalte Luft war jetzt da. Ihm schien die Kälte des Winters, die er hasste, sehr fremd. Die Tannen waren nicht mehr von Vögeln bewohnt, den Lebewesen, die es schafften, Freude in die Welt zu bringen.

»Sie sind weit weg, in Afrika, wo es warm ist und wo es ihnen gefällt«, hatte ihm sein Vater erzählt.

»Werden sie wieder zurückkommen?«, hatte er einmal gefragt.

»Natürlich, wie immer«, hatte sein Vater geantwortet.

Doch wenn Arwin den weißen Schnee ansah, der sich überall ausbreitete, hatte er doch noch Angst, dass die Vögel nie mehr zurückkehren würden, wenn sie sowieso die Wärme liebten.

Der Junge schaute auf den Pfad. Er war, wie alles andere, vom Schnee bedeckt. Das würde seine Arbeit gar nicht leicht machen, denn er konnte sich sehr schwer im Winter orientieren. Alle Bäume, alle Wege schienen ihm gleich. Er näherte sich langsam dem Wald. Der Wind peitschte ihm ins Gesicht. Am Waldrand sah er ein paar gefallene Äste. Er sammelte manche, die er gut für das Feuer hielt. Am Platz, wo die Äste gewesen waren, konnte man noch wenige Grashalme sehen, doch gleich wurde alles wieder weiß, da es im Moment stark schneite.

Ohne dass er es merkte, drang Arwid tiefer in den Wald hinein und sammelte weiterhin Holz. Die Stille, die im Wald herrschte, brachte den Jungen dazu, den Kopf zu heben. Die Stille hörte sich fremd an. Nichts war im Wald, nur Schnee, so weit man mit den Augen sehen konnte, und an manchen Stellen dünne Baumstämme, die sich elegant nach dem Himmel streckten. Man hörte den Wind weit weg heulen, so als würde er an ein Tor klopfen. Ab und zu brach ein vom Schnee belasteter Ast. Das leise Knirschen der Stiefel im Schnee war das einzige Geräusch, das oft die Stille brach. Es hörte sich so merkwürdig an.

Auf einmal schien Arwid ein paar Spuren im Schnee zu sehen. Er eilte dorthin, sah aber die große Wurzel eines Baumes nicht und stolperte. Dabei fiel ihm das Holz aus den Armen und verstreute sich überall. Der Junge aber fiel mit dem Kopf auf einen Stein, der vom Schnee versteckt war. Er fühlte einen Schmerz, stöhnte leise, blieb dann aber auf den Boden. Er wurde ohnmächtig.


Arwids Vater saß in der Hütte am inzwischen wieder großen Feuer auf einem uralten Lehnstuhl. Erst dachte er, dass Arwid wahrscheinlich kein Holz findet, dann wurde er allmählich böse und dachte, dass das Kind irgendwo einen Schneemann baut, aber bald wurde er sehr besorgt, denn die alte Pendeluhr auf der Wand zeigte, dass schon viel Zeit vergangen war, seitdem der Bursche von Zuhause weggegangen war. Und die alte Uhr aus wertvollem Eichenholz hatte sich nie geirrt, war nie eine Minute stehen geblieben oder vorgegangen.

Der Vater erhob sich leise von seinem Stuhl und seufzte tief. Ob er noch auf seinen Sohn warten sollte? Doch er beschloss, ihn zu suchen. Er zog sich an: dicke, große Pelzstiefel und einen langen Hirtenmantel, den er von seinem Vater geerbt hatte. Arwids Vater löschte das Feuer und öffnete die Tür. Ihm war es so kalt, er ging aber vorwärts, da er sich fürchtete, dass Arwid Wölfe auf seinem Weg getroffen hatte. Als Waffe gegen die Bestien nahm er eine Axt mit.

Auf seiner Glatze hatten sich schon Schneeflocken gesammelt, und man konnte die weißen Haare, die ihm noch geblieben waren, nicht mehr vom Schnee unterscheiden. Er schüttelte den Kopf und ging in der Richtung, in die ihn die Spuren seines Sohnes führten, die inzwischen kaum sichtbar waren.


In dieser Zeit saß Arwid im Schnee und rührte sich nicht. Wie sein Vater befürchtet hatte, erschien aus dem unendlichen Schnee ein hungriger, kleiner Wolf. Das Tier witterte zuerst die Umgebung und schnuffelte mit der Schnauze fröhlich. Es näherte sich geräuschlos dem Kind und zog es am Ärmel. Erst nachher wollte er prüfen, ob das Gefundene noch lebt, wie ihn seine Mutter gelehrt hatte.

Doch Arwid öffnete leise die Augen, und sah vor sich langes, zotteliges, graues Fell, und noch dazu stank etwas furchtbar. Er sprang, so schnell er konnte, hoch und wollte laufen, doch als er das kleine Tier vor sich sah, wollte er lachen. Es versuchte, Arwid Angst zu machen, zeigte seine Zähne, aber alles schien so, als würde es zu grinsen üben. Der junge Wolf merkte, dass er ausgelacht wurde, und ging beleidigt neben einen Baumstamm, wo er gähnte und Arwid weiter beobachtete. Ein Wolfsschrei. Der Junge stand auf. Er hatte sich erinnert, dass er eine Arbeit zu erledigen hatte, und ging in die Richtung, aus der der Schrei zu hören gewesen war.

Der Junge hatte sich an die Spuren erinnert, die er im Schnee vor seinem Hinfallen gesehen hatte. Ob er sie noch finden wird? Dann schoss es ihm durch den Kopf, dass er nicht einmal wusste, wie viel Zeit vergangen war, seitdem er auf der Holzsuche von Zuhause weg war. Sein Vater hatte sich bestimmt Sorgen gemacht. Arwid hob den Kopf und wollte den Himmel ansehen. War es schon Abend? Oder erst einmal Nachmittag? Groß waren sein Erstaunen und seine Traurigkeit in der selben Zeit, als er bemerkte, dass er sich mitten im Wald befand, wo er am dichtesten war. Man konnte den Himmel gar nicht sehen, nur überall hohe Tannen, die einen weißen Anzug trugen. Ab und zu fielen monoton auch manche Schneeflocken.

Er sah sich an. Von seinen Kleidern war nichts mehr zu erkennen. Er dachte an die Schneemänner, die er mit seinem Vater einmal gebaut hatte. Weiß, mit einer alten Mütze am Kopf. Und mit einer roten Karotte als Nase, genauso wie er. Er lächelte bei diesem Gedanken.

Es war ihm so kalt! Seine Zähne fingen sogar zu klappern an.

Er musste noch das Holz nach Hause bringen … ob es nicht zu spät war?

Arwid schaute nach den Ästen. Sollte er nicht besser nach Hause gehen und zusammen mit seinem Vater Holz sammeln? Und was sollte er sagen? »Ach, ja, liebster Vater, ich bin gestolpert und war für eine Weile ohnmächtig. Und, apropos, das Holz habe ich auch nicht.«

Nein, er musste unbedingt die Äste nach Hause bringen. Er bückte sich und tastete durch den Schnee. Ein erster Ast kam zum Vorschein, dann noch einer. Auf alle hatte sich eine dünne Schicht Schnee gelegt.

Schreie ertönten. Das konnte nur eines bedeuten, dachte sich der Junge. Es waren bestimmt hungrige Wölfe. Arwid ging in die Richtung, in der er meinte, dass er nach Hause kommen würde. Ob das der richtige Weg war? Er sah sich wieder um. Ja, nur Bäume und Schnee. Arwid wusste nicht mehr Bescheid, welcher der Weg war, der ihn nach Hause bringen sollte. Er erinnerte sich an die Schritte, die er gesehen hatte. Menschenspuren. Der Junge drehte sich mit dem Holz in den Armen um. Da, da war etwas. Er ging dorthin und legte sich in den Schnee, um die Spuren besser zu sehen. Enttäuscht erhob er sich und verzog das Gesicht. Es waren Schritte von Tieren gewesen. »Wahrscheinlich Füchse«, sagte er sich. In der Nähe sah er noch etwas. Er ging auch dorthin. Das waren endlich die Menschenspuren. Und er war sich sicher, dass er sich nicht täuschte. Wie glücklich er war!

Arwid folgte den Schritten, die sich regelmäßig wiederholten. Langsam wurde es dunkel. Mehrere Schreie waren jetzt zu hören. Es schneite stark.

Der Junge wurde auf einmal so müde von dem vielen Stapfen und ließ sich auf dem Boden nieder. »Nur jetzt nicht einschlafen!«, dachte er. Er erinnerte sich an die Gemütlichkeit von Zuhause, an die Wärme. Wie sehr er sich wünschte, dort zu sein! Er gähnte laut.

Arwid stand wieder auf. Mit dem Holz in den Armen schaffte er es durch den Schnee. Was machte sein Vater eigentlich? Wahrscheinlich suchte er nach ihm. Er seufzte und hoffte, dass sich sein Vater doch nicht sehr, sehr große Sorgen um ihn machte.


In dieser ganzen Zeit suchte der Vater tatsächlich nach seinem Kind. Die ersten Schritte konnte man kaum sehen, doch je tiefer er in den Wald drang, desto mehr vermischten sich die Spuren mit anderen, die von Tieren sein mussten. Wo konnte der Bursche sein?!

Auf einmal hörte er einen Schrei. »Nur keine Wölfe!«, murmelte der Vater. Er ging vorwärts.

Der Schnee glänzte manchmal so sehr, dass er die Augen zumachen wollte. An einer Stelle konnte der Mann durch die mächtigen Bäume den Untergang der Sonne beobachten, die halb zwischen den Wolken versteckt war. Dann schien es am hellsten, so als wollte sie einen kleinen Sieg über die Dunkelheit ankündigen. Der Vater wurde ungeduldiger. Er musste sich beeilen, denn es würde nicht mehr lange dauern, bis die hungrigen Bestien aus ihren Verstecken kommen werden. Doch, wo sollte er hingehen?! Wäre es nicht besser, wenn er nach Hause zurückkehren würde, wo es so warm wäre und dieser zweimal verfluchte Wind nicht gegen sein Gesicht wehte? Doch er schüttelte den Kopf, so als würde er sich selbst ermutigen. Nein, das konnte er auf keinen Fall tun! Was würde aus seinem Sohn, falls er ihn nicht finden würde?

Er ging ein paar Schritte weiter. Plötzlich erschienen vor ihm ein paar Spuren, die er noch nicht bemerkt hatte. Spuren von Schuhen. Ziemlich alt, aber vielleicht würden sie ihn doch zu seinem Sohn führen. Langsam folgte er ihnen.


Arwid ging weiter. Einige Äste fielen ihm aus den Armen. Er bückte sich, um sie einzusammeln. Dabei fiel ihm das ganze andere Holz hinunter. Nein, nicht gerade jetzt!, schrie er in seinen Gedanken. Genau jetzt, wo es dunkler wurde und er schneller einen Ort finden musste, wo er übernachten sollte. Nun musste er auch noch Zeit damit verlieren, das Holz einzusammeln. Das wichtige Holz und die überwichtige Zeit! Beides brauchte er, damit er überleben würde. Also begann er die Äste einzusammeln. Der Wind wehte ihm in den Rücken, die Kleider klebten an seinem Körper fest. Seine Finger konnte er kaum bewegen. Und dafür kam auch noch ein Niesen, gefolgt von einem zweiten. Er beeilte sich, so sehr er konnte.

Als er endlich mit dem Sammeln fertig war, wäre ihm beinahe das Holz wieder aus den Armen gefallen. Er begann zu rennen, ohne die Spuren zu verlassen. Arwid hatte wieder einen Wolfsschrei gehört. Diesmal ziemlich nahe.

Würde er doch den Ort finden, wo er sich geschützt fühlen konnte!


Sein Vater sah keine Spuren mehr. Er hörte schon die Wölfe in seiner Nähe. Doch wo steckte sein Sohn?! Der Vater hoffte aus ganzem Herzen, dass ihm nichts Schlimmes passiert war, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass ihm inzwischen nichts geschehen war, da Arwid nach Hause gekommen wäre. Und da schoss es ihm durch die Gedanken. Was, wenn der Junge in der Zeit zu Hause war, und sich Sorgen über seinen Vater machte? Was, wenn er es nicht schaffte, das Feuer alleine anzuzünden?

Der Mann wollte zurück, aber den Weg kannte er nicht mehr. Seine Fußspuren hatten sich längst mit anderen von Tieren vermischt, die keinen Winterschlaf machten, denn Schnee fiel im Moment nicht. In dem Augenblick fühlte er sich wie ein Kind. Was konnte er anfangen? Er entschloss sich, den Schritten weiter zu folgen. Seltsamerweise hatten sich diese gar nicht mit anderen vermischt, sondern wiederholten sich regelmäßig, so, als hätten sie beschlossen, jemandem in Not zu helfen.

Er sah sich genau um, damit er sicher war, dass ihm keine Bestie folgte. Nur Schnee.

Der Mann ging müde weiter und träumte mit offenen Augen, dass er schneller in der so gewünschten Wärme ankommen konnte. Er ahnte nicht, dass in seinem Sohn das Gleiche vorging.


Arwid jedoch merkte, dass die Bäume nicht mehr so dicht nebeneinander standen und es immer weniger wurden. Aber die Schritte hörten nicht auf, ihn an einen unbekannten Ort weiterzuführen.

Als er den Kopf hob, sah er vor sich einen eingefrorenen Fluss. Es schien ihm, dass er an diesem Platz schon einmal war. Ja, das stimmte. Er erinnerte sich an die alte Tanne, die am gegenüberliegenden Ufer stand. So hoch und mächtig! Arwid war im Sommer an diesen Ort mit seinem Vater gekommen, als sie Bäume zum Fällen suchten. Sein Vater meinte, er sollte die große Tanne fällen lassen, doch der Junge bat ihn, das nicht zu tun, weil es schade war, so einen alten, prachtvollen Baum als Holz oder zum Möbelherstellen zu verwenden. Wahrscheinlich war es die älteste Tanne im ganzen Wald!

»Prima, der König in diesem Wald!«, dachte Arwid. Ein Rascheln riss in aus den Gedanken. Ob das nicht Wölfe waren? Er hatte Angst, sich umzudrehen. Er hatte Angst, seinen Feind zu sehen. Warum, wusste er selber nicht.

Der Junge musste sich schnell davonmachen. Wie denn?, fragte er sich. Keine Gedanken, nichts. Seine Füße begannen von alleine zu laufen.

Da hörte er eine Stimme. Eine Menschenstimme! Endlich! Ob er sich nicht getäuscht hatte? Egal, meinte er und drehte sich um. Eigentlich war ihm gar nicht alles egal, aber er war so froh, wieder Menschen reden zu hören! Es schien ihm so lange Zeit her, seitdem er die Hütte verlassen hatte.

Noch mit dem Holz in den Armen, wartete er, dass jemand oder etwas zum Vorschein kam. Vielleicht war es doch sein Vater!

Aus einem Häufchen Schnee streckte sich ein Mann unsicher hoch. Er hatte eine blaue Mütze am Kopf. An manchen Stellen schlüpften rötliche Strähnen hervor. Das Gesicht war rot von der Kälte. Er schaute Arwid erstaunt an. »Was suchst du hier? Das ist kein richtiger Spielplatz! Du solltest schnellstens wieder in das Dorf gehen, es ist nicht mehr lange, bis es sehr dunkel wird.«

»’tschuldigung!«, gab Arwid als Begrüßung. »Ich wohne neben dem Wald. Als ich Holzsammeln gegangen bin, habe ich mich im Wald verlaufen. Jetzt finde ich den Weg nach Hause nicht mehr.«

»Ach, soso …«, murmelte der Unbekannte. »Meinst du nicht, es wäre besser, wenn du bei mir übernachtest? Am nächsten Tag suchen wir gemeinsam dein Haus. Ist es dir recht so?«, fragte er.

Arwid wusste nicht, was er sagen sollte. Eigentlich wäre es viel besser, einen Schlafplatz zu haben … aber er machte sich gleichzeitig Sorgen um seinen Vater.

Er nickte und sagte einfach: »Ja.«

»Ich freue mich, jemanden zu haben, mit dem ich sprechen kann, dann vergeht die Zeit viel schneller«, antwortete der Mann. Er näherte sich dem Jungen. »Komm, ich zeige dir, wo wir die Nacht verbringen werden.«

Wer war dieser Mann?, fragte sich Arwid. Warum stellt er sich nicht vor?! Warum denn nicht? Und wieso befand er sich mitten im Wald, wo doch fast keine Menschen herumspazierten. Es schien Arwid, als kannte der Mann den Wald. Vielleicht wohnte er alleine und lebte nur von Früchten? Was aß er dann im Winter?

Sie machten zusammen ein paar Schritte. Zwischen den beiden herrschte Stille. Eigentlich war überall Stille, als würde auch der Wald für Arwids Fragen auf eine Antwort warten. Meistens war es ja still, aber immerhin hörte man oft ein Knirschen.

»Wer sind Sie?«, sprach Arwid. Er wollte noch mehr Fragen stellen, doch als er den Mund öffnete, schloss er ihn auch gleich wieder. Er fand es peinlich, dass er diese Stille unterbrochen hatte. So, als wäre diese ein Ritual gewesen …

Der Unbekannte aber begann zu lachen. »Wer ich bin?«, er machte eine Pause und schaute Arwid amüsiert an, indem er stehen blieb und die große Tanne ansah. »Beeile dich. Ich werde es dir zeigen!«

Zeigen? Wieso zeigen?, fragte sich Arwid. War das etwa ironisch gemeint? Warum konnte er nicht einfach erklären, wer er sei?

Der Junge war sich nicht mehr richtig sicher, ob er dem Mann folgen sollte. Doch weil er keine andere Wahl hatte, ging er ihm nach. Er hatte keine andere Wahl mehr, weil er selbst bemerkt hatte, dass der Mond schon schüchtern schien und in der Ferne Wölfe schrien. Der Mann machte sich wegen der Wölfe keine Gedanken, er sah gar nicht unruhig aus, sondern eher gut gelaunt.

Inzwischen begann es auch langsam zu schneien.

Bald kamen sie bei einer Grotte an. Drinnen war es finster. »Mmm«, versuchte Arwid.

»Ja?«, fragte der Mann, während er hineintrat.

»Wohnt da irgendein Tier?«, setzte der Junge fort.

Ein Grinsen breitete sich über das Gesicht des Unbekannten. »Nein, da werden wir heute Nacht schlafen«, gab er zur Antwort.

Arwid sagte nichts, aber er war ziemlich erschrocken. In einer Grube zu schlafen? Außerdem konnten Wölfe draußen herum sein. Und es würde kalt werden. Er dachte, der Mann musste verrückt sein, um so etwas zu tun … Und dann war er auch ein Wahnsinniger? Er schüttelte den Kopf und vertrieb den Gedanken. Er hatte doch keine andere Wahl!

Der Mann versuchte, mit Arwids Holz ein Feuer zu machen. Als er es endlich schaffte, wurde die ganze Grube beleuchtet. Arwid konnte endlich um sich alles sehen. Überall auf dem Boden lagen unbekannte Dinge und ein Heft, wie das, worin sich sein Vater immer notierte, wie viel Geld er für einen Monat gewonnen hatte.

Als der Mann sah, wie erstaunt Arwid auf seine Sachen schaute, lachte er. Dem Jungen war es so peinlich. Warum wurde er immer ausgelacht? Sah er wirklich wie ein Blöder aus?

»Ich bin ein Wissenschaftler«, erklärte der Mann.

»Ein Wis… ein was?«, fragte Arwid.

»Wissenschaft heißt das, was ich mache. Eigentlich mache ich Studien, wie sich Tiere im Winter benehmen.«

»Acha«, meinte Arwid noch, obwohl er nicht genau wusste, was Studien zu bedeuten hatten.

Er hatte weiterhin dieses peinliche Gefühl, obwohl er schon wusste, dass der Mann irgendein Wissenschaftler war … Und er konnte sich das selbst nicht erklären.

»Was sind diese Dinge, die Sie überall auf dem Boden liegen gelassen haben?«

»Das werde ich dir erklären, nachdem du mir geholfen hast, das Essen zu bereiten.«

Arwid nickte zufrieden und bemerkte erst jetzt, dass er ganz hungrig war.


In dieser Zeit folgte Arwids Vater den merkwürdigen Spuren im Schnee. Wo war sein Sohn? Was ist mit ihm passiert? Wem gehörten diese Spuren? Arwids Schritte konnten es nicht sein, da sie zu groß waren. Würde er einen Schlafplatz finden, wo er die Nacht verbringen könnte? Eine Menge Fragen gingen ihm durch den Kopf. Er war so müde, dass er langsamer durch den Schnee gehen musste. Und weil er keine Mütze auf dem Kopf hatte, war es ihm sehr kalt. Er würde sich sicherlich erkälten!

Auf einmal hörte er Schreie in der Nähe. Der Vater drehte sich um. Er hatte zum Glück noch seine Axt, mit dem er sich vor den Bestien wehren konnte. Er wartete, dass sie angriffen.

Unerwartet, als es stiller wurde, sprang ein Wolf hervor. Woher, konnte der alte Mann nicht sehen.

Dabei erschienen plötzlich auch zwei andere. Ziemlich wenig für eine Wolfsmeute … Wahrscheinlich nur einfach eine Familie. Einer griff an. Der Vater wehrte sich. Der Wolf hüpfte erschrocken zurück. Auf seinem Fell war ein wenig Blut zu sehen. Ein schönes graues Fell hatten die Tiere, doch sie waren sehr dünn. Das konnte dem Vater ein wenig helfen, weil die Tiere nicht so viel Kraft hatten. Ihre grasgrünen Augen glänzten schlau, und für einen Moment hatte der Mann Angst. Er eilte auf einen der Wölfe zu, der ausgewachsen aussah. Das Tier wich zurück. Eigentlich sahen sie auch gar nicht sehr erwachsen aus. Vielleicht wollten sie doch nur spielen. Und was wäre, wenn sie ihre Verwandten rufen würden?

Der Vater ließ die Axt los. Er konnte einfach den Tieren nichts tun. Er liebte Tiere. Er nahm seine Axt und ging weiter, den Schritten folgend. So viel Angst nur wegen dieser Wölfe! Warum wurden sie in allen Märchen als negative Personen beschrieben?

Die Wölfe schauten ihm lange nach. »Menschen sind doch gar nicht so böse«, dachten sie vielleicht. Sie sahen sich an, dann liefen sie dem alten Vater nach.


»Arwid, ich arbeite mit diesen Gegenständen!«, sagte der Wissenschaftler. »Ich versuche, ein Tier im Winterschlaf zu beobachten. Das sind Sachen, die mir dabei helfen«, zeigte er sie ihm.

»Acha. Hmm, komisch«, meinte der Junge.

Sie saßen gemeinsam um das Feuer und aßen einige Brötchen.

»Ich liebe Tiere, das ist meine Welt«, erzählte der Wissenschaftler weiter.

»Ich auch!«, erwiderte Arwid.

Langsam wurde das Gespräch langweilig. Meistens wurde nur mit »Acha« oder »Hmm« geantwortet. Keiner verstand den anderen besonders gut. Arwid verstand die merkwürdigen Dinge, mit denen sich der Wissenschaftler beschäftigte, nicht, und der Mann verstand Arwids Situation nicht. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie Leute so weit entfernt von einer menschlichen Siedlung wohnen konnten. Ohne die Regeln einer Stadt. Einfach nach den Regeln der Natur.

»Eine Frage«, versuchte Arwid.

»Natürlich«, antwortete der Mann.

»Wieso haben Sie diese Schritte im Schnee gelassen? Wo waren Sie? Kennen Sie diesen Wald?«

Wieder breitete sich ein Grinsen auf dem Gesicht des Wissenschaftlers aus. »Ich bin noch einmal durch den Wald spazieren gegangen. Da habe ich diese Grotte gefunden. Es ist sehr seltsam, wieso ich sie noch einmal gefunden habe. Ich werde es dir kurz erzählen.«

Arwid schaute ihn erwartungsvoll an. Das Feuer brannte weiter und verbreitete orange Strahlen. Von draußen her kam nur wenig Kälte. Die beiden saßen auf einer dicken Wolldecke.

»Als ich mich entschied, Tiere zu studieren, waren eher Wölfe gemeint. Ich wusste, dass ich in diesem Wald eine Chance haben würde, sie zu beobachten, also machte ich mich auf den Weg. Das war heute Morgen. Ich verirrte mich durch diesen dichten Wald und wusste nicht mehr, in welche Richtung ich gehen müsste. Meine Spuren im Schnee konnte man nicht mehr gut erkennen, weil es sehr stark schneite und sie schon zugedeckt worden waren. Plötzlich erschienen drei Wölfe. Zuerst dachte ich mir, sie würden hungrig sein und wollten angreifen, aber sie schauten mich seltsam an und gingen vorwärts. Manchmal blieben sie stehen und schauten mir nach, ob ich ihnen folgte. Es war mir klar, dass sie mich an einen Ort führen würden. Sie zeigten mir diese Grotte, die ich ohne ihre Hilfe nie wiederfinden könnte …« Der Wissenschaftler machte eine kleine Pause.

»Also sind diese Tiere gar nicht böse … und außerdem klug«, meinte Arwid.

»Sehr klug! Aber ich weiß nicht, wieso sie mich verstanden haben. Wahrscheinlich sind sie sogar gescheiter als Menschen … Nachdem sie mir die Grotte gezeigt hatten, sind sie einfach verschwunden, als ich den Kopf umdrehte.«

Was für Wesen waren das gewesen?, fragte sich Arwid. Mehr als einfache Tiere, auf jeden Fall …

»Ich weiß nicht, ob ich darüber in meinen Studien schreiben soll. Niemand würde mir glauben, dass Wölfe hilfsbereit sind«, erklärte der Mann.

Für einen Moment ließ sich die Stille nieder.


Arwids Vater ging den Wölfen nach. Es schien ihm, als würden diese ihm helfen wollen. Er folgte ihnen, weil es sowieso dunkel wurde und man die Schritte nicht mehr sehen konnte. Die Silhouetten schlichen durch die Finsternis. Meist konnte der alte Mann sie sehen, wenn sich die Tiere umdrehten. Dann konnte er ihre grüne Augen bemerken.

Es wurde langsam kalt. Arwids Vater hielt eine Hand in der Hosentasche und in der anderen hatte er die Axt, obwohl er nicht mehr genau wusste, ob er sie noch verwenden würde.


Arwid war sehr müde. Seine Augen schlossen sich, aber dann wachte er auf. Eine Menge Gedanken hielten ihn wach. Wo befand sich sein Vater? Und was war mit diesen Wölfen eigentlich los? Der Wissenschaftler machte sich Notizen in seinem Heft. Er hatte Arwid erklärt, dass er sein Tagebuch schrieb, also er erzählte von dem vergangenen Tag. Er schien damit sehr beschäftigt zu sein. Arwid wollte ihn nicht mit Fragen stören, die vielleicht auch der Mann selber nicht beantworten konnte.

Man hörte ein Rascheln. »Feuer!« schrie jemand.

Der Wissenschaftler hob den Kopf von seinem Heft. Er drehte sich um und flüsterte Arwid zu: »Ich sehe einen Menschen.« Auch der Junge hatte ihn gesehen. Der Wissenschaftler erhob sich vom Boden und ging den Mann begrüßen. Arwid folgte ihn.

»Arwid!« Der Mann lief auf den Burschen los und umarmte ihn. Er zitterte. Wahrscheinlich teils vor Freude, teils vor Kälte. Hinter ihm standen drei Wesen. Ihre grasgrünen Augen funkelten neugierig. »Wo warst du die ganze Zeit?!« fragte der Vater wütend.

»Es ist nicht lange her, dass er hier ist«, erklärte der Wissenschaftler.

Zu dieser Zeit kniete Arwid im Schnee, neben den drei Wölfen, und schaute ihnen in die Augen. »Wer seid ihr?«, flüsterte er. Es schien ihm, als hätte er einen davon schon einmal gesehen.

Dabei drehten sich die Tiere um und verschwanden in den dunklen Wald.

Die Männer gaben sich die Hand. Sie legten sich erneut um das Feuer. Arwids Vater erklärte kurz, was ihm die ganze Zeit passiert war.

Der Wissenschaftler schrie auf einmal: »Das Ganze muss ich mir unbedingt im Tagebuch aufschreiben!«

Arwid blieb nachdenklich am Feuer. Er war irgendwie froh, dass er sich im Wald verirrt hatte. Er hatte diese Wölfe gesehen. Diese Tiere hatten zwei Menschen gerettet. Wer waren die Wölfe? Oder besser gesagt, was waren diese Wölfe?