Anton Deicher (10)

Der Geheimbund

Hallo, ich heiße Bernhard Hindelber und wohne in der Kotitschgasse. Ich habe viele Freunde. Mein bester Freund heißt Andreas Karre, er wohnt zwei Häuser neben mir. Eines Tages gründeten Andreas und Tobias, ein anderer Freund aus meiner Klasse, eine Bande. Sie wollten Christian, den die beiden überhaupt nicht mochten, eins auswischen! Auch ich mochte Christian nicht besonders, fand es aber etwas übertrieben, ihm deshalb eins auszuwischen. Ich war daher nicht begeistert von diesem Vorschlag, aber bei einer Bande, die mein bester Freund gegründet hatte, wollte ich natürlich dabei sein.
Am folgenden Nachmittag trafen wir uns bei Tobias zu Hause. Seine Mutter hatte einen Teller mit leckeren Keksen und Broten für uns in sein Zimmer gestellt.
Tobias begann das Gespräch: »Heute gründen wir unsere Geheimbande, jedes Bandenmitglied ist zu allerhöchster Verschwiegenheit verpflichtet. Wir sind ein Geheimbund, einverstanden?«
»Na klar«, antworteten Andi und ich.
»Was können wir machen?«, fragte Andi.
»Also, Christian nervt, das ist mal klar«, begann Tobias, »Ihr kennt doch das steile Stück auf dem Schulweg, wo es fast senkrecht hinuntergeht. Und gleich danach kommt die starke Kurve. Dort fährt Christian immer mit dem Fahrrad entlang. Wenn wir in dieser Kurve Sand streuen, rutscht er auf dem Weg zur Schule bestimmt aus.«
»Klasse Idee!«, antwortete Andreas, »Wir treffen uns morgen früh dort. Ich bringe den Sand mit.«
»Wir müssen um kurz vor acht dort sein, sonst verpassen wir das Läuten der Schulglocke«, sagte Tobias schließlich.
Tobias’ Vorschlag begeisterte mich nicht wirklich und ich hoffte ein wenig, dass Andreas gar keinen Sand auftreiben würde.
Aber ich sagte nichts. »Geheim ist schließlich geheim«, dachte ich mir, und wir verabschiedeten uns.
Am Abend im Bett überlegte ich mir das Ganze noch einmal. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich Christian wäre. »Eigentlich ist es unfair. Christian hat uns doch gar nichts getan.« In dieser Nacht konnte ich fast nicht schlafen. Als der Wecker in der Früh rasselte, schreckte ich auf.
»Bernhard, aufstehen!« Das war meine Mutter.
Verschlafen öffnete ich die Augen: »Wie spät ist es?«
»Es ist Viertel nach sieben, Bernhard«, antwortete meine Mutter.
Erschrocken sprang ich aus dem Bett, zog mich blitzschnell an, steckte meine Jause ein und rannte los. Als ich bei der Stelle ankam, an welcher wir uns verabredet hatten, warteten Andi und Tobias schon auf mich. Sofort sah ich, dass Andi den Sand tatsächlich mitgebracht hatte. Ich wunderte mich: »Woher hat er denn den Sand?« Schnell schütteten Andi und Tobias den Sand in die Kurve und wir versteckten uns hinter einem nahen Gebüsch. Gerade als der letzte Fuß unter das Gebüsch gezogen war, sauste Christian den Hang hinunter. Er schoss auf den Sand zu. Im nächsten Moment rutschte er aus und schürfte sich beide Knie auf, genau wie Andi es vorausgesagt hatte. Entsetzt sah ich, wie Christian vor Schmerz die Tränen in die Augen traten.
Wir rannten, so schnell wir konnten, und kamen gerade noch vor dem Läuten in der Schule an. In der Zehnuhrpause traf ich mich mit Andi und Tobias auf der Toilette, wo uns niemand belauschen würde.
»Das hat wirklich gut geklappt, heute Morgen. Findet ihr nicht auch?«
Andi antwortete: »Ja!«
Ich zögerte einen Moment, denn eigentlich fand ich ›Nein‹, aber ich wollte unsere Freundschaft nicht gefährden. So sagte ich ebenfalls: »Ja.«
»So etwas können wir noch einmal machen«, fügte Tobias noch hinzu. »Treffen wir uns morgen Nachmittag wieder bei mir.«
Auf dem Heimweg beschloss ich, Christian zu warnen und ihm die ganze Geschichte zu erzählen, auch wenn Tobias mich aus seiner geheimen Bande ausschließen würde! Ich fand es einfach unfair. Sollten wir doch erst einmal mit ihm sprechen.
Am Nachmittag des nächsten Tages klingelte ich ein zweites Mal an der Haustüre von Tobias.
Tobias öffnete mir. Kurz darauf kam Andi. Und mit ihm kamen noch Ferdinand und Paul.
Andi erklärte Tobias: »Ich habe gedacht, dass wir die beiden in unseren Geheimbund aufnehmen könnten.«
»Na gut«, antwortete Tobias. »Vielleicht haben sie ja auch noch gute Einfälle, wie wir Christian eins auswischen können.«
Als alle um den kleinen Tisch in Tobias’ Zimmer versammelt waren, begann Andi feierlich, Ferdinand und Paul einzuweihen: »Ihr wisst, was der Zweck unserer geheimen Bande ist. Wenn ihr mitmachen wollt, sprecht mir den Schwur nach: Hiermit schwöre ich …«
Die beiden sprachen ihm nach: »Hiermit schwöre ich …«
»… dass ich Christian nichts von dieser Bande erzählen werde«, sagte Andi.
»… dass ich Christian nichts von dieser Bande erzählen werde«, brachten Ferdinand und Paul ihren Schwur zu Ende.
Ich war froh, keinen Schwur leisten zu müssen.
»So, nun seid ihr in unserer Bande aufgenommen. Aber jetzt helft uns einen Plan zu finden, mit dem wir Christian austricksen können«, sagte Tobias.
Es entstand eine kurze Pause. Alle dachten nach und ich war kurz davor, den anderen meine Bedenken kundzutun.
Da rief Ferdinand: »Ich habe es! Wir nehmen heimlich einen kleinen Nagel mit in die Schule. Dann, in einer Pause, schleichen wir zu seinem Fahrrad und stechen ein Loch in den Reifen. Er wird sich sicher furchtbar ärgern.«
»Gute Idee«, fanden auch Andi und Paul.
Das fand ich überhaupt nicht. Es war wieder eine hundsgemeine, feige Idee. Aber ich sagte noch immer nichts.
Wir verabredeten, uns am nächsten Tag in der Zwölfuhrpause bei den Fahrradständern auf dem Schulhof zu treffen. Ich versprach, den Nagel mitzunehmen.
Am nächsten Morgen, noch vor dem Läuten der Schulglocke, sah ich Christian. Er hatte drei große Pflaster. Eines am Arm und zwei an den Knien. »Der Arme«, dachte ich.
Als Andi und Tobias ihn so sahen, lachten sie und spotteten sogar über ihn: »Ja, schau dir den Christian an. Er ist wieder einmal gestürzt.«
Die Kinder, die bei Andi und Tobias standen, lachten mit ihnen. Nur ich lachte nicht.
Christian tauchte schnell in der Schülermenge unter. Kurz nach dem Läuten sah ich ihn noch einmal. Er stand in einer dunklen Ecke und war den Tränen nahe. Ich ging zu ihm.
»Hey, Christian. Tut es noch weh?«, fragte ich.
»Was soll mir wehtun?«, antwortete er mir kurz und wollte sich schon abwenden.
»Weißt du eigentlich, wer dir den Sand in die Kurve geschüttet hat?«, fragte ich schnell. Nun war es heraus.
»Welchen Sand? Nein, keine Ahnung. Wer war es?«
»Okay, ich erzähle dir die ganze Geschichte«, platzte ich heraus und begann. Ich berichtete von dem Geheimbund, unseren Treffen, den neuen Mitgliedern und unseren Plänen.
Als ich fertig erzählt hatte, fragte er: »Warum hast du mir das jetzt erzählt?«
»Weil ich das Ganze unfair finde. Und wehgetan hat es sicher auch.«
Christian sah mich an. »Danke, dass du mir euer Geheimnis verraten hast. Jetzt kann ich vielleicht noch mein Fahrrad vor den anderen retten. Hättest du mir das nicht gesagt, hätte bald mein neues Fahrrad einen Platten.«
In der Zwölfuhrpause trafen Andi, Tobias, Ferdinand, Paul und ich uns auf dem Gang. Wir schlenderten über den Schulhof zu den Fahrradständern. Gerade als wir uns zu Christians Fahrrad hockten, kam er auf uns zugerannt. Schnell standen wir auf und taten so, als ob wir uns sehr für sein neues Fahrrad interessierten.
»Hey, was habt ihr bei meinem Fahrrad zu suchen? Geht da weg«, rief Christian.
In diesem Moment klingelte es zur Stunde. Wir zerstreuten uns und bald saß jeder in seiner Klasse. »Gut, dass Christian alle bei seinem Fahrrad gesehen hat«, dachte ich mir, »jetzt wird sich keiner mehr trauen, ein Loch in den Reifen zu stechen.«
Zwei Tage später besuchte ich Tobias am Nachmittag. Das Telefon läutete und seine Mutter rief kurz darauf: »Tobias, Telefon«, und übergab ihm den Hörer.
Die Person am anderen Ende der Leitung sprach so laut, dass wir verstehen konnten, was sie sagte: »Hallo Tobias, hier spricht Christian.«
Tobias stutzte kurz. »Christian, du, mit dir hätte ich nicht gerechnet! Warum rufst du an?«
»Ich wollte mich mit euch versöhnen!«
»Haben wir uns denn gestritten?«, fragte Tobias.
»Nein, aber ihr habt doch etwas gegen mich. Zum Beispiel habt ihr mir Sand in die Kurve gestreut.«
Tobias wusste nicht, was er antworten sollte, er war verlegen.
Ich versuchte, ihm nicht in die Augen zu sehen, schließlich hatte ich ja den Geheimbund verraten.
»Vielleicht könnten wir uns morgen bei mir treffen?«, hörte ich Christian fragen.
Tobias wurde rot im Gesicht. »Äh, ja, von mir aus schon«, antwortete Tobias verwirrt.
»Okay, dann sehen wir uns morgen«, beendete Christian das Gespräch.
Seit diesem Tag gehörte Christian zu uns und niemand hat mehr von dem Geheimbund gesprochen.