Nadjeschda Ihlenfeld (11)
Eine Geschichte über die Vergänglichkeit des Momentes
Emilje zog sich ihre Decke bis über die Augen. Er hatte bereits das Lämpchen auf ihrem Nachttisch angeknipst. Die Helligkeit störte sie. Bis vor ein paar Sekunden hatte sie noch geschlafen. Doch es half nichts mehr. Emilje wusste, dass sie nun nicht mehr einschlafen würde. Sie schlug ihre Decke zur Seite und schaute ihren Vater an.
»Guten Morgen«, sagte er.
»Guten Morgen«, sagte sie ihrerseits.
Eine kleine Weile herrschte Stille zwischen den beiden. Emilje musste erst einmal richtig wach werden, und ihr Vater wusste das.
Nach einer Weile fragte sie ihn: »Warum hasst du mich eigentlich heute so früh geweckt?«
Er lächelte. »Habe ich dir nicht versprochen, mit dir einen Ausflug zu machen? Dafür kann man nicht früh genug aufstehen. Du weißt doch, bis wir endlich startbereit sind … Außerdem ist es doch besser, wenn wir für unser Unternehmen den ganzen Tag Zeit haben.«
Emilje freute sich sehr. Sie fragte nicht, wohin es wohl ginge, denn eines wusste sie genau: Wenn ihr Vater etwas mit ihr vorhatte, wurde es wunderschön, egal, was er sich auch immer ausgedacht hatte. Er erhob sich von der Bettkante, auf der er gesessen hatte, und verließ Emiljes Zimmer. »Ich mach’ Frühstück«, sagte er noch, bevor er sich in die Küche zurückzog. Emilje gähnte noch einmal herzhaft und betrachtete ihr Zimmer. Seit ihre Eltern getrennt waren, bewohnte ihr Vater das Haus seiner Mutter. Sie und sein eigener Vater lebten schon lange in der Schweiz. Warum, wusste Emilje nicht. Auf jeden Fall war dieses Haus sehr schön, seit es ihr Vater etwas renoviert hatte. Er hatte für sie ein eigenes Zimmer eingerichtet, denn Emilje kam dreimal in der Woche zu ihm. Sie kam freitags nach der Schule und blieb bis Sonntagabend. Wenn sie dann vor der Haustür stand, dachte sie manchmal, dass sie die Trennung ihrer Eltern nie ganz verkraften würde. Sie war zwar schon zwölf Jahre alt und konnte nicht wissen, ob sich in der Zukunft etwas daran ändern würde, aber immerhin waren ihre Eltern nun schon seit fast vier Jahren geschieden.
Emilje stand auf und zog sich an. Sie stellte sich vor den Spiegel, der an ihrem kleinen Kleiderschrank hing, und bürstete ihr langes, braunes Haar. Während sie das tat, versuchte sie mit ihren grünen Augen zu schielen. Noch nie war es ihr gelungen, wie auch jetzt. Sie legte die Bürste beiseite und betrachtete ihren schlanken Körper im Spiegel. Sie verzerrte ihr Gesicht zu Grimassen und verzog stark ihren schmalen Mund.
»Was machst du denn da?« Es war Emiljes Vater.
»Äh, nichts.« Verlegen öffnete sie die Schranktür und tat so, als würde sie im Schrank etwas suchen.
»Du kannst jetzt übrigens frühstücken kommen«, sagte er.
Sobald sie sich an den Tisch gesetzt hatte, bekam sie Rührei serviert.
»Wie fühlst du dich heute?«, fragte ihr Vater.
»Gut«, antwortete Emilje wahrheitsgemäß, »und du?«
»Auch gut«, antwortete ihr Vater und strahlte sie an.
Als sie ihr Frühstück beendet hatten, sollte es gleich losgehen. Sie zogen ihre Schuhe an und auch ihre Jacken, denn man spürte schon deutlich, dass der Herbst begonnen hatte. Gerade wollten sie das Haus verlassen, da kramte Emiljes Vater in seinen Taschen und sagte zu ihr: »Ich merk’ grad’, dass ich den Eingangstürschlüssel in der blauen Komode vergessen hab’. Sei doch bitte so lieb und hol ihn mir, ja?«
Emilje lief ins Wohnzimmer und zog die erste Schublade aus der Komode, aber da lag der Schlüssel nicht. Sie zog die zweite hervor, und da war er. Sie nahm ihn heraus. Er lag auf einem umgedrehten Foto. Auch das nahm sie heraus und betrachtete es. Es zeigte sie als Vierjährige auf den Armen ihrer Mutter, die von ihrem Vater umarmt wurde. Bei diesem Anblick verspürte Emilje einen kleinen, aber starken Stich in ihrem Herzen. Wie oft hatte sie sich schon gewünscht, dass alles wieder so werden sollte wie früher! Sie betrachtete ihren Vater auf dem Foto. Er sah so glücklich und fröhlich aus. So, wie er sich immer noch gab. Aber Emilje wusste, dass es nicht so war. Schließlich sah er seine eigene Tochter nur dreimal in der Woche. Das war wenig. Viel zu wenig für den leiblichen Vater, der seine Tochter liebte, einen guten Vater abgeben wollte, der für sein Kind da sein wollte. Eines Tages würde alles wieder gut werden. »Es muss gut werden«, dachte Emilje bitter. Sie steckte den Schlüssel in ihre Hosentasche, schmiss das Foto zurück in die Schublade und stieß diese heftig zu. Am schlimmsten war es, dass niemand sie verstand. Alle dachten nur, dass es ein nerviges Problem sein musste, sogar ihre beste Freundin. Emilje wusste, nur der konnte wissen, wie es war, der es selbst erlebt hatte. Sie ging die kleine Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Wo war ihr Vater? »Papa?«, sagte sie. Warum hatte er nicht gewartet? »Papa, ich bin wieder da«, rief sie ärgerlich. Wahrscheinlich war er schon vorgegangen.
Die Hauptstraße, die durch diesen Ort führte, war nur ein paar Meter entfernt. An dem cremefarbenen und an dem weißen Haus mit dem großen Garten vorbei und dann um die Ecke nach oben. Nur ein paar Meter, ein paar Schritte … Emilje lief los. Da stand Papas Auto! Der Motor lief, die Fahrertür war angelehnt. Doch was war das? Auf der Straße schien etwas vor sich herzugehen. Da war ein Gefühl. Ein Gefühl, das nicht zu beschreiben war. Ein Gefühl, wie es noch nie da gewesen war. Sie rannte. Nur noch um die Ecke, dann – Emilje stand ganz still, als sie es sah, den Bruchteil einer Sekunde lang. Ein großes Auto. Ein Mensch, aus weißem Marmor gemeißelt. Ihre Bewegungen wurden steif, und jeder einzelne Schritt raubte ihr eine Menge Kraft. Sie ging langsam um das Auto herum. Und da lag er. Die Augen verdreht, mit dem Oberkörper in einer langsam größer werdenden Blutlache liegend. Sie wusste, nichts würde mehr helfen. Nein, sie wusste nichts, überhaupt nichts. Sie ließ sich vor seinem Körper auf die Straße fallen. Sein Körper war noch warm, seine Jacke zerrissen. »Papa.« Sie drückte seine Hand. »Sag was! Mach was! Bitte, Papa«, schrie sie. Schon längst war ihr Gesicht tränennass. Die Tränen fielen vom Gesicht und vermischten sich mit dem Blut. Und die Hysterie nahm von ihrem Körper Besitz. »Papa, Papa«, schrie sie immer aufs Neue. »Warum du? Warum? Bitte, steh auf …« Emilje schluchzte und schaute zum grauen Himmel empor. Es würde bald regnen. Noch immer hielt sie die Hand ihres Vaters umklammert und drückte sie an ihre Wange. Ihr Atem ging sehr schnell. Sie sah noch das hässliche, hässliche große Auto und die hässliche, hässliche Person, die davor stand, dann war alles weg, und sie wurde ohnmächtig.
Emilje erwachte. Sie befand sich im Bett ihrer Mutter. Ihre Mutter saß mit fassungslosem, entsetztem Gesichtsausdruck und roten Augen neben ihr. Da war noch jemand. Auf Stühlen saßen zwei Ärzte und ein Polizist. Sie unterhielten sich mit ihrer Mutter. Der Polizist war immer noch ernst dabei, ihr genau das Geschehene zu schildern. Währenddessen stellte Emilje fest, dass die Ärzte sie untersucht haben mussten oder etwas in der Art, denn auf dem Nachttisch neben ihr standen ein paar kleine Geräte und Fläschchen. Es ging ihr in der Tat nicht gut. Sie hatte starke Kopfschmerzen, und ihr Magen schien sich um seine eigene Achse zu drehen. Wahrscheinlich würde sie sich irgendwann übergeben müssen.
Egal, das war nun gleichgültig. Es hatte sowieso alles seinen Wert verloren. Wie immer in die Schule zu gehen, das war unvorstellbar. Sie würde sich nie, nie mehr in den Alltag einleben können. Wollen. Warum war das ihr Schicksal? Warum hatte es sie treffen müssen? Wo es doch so viele andere Menschen auf der Welt gab, die viel Schlimmeres verdient hätten. Wie war es überhaupt passiert? Es war sicher nur um Sekunden gegangen. Und um Schritte. Es hätte einer der wunderschönen Tage voller Erinnerungen werden können. Doch nun würde sie nie erfahren, wohin ihr Vater mit ihr hatte fahren wollen. Und nun war er weg. Einfach weg. Ausgelöscht. Wo war er eigentlich? Sie würden seinen Körper herrichten und begraben, und sie würde das Grab hegen und pflegen, wann immer sie nur konnte. Bei dem Gedanken, wie er geschrien und eine Qual erlebt haben musste, während sie sich im Haus befunden hatte und über ein Foto nachgedacht hatte, trieb ihr sofort wieder Tränen ins Gesicht. Und sie hatte gehofft, dass alles wieder gut werden würde. Pah! Es war alles schlecht geworden, und es würde nur noch schlechter werden. Es gab so vieles, was sie noch mit ihm hätte machen können, was sie ihn noch hätte fragen können, bei dem er ihr hätte beistehen und sie unterstützen müssen. Sachen, die nur Väter beherrschten, Sachen, die Mütter nicht konnten. Mütter.
Emilje drehte sich langsam auf die Seite und betrachtete ihre Mutter. Immer noch redeten die Ärzte und der Polizist mit ihr. Alles nur bescheuertes Geschwätz, das sowieso nichts mehr half. Nun gab es nur noch sie, Mama. Ihr schulterlanges braunes gelocktes Haar hing ihr ums Gesicht, nicht wie normalerweise zum Zopf zusammengebunden. Sie musste sich mehrmals mit der Hand durchs Haar gefahren sein. Etwas Unerklärbares ging von ihr aus. Emilje war so glücklich, sie zu sehen, wie sie es noch nie zuvor gewesen war. Sie wollte sie berühren, schauen, ob sie wirklich existierte.
»Mama«, sagte Emilje.
Ihre Mutter drehte sich um. Schon lange hatte sie den drei Personen nicht mehr zugehört. »Mein Schatz«, flüsterte sie, und nahm Emilje in ihre warmen, schützenden Arme.
Es gab jemanden, der immer für sie da sein würde. Das Leben würde weitergehen …