Fiona Sprack (9)

Schritt für Schritt

»Gut, jetzt habt ihr Sportunterricht mit Frau Klein!«, erklang die schrille Stimme von Frau Krakenarm.

Lärmend und lachend begannen die Kinder, ihre Taschen zu packen.

Missmutig stopfte Mia ihre Hefte in die Schultasche. ›Sport!‹, dachte sie verächtlich. Sie hasste Sport. Frau Kleins bevorzugte Sportart schien eindeutig Laufen zu sein. Und genau daran haperte es bei Mia. Sie war plump, etwas behäbig und sehr groß – damit nicht gerade ein Ass im Rennen. Mia schulterte ihre Schultasche und nahm ihren Sportbeutel in die Hand.

»Uh!«, erklang eine spöttische Stimme hinter Mia. »Sollen wir nicht besser einen Krankenwagen holen? Zu deiner eigenen Sicherheit, Mia!«

Gelächter. Caroline und Franka, zwei der Mädchen hinter Mia, schüttelten sich vor Lachen.

»Lasst mich in Ruhe!«, fauchte Mia.

»Ruhe bitte«, rief Frau Krakenarm. »Folgt mir!«

Sie marschierten einige hölzerne Treppen empor, ein paar endlos lange Korridore entlang und schließlich eine eiserne Wendeltreppe hoch, bis Mia japsend stehen blieb und sich die schmerzenden Seiten rieb.

»Weiter, weiter! Nicht stehen bleiben!«, forderte Frau Krakenarm.

Und weiter ging es.

Endlich, nach einer halben Stunde, so kam es Mia vor, erreichten sie eine hölzerne Tür, die zu den Umkleideräumen führte. Frau Krakenarm verabschiedete sich und die Schüler durften sich umziehen.

»Guten Morgen!«, begrüßte sie Frau Klein.

»Guten Morgen, Frau Klein!«, antwortete die Klasse artig im geübten Singsang.

»Heute habe ich mir etwas Besonderes einfallen lassen!«, verkündete Frau Klein. » Heute werden wir laufen.«

Oh nein!‹, dachte Mia. Aber es kam noch schlimmer.

»Starten wollte ich mit einem Wettlauf. Ich stelle euch in Paaren zusammen. Die Gewinner der Paarläufe laufen im zweiten Durchgang gegeneinander, und immer so weiter, bis die schnellste Läuferin feststeht. Diese bekommt am Ende einen Schokoriegel.«

Frau Klein teilte die Paare ein.

»Nein …«, stöhnte Mia. Sie musste mal wieder gegen Diana laufen. Und natürlich würde Diana mal wieder gewinnen.

Die Wettrennen begannen. Und irgendwann, ganz am Schluss, rief Frau Klein: »Diana und Mia, bitte an den Start! Auf die Plätze – fertig – los!«

Diana schoss los. Mia kam keuchend und wie ein Wackelpudding hinterher. Sie versuchte schneller zu werden, doch schon nach 20 Metern brach sie stöhnend und schwer atmend zusammen.

Die Schülerinnen hinter ihr brachen in schallendes Gelächter aus.

Tränen schossen Mia in die Augen. Sie richtete sich auf. Diana hatte längst das Ziel erreicht. Mia trottete hinüber zu den anderen Kindern. Da angekommen, erhielt sie Kommentare, die sie fast noch einmal zusammenbrechen ließen.

»In der Zeit, wo du einen Schritt machst, mach’ ich zehn!«

»Mia, die lahme Schnecke, kommt beim Laufen um die Ecke!«

Der Rest der Sportstunde verging nicht viel besser, und als Mia nach Hause kam, warf sie sich auf das Sofa und begann zu weinen.

»Ja, was ist denn los?«, fragte ihre Mutter erstaunt und setzte sich neben sie.

»Die anderen hänseln mich immer«, schluchzte Mia.

»Weshalb denn?«

»Ich kann einfach nicht rennen, ich bin wie ein Wackelpudding, sagen die.«

»Aber Mia …«

»Halt, ich hab’s!«, unterbrach Mia sie. »Ab heute«, verkündete sie, »will ich auf Schokolade, Gummibärchen und saure Zungen verzichten!«

Mias Mutter war der Unterkiefer heruntergeklappt.

Mia jedoch war schon in der Küche verschwunden. Eine halbe Minute später kam sie mit einem Apfel und zwei Scheiben Brot zurück. Dazu trank sie einen Multivitamin-Drink.

Am Abend gab es Spinat mit Kartoffeln. Mia haute rein, und so ging es weiter. Auf die vielen verlockenden Leckereien zu verzichten, schien fast unmöglich.

Bereits nach einer Woche kam Mias Mutter nach Hause und sah sie vor einer halb leeren Tüte Gummibärchen.

»Nanu?«, fragte die Mutter, »Du wolltest doch …«

»Jaja, ich weiß«, sagte Mia. »Aber das bringt’s irgendwie nicht.«

»Hmh. Dann war das wohl nicht der richtige Schritt.«

»Was kann ich denn noch tun?«, fragte Mia verzweifelt.

»Wie wär’s mit Training?«, schlug Mias Mutter vor, »Lauftraining meine ich.«

Mia murmelte: »Hmh, meinst du wirklich?«

Ihre Mutter nickte.

»Okay, ich versuch’s.«

Und sie fing gleich damit an. Sie rannte, sprang Seilchen und schwamm ein paar Bahnen.

Ufff … das …‹, dachte Mia, ›… war wohl auch nicht der richtige Schritt gewesen …‹

Am siebten Tag beim Mittagessen rief Mias Großmutter an und fragte, ob Mia Lust hätte, morgen mit ihr in den Zoo zu gehen. Mia hatte Lust, und so packte sie bereits am Abend ihren Rucksack: eine Kamera, Proviant (Süßigkeiten) und Malzeug. Malen war nämlich Mias große Leidenschaft, und zwei ihrer Bilder hatten auch schon einmal einen Preis gewonnen.

Am nächsten Morgen kam Mias Oma zum Abholen.

Im Zoo waren sehr viele Menschen. Vor einem der Gehege stand eine Riesenmenge. Mia drängelte sich vor, bis sie besser sehen konnte: »Südkoreanisches Nashorn, Herkunft: Südkorea, Art: Pflanzenfresser« stand auf einem Schild. Ein großes, plumpes, breites Tier mit einem gewaltigen Horn an der Nase stand unter einem Baum und kaute an etwas Grünem. ›Das ist toll‹, dachte Mia, ›das will ich malen.‹ Sie sagte ihrer Großmutter Bescheid und fing an.

Nach einer Weile drehte sich das Nashorn um und trottete gemächlich zum Stall hinüber. Mia sah von ihrem Malblock auf. Sie sah, dass das Tier ganz langsam ging, fast wie in Zeitlupe.

Hmh‹, dachte Mia, ›dieses Nashorn ist langsam und dick und schwer – trotzdem interessieren sich total viele Leute dafür.‹

Plötzlich kam ein Tierpfleger. In einer Hand trug er einen großen Eimer. Er öffnete die Käfigtür – da rannte das Nashorn urplötzlich auf ihn zu! Von Panik gepackt, schüttete er das Futter aus, warf den Eimer auf den Boden und rannte davon.

Manche Leute hatten sich sehr erschrocken, andere murmelten respektvoll.

Mia malte das Bild zu Ende, und dann gingen sie weiter.

Wenig später kamen sie wieder zu einem Käfig, vor dem viele Leute standen.

Durch eine Lücke in der Menge erkannte sie etwas Riesengroßes mit langen, dürren Beinen und einem gigantischen Hals: eine Giraffe. Abermals schnappte Mia sich ihr Malzeug und legte los.

So ein Hals ist eigentlich doch ganz schön praktisch‹, dachte Mia nach einer Weile. ›Sieht zwar komisch aus, aber man kommt immer ganz nach oben und kann viel sehen.‹

Und auch die Giraffe war unendlich langsam. Als Mia gerade den letzten Strich gemalt hatte, trottete das lange Tier gemächlich in Richtung Stall, ohne jede Eile. Mia sah noch zu, wie es mit Bananen gefüttert wurde, dann gingen sie weiter.

Bald kamen sie zu einem See. Ringsherum standen wieder viele Besucher. Mia drängelte sich nach vorne durch, um etwas sehen zu können. Ein großes, dickes, braunes und flaumiges »Fellknäuel« lag am breiten Ufer, nicht weit vom Gitter entfernt. Als sich das »Knäuel« regte, erkannte Mia einen großen, dicken Bären. Plump und träge erhob er sich und bewegte sich in Richtung See. Dort angekommen, stürzte er sich auf einmal gemütlich ins Wasser.

Was für ein Gewicht! Riesige Wassermassen spritzten auf – den Bären störte das überhaupt nicht.

Mia malte den Dickhäuter, und irgendwann kam ein Tierpfleger. Als er den Käfig betrat, kam der Bär aus dem Wasser und bewegte sich langsam und knurrend auf den Wärter zu. Dort angekommen, begann er aus vollem Hals zu brüllen. Die Menschenmenge um den Käfig herum wich einen Schritt zurück. Der Wärter jedoch schüttete lässig Futter in den Trog und schlenderte, als sei alles ganz normal, aus dem Gehege.

In der Abteilung »Wüste« war auch viel los. Vor dem Kamel-Käfig stand eine Menschentraube.

»Schau mal, in den Höckern hat das Kamel ganz viel Wasser gespeichert!«, erklärte eine Mutter gerade ihrem Kind.

»Die sehen aber komisch aus«, hörte Mia. Und: »… in der Lücke zwischen den beiden Höckern kann man aber prima sitzen! Vorn hält man sich fest, und hinten kann man sich anlehnen.« Dies kam von einem Mädchen in Mias Alter.

Mia erhaschte jetzt endlich auch einen Blick auf das Kamel. Es war groß und irgendwie wackelig und tollpatschig.

Mia zog ihren Malblock hervor, auf dem sie nun schon das Nashorn, die Giraffe und den Bären abgebildet hatte.

Das Kamel kam jetzt auch noch dazu. Leider setzte sich das Tier nach einer Weile schwankend in Bewegung – langsam und ungelenk wie die anderen Lieblingstiere der Zoobesucher. Das Trampeltier trottete zum Stall und legte sich sofort ins Stroh – ja, es klappte sich fast zusammen! Das gefiel Mia besonders.

Als Mia am Abend wieder zu Hause war, fühlte sie sich richtig glücklich. Sie erzählte ihrer Mutter vom Zoo und zeigte ihr die Bilder. Und am meisten erzählte sie natürlich von den dicken, langsamen, tollpatschigen Tieren.

Am nächsten Tag war wieder Sport. Und Wettrennen.

Doch diesmal war alles ganz anders. Als sie mal wieder die Hänseleien hörte (was nicht ausblieb, natürlich), dachte sie einfach an die Giraffe, reckte unmerklich ihren Hals und fühlte sich ein klein wenig größer. Sie brummte, kaum hörbar, aber gut zu spüren, wie der dicke Bär und war plötzlich stark. Sie reckte ein klein wenig ihre Nase, während sie an das gepolsterte Nashorn dachte und ließ die Gemeinheiten links und rechts daran vorbeifliegen.

Ein großer Schritt – und am Ende der Sportstunde fühlte sie sich richtig gut.

Und sie wusste, dass die nächsten Sportstunden viel besser sein würden.