Alexander Hendrik Wilkens (13)

Mutprobe

Schon immer wollte Mark dazugehören. Ihm gefiel es, mit der Clique aus seiner Schule an Straßenecken zu stehen, zu rauchen und vorbeifahrende Autos mit Steinen zu bewerfen. Der Anführer der Gruppe war der riesige Hannes. Er konnte sich überall durchsetzen und führte die Clique von einer Sachbeschädigung zur nächsten.

Anton, einer der gefürchtetsten Schüler der Hamburger Hauptschule, gehörte ebenfalls dazu. Ihm ging man besser aus dem Weg, wenn er durch die Schule schritt und es wie immer auf eine Schlägerei anlegte.

Der dritte war der kleinwüchsige Jim. Er war meistens der Erste, der bei einem vorbeifahrenden Auto zum Stein griff.

Mark wollte immer in der Clique sein. Als er eine der vielen Mutproben bestanden hatte, wie Autos zu zerkratzen, zu stehlen oder irgendwelche Feuerspiele, wurde er endlich mit seinen 14 Jahren aufgenommen. Stundenlang waren sie in Hamburg mit Hammer und Steinen durch die dunklen Straßen gezogen, hatten Autos beschädigt und Fensterscheiben eingeworfen. Manchmal hatten sie in billigen Geschäften Alkohol und Zigaretten gestohlen und kleine Kinder auf der Straße herumgeschubst.

An einem dieser vielen Abende grunzte Hannes: »Ey, Mark, das war doch ’ne geile Tour, oder?«

Mark roch seinen stinkenden Atem und wich automatisch zurück. »Ja, ne!«, antwortete er in Hamburger Slang.

»Lust auf mehr?«, fragte Hannes. »Komm schon, gehen wir mal in eines der Reichenviertel.«

Jim starrte den Anführer ihrer Clique mit glasigem Blick an. Doch auch er hatte nichts dagegen, und so bogen die vier Gestalten, dreckig und abgerissen, in die Elbchaussee ab.

»Hoffentlich merken meine Eltern nichts …«, murmelte Mark.

»Ach was, die haben sich wahrscheinlich beide wieder voll laufen lassen. Nachdem, was du uns alles über sie erzählt hast!«

In diesem Stadtteil war es vergleichsweise hell, denn die Laternen funktionierten hier. In der Nähe schlug eine Kirchturmuhr. Dichter Nebel umhüllte die Clique, von den lauten Stimmen aufgeschreckt, huschte eine schwarze Katze über die Straße.

Mark schaute sich unruhig um. »Leute, ich hab irgendwie das Gefühl, dass wir hier nicht sein sollten«, murmelte er Anton zu.

»Mann, ey! ’Türlich sollten wir hier sein«, entgegnete Anton, »oder hast du Schiss, oder was?«, fügte er mit einem hämischen Grinsen hinzu.

Mark ignorierte seine Furcht und sagte: »Was, ich?« Er brachte ein unsicheres Lachen zustande. »Ich doch nicht. Kommt schon, hier sind genug Autos …«

Hannes schaute auf die teuren Autos zwischen den noblen, geräumigen Villen. »Tja, warum nicht? Mark, du gehst vor!« Ohne auf eine Antwort zu warten, schubste er ihn nach vorne. »Schau dir doch mal diese prächtige Limousine an, die dort drüben an der Ecke steht. Lass mal den Hammer ein paar Mal draufkrachen!«

Mark bemerkte sofort, dass dieses wunderschöne Fahrzeug zu der nicht minder schönen, großen Villa im Hintergrund gehörte. Zögernd ging er auf das Auto zu und schwang angeberisch den Vorschlaghammer. Wenn nur keiner bemerkte, wie ihm die Knie schlotterten.

Er holte aus, als Hannes rief: »Stopp, warte! Warte! Wir müssen mal etwas Abwechslungsreiches machen.«

Mark ließ den Hammer sinken. Erleichterung überkam ihn. Er musste kein Auto zertrümmern.

Dankbar wollte er gen Himmel blicken, aber Hannes sprach schon weiter: »Ich schlage vor, dass wir zur Abwechslung mal eine Villa besichtigen. Bin gespannt, wie die Reichen wohnen …«

Anton stimmte ihm begeistert zu. »Ja, lasst uns eine Besichtigung vornehmen. Los, ’rein da!«

Jetzt mischte sich auch Jim ein. »Gut, aber wenn wir weiter so laut ’rumgrölen, wachen die reichen Snobs noch auf. Legen wir mal los!«

Er gab Anton einen Stoß in den Rücken, der mit einem Grunzen taumelte. Hannes, Jim und Anton schlichen zu einem der Fenster, Mark zögernd hinterher. Hannes warf einen Blick in das Haus.

»Ey boah, schaut euch das mal an, alles weiß und golden, und so nobel!«

Tatsächlich, als Mark sich vergewisserte, sah er in der Wohnung, die einem Palast glich, elegante weiße Möbel, Statuen und goldlackierte Tische. So viel Luxus kannte er nicht. Und seine Eltern mussten immer einige Stunden arbeiten, bevor sie genug Geld beisammen hatten, um ihren Alkohol zu kaufen. Dann tranken sie für den Rest der Nacht und wachten am nächsten Morgen so schlecht gelaunt auf, dass sie ihren Frust gleich an Mark ausließen.

»Los, ’rein da!«, drängte Jim, der als der kleinste der Clique nicht durch das Fenster schauen konnte.

Hannes widersprach: »Du bleibst eh draußen und stehst Schmiere. Natürlich werden wir uns bei dieser schönen Besichtigung auch einige Andenken mitbringen. Aber Mark öffnet erst einmal das Fenster.«

Die drei Jungs blickten Mark auffordernd an, er fühlte seine Fassade unter ihren Blicken bröckeln und hatte das Gefühl, dass sie jeden einzelnen seiner Gedanken lesen konnten, dabei hatten sie sogar schon Schwierigkeiten, ein Buch zu lesen. Im Gegensatz zu Mark hatten sie sich nie Mühe gegeben, das Alphabet richtig zu lernen. Sie waren schon zufrieden, wenn sie ihre billigen Zigaretten hatten. Wie im Traum drehte Mark sich zur Fensterscheibe und hob den schweren Hammer. Dann zerschmetterte er mit einem ohrenbetäubenden Krachen die Scheibe. Kurze Zeit lauschten sie, aber hörten nur einen Hund in der Ferne kläffen.

»Die Beute teilen wir uns natürlich!«, hörte er die Stimme von Jim hinter sich.

Dann stieg er etwas unbeholfen ein.

So etwas wie das Innere der Villa hatte er noch nie gesehen. Wenn es einen Himmel gab, würde es dort mit Sicherheit so aussehen wie hier. Nur leider würde er mit einer solchen Tat nicht in den Himmel kommen. Hinter ihm folgten geschickt Hannes und Anton, sie hatten anscheinend Erfahrung.

Das Innere der Villa war in mehrere große Räume aufgeteilt. Sie befanden sich anscheinend im Hauptraum, denn er war groß und prachtvoll. Zur linken erstreckte sich ein kleines Vorzimmer zur Eingangshalle, welche mit mehreren Säulen geschmückt und mit Marmor gefliest war. Rechts konnte man eine luxuriöse Küche erkennen mit einer Art Aufzug, in der man wahrscheinlich das schmutzige Geschirr in die Hauptküche schicken konnte, damit es dort gewaschen würde. Eine Tür führte anscheinend in die Schlafräume oder irgendwelche Kammern. Überall hingen wertvolle gestickte Teppiche, und sogar ein kleiner Springbrunnen stand in der Mitte des Raumes und plätscherte beruhigend vor sich hin. Auf ihm stand eine Statue in Positur, ein kleiner, weißer Engel mit Pfeil und Bogen. Mark wusste nicht, was er darstellen sollte.

Ein Rascheln hinter ihm löste Mark aus seiner Erstarrung. Durch das Fenster wurde ein Sack gereicht, und Hannes nahm ihn entgegen. Der Anführer ging mit dem Sack in Richtung Eingangshalle, während Anton sich im Hauptzimmer umblickte. Der weiße Teppich schluckte jedes Geräusch. Nun bewegte sich auch Mark, er ging auf eine schwarze Eichenholztür zu, öffnete sie leise und blickte in die Dunkelheit. Er hörte jemanden heftig atmen. Als er die Tür einen Spalt weiter öffnete, fiel ein Lichtstrahl auf das angstverzerrte Gesicht eines alten Menschen. Er atmete schnell. Eine Weile starrten Mark und der fremde Mann sich an. Dann schloss er die Tür hastig wieder. Draußen rannte er in die Richtung, in die Hannes gegangen war. Doch plötzlich stolperte er über eine Falte im Teppich und stürzte einer großen Vase entgegen. Mit einem ohrenbetäubenden Splittern stürzte sie zu Boden. Aus einem Schatten stürzte sich eine schwarze Gestalt auf ihn und schlug ihn brutal zu Boden.

»Bist du verrückt geworden, Junge?«, raunte Anton ihm zu.

»Da drüben ist ein Mann … und er hat uns gehört!«

»Na, jetzt auf jeden Fall.« Anton blickte sich gehetzt um. »Hör zu, während Hannes und ich hier abräumen, passt du auf, dass der alte Knacker nicht aus dem Zimmer kommt und uns überrascht, okay? Hier.«

Was Mark jetzt in der Hand fühlte, etwas Schweres, das gut in der Hand lag, erschreckte ihn zutiefst. Es war ein Revolver. Mark starrte Anton entsetzt an.

»Wenn jemand kommt, schießt du auf ihn, verstanden?«

Mark nickte benommen, obwohl er lieber hinausgerannt wäre. Er richtete die Waffe auf die Tür, ohne zu glauben, was er da tat. Er war im Begriff, den ersten, der aus dieser Tür kam, niederzuschießen. Einige Meter entfernt hörte er ein Rascheln, er drehte den Kopf, um zu sehen, doch es war zu dunkel. Er blickte genauer hin und sah, dass Hannes eine Kommode geknackt hatte und jetzt fleißig Schmuck in den Sack steckte. Mark fragte sich, wie der Anführer diese Beute zu Geld machen würde. Hannes hatte zwar oft geprahlt, dass er gute Verbindungen habe, aber richtig ernst genommen hatte er ihn nie. Mark sah nur wenige Sekunden zu, aber das war genug.

Die Tür öffnete sich ruckartig, eine Gestalt im Pyjama sprang hervor und jemand schlug ihn zum zweiten Mal an diesem Abend zu Boden. Benommen von diesem Angriff drückte er den Zünder ab. Ein lauter Knall, die Kugel steckte im Boden. Anton fuhr herum, aber der Fremde hatte plötzlich ein Gewehr im Anschlag und zielte abwechselnd auf Mark, dann auf Anton. Doch nach einigen Augenblicken zeigte sich Verwirrung auf seinem Gesicht. Mit Jugendlichen hatte er wohl nicht gerechnet. Überraschend zerbarst auf seinem Kopf eine kleine, weiße Statue. Der Mann sackte auf seinem Teppich zusammen. Hannes stand über ihm, die Füße irgendeiner, jetzt unerkennbaren, Figur in der Hand haltend, und blickte Mark mit feurigem Blick an.

»Du hast dich niederschlagen lassen. Deinetwegen wären wir fast geliefert gewesen.«

Mark hatte keine Zeit, sich zu entschuldigen, denn Anton nahm den Revolver vom Boden auf und drückte ihn Mark wieder in die Hand.

»Ich habe dir aufgetragen, jeden zu töten, der aus diesem Zimmer kommt. Also – tu es!«

Mark blickte Anton entsetzt an.

»Tu es!«

Eine Mischung aus Panik und Entsetzen erfüllte Mark.

»Ziel auf seinen Nacken. Das geht schnell und ist schmerzlos«, beauftragte Hannes ihn.

Mark glaubte, ein flüchtiges Grinsen auf seinem Gesicht zu erkennen. Nun stand er da – er wusste, dass er abdrücken würde, aber es kostete ihn Überwindung. Lange stand er da. Auf den Nacken eines bewusstlosen, alten Mannes zielend. Die wenigen Minuten kamen ihm wie eine Ewigkeit vor. Vielleicht hatte dieser Mann eine Familie. Wenn er es tatsächlich tat, würde er sein ganzes Leben lang Schuldgefühle haben. »Du oder er!«, hörte er Anton oder Hannes sagen. Wer es war, war ihm egal. Was zählte, war die Tatsache. Vielleicht hat dieser Mann auch schon mal etwas Schlechtes getan, dachte er. Es gibt doch noch viele andere Menschen, die noch schlimmere Sachen gemacht haben. Er wusste, dass er nur eine billige Entschuldigung suchte für das, was er tun würde. Es ist ja nur ein kleines Menschenleben. Von denen gibt es ja eh genug. Dann drückte er ab.

Der Mann zuckte, blieb reglos liegen. Tränen bildeten sich in Marks Augen, doch dann explodierte ein brennender Schmerz an seinem Hinterkopf. Hannes hatte ihn niedergeschlagen.

In den letzten wenigen Sekunden seines Bewusstseins beobachtete er zwei Paar dreckige Schuhe ruhig Richtung Ausgang schreiten. Eine der beiden Personen trug einen Sack, die andere lachte. Dann wurde es dunkel um ihn.


Er wachte auf. Polizeibeamten schritten im Haus herum, kritzelten auf Notizblöcke, oder standen kopfschüttelnd in Gruppen zusammen. Zwei Polizisten zerrten Jim herein, der sich zwar heftig wehrte, aber gegen kampferprobte Beamte machtlos war. Ein weiterer Inspektor inspizierte eine Leiche, einen alten Mann, und hob mit einem Handschuh die Mordwaffe hoch. In dem Moment brachen die Erinnerungen wie eine Welle über Mark zusammen. Er versuchte, sich zu bewegen, aber es war zwecklos. Man hatte ihm Handschellen angelegt, sein Hinterkopf pochte schmerzhaft. Er verstand. Hannes und Anton hatten ihn niedergeschlagen, um die Beute zu behalten. Und Jim hatten sie offensichtlich abgehängt.

»Ihr wart zu laut, eine Nachbarin hat euch bemerkt und uns verständigt.« Der Polizist, der das gerade gesagt hatte, ging neben ihm in die Hocke. »Armer Junge – allenfalls ein Viertel deines Lebens hast du hinter dir, doch schon ist alles versaut. Im Gefängnis wirst du viel Zeit haben, über deine Tat nachzudenken. Wie konntet Ihr das tun? Ihr seid doch noch Kinder!«