Theodora Voráčková (13)
Die Mutprobe
Ich saß auf einem grauen wackeligen Stein auf der alten Burgmauer. Ich blickte von den Türmen auf die andere Seite des Burghofes, wo sich eine Gastwirtschaft, ein Souvenirladen und mehrere Eisdielen befanden.
Ich war hungrig. Heute ist es mir nicht gelungen, eine Fliege in meinem Netz zu fangen. Mein achtes Bein schmerzte. Ich hatte es verletzt, als ich mich vor einem Vogel versteckt hatte.
Unten im Hof liefen einige Kinder umher. Wie sie so leicht herumspringen konnten, wenn sie so groß waren und alle nur zwei Beine hatten, ist mir schon immer ein Rätsel gewesen. Eine Frau, die in der Nähe stand, drehte sich zu ihnen um und klatschte zweimal. Die Kinder beruhigten sich, aber an einer oder anderer Bewegung, die verriet, dass die Kinder einander etwas zuflüsterten, konnte man erkennen, wie schwer es für sie war, aufmerksam zu bleiben.
»Also, weiß jemand von euch, wie diese Burg heißt?« Sie sprach mit einer müden Stimme.
Ich lächelte. Mit dem engen Rock, den Schuhen mit hohen Absätzen und ungefähr fünfzehn Kindern, die sie zum Ausflug mitnahm, musste der Weg über den Berg zur Burg wirklich erschöpfend sein. Ein kleines Mädchen mit kurzen dunklen Haaren hob die Hand. Sie sprach so leise, dass ich einige Steine runterkrabbeln musste, um sie zu hören.
»Grauenstein?«, piepste sie.
Die Frau richtete sich auf: »War das jetzt eine Frage oder eine Antwort?«
Ich kicherte. Typischer Lehrersatz. Lehrer waren immer so leicht an der Sprache zu erkennen. Das hatte eine andere Spinne mir einmal erklärt. Ich fragte mich nur, ob es den Menschenkindern etwas so Wichtiges mitzuteilen gab, dass man dafür Schulen und Lehrer brauchte.
»Aber es war richtig. Die Burg Grauenstein«, setzte sie fort. »Hört zu. Unsere Führung beginnt in einer Stunde. Hat jeder eine Uhr dabei? Gut. Um halb zwei treffen wir uns wieder hier. Bis dahin könnt ihr euch hier umschauen oder Souvenirs kaufen. Aber denkt daran, was wir am Weg hierher abgemacht haben. Die Burg nicht verlassen und keine gefährlichen Aktionen! Gibt es noch Fragen?«
Keines der Kinder antwortete.
»Gut, dann habt ihr jetzt frei.«
Die Kinder rannten in verschiedene Richtungen los.
»Ich muss mir unbedingt die Folterkammer ansehen!«, rief ein blonder Junge.
»Ich glaube, die wird uns bei der Führung gezeigt«, sagte ein anderer, »Lass uns lieber hinauf zum Turm gehen.«
»Gute Idee!«
»Kommt jemand mit mir Eis essen?«, rief ein Mädchen im grünen Kleid. »Und übrigens, hat jemand meine Sonnenbrille gesehen?«
Nach und nach leerte sich der Hof. Die Lehrerin wartete noch eine Weile und ging mit kurzen schnellen Schritten davon. Ich sah ein paar Kinder, die sich beim Burgtor versammelten.
»Lass mich doch endlich in Ruhe!«, sagte eine leise Stimme.
Schnell krabbelte ich ein Stück näher. Ich sah das kleine kurzhaarige Mädchen. Es sprach zu einem Jungen mit zusammengewachsenen Augenbrauen, Pferdezähnen und einer glitzernden Zahnspange. Diese Drähte, die sich Menschen in den Mund stecken, kamen mir geheimnisvoll vor. Bei Zähnen gilt doch, dass je schiefer sie sind, desto besser kann man die Beute aussaugen.
»Ich dich? Du solltest uns in Ruhe lassen. Mit deinen Geschichten. Drei Jahre Judo! Dabei solltest du dir Sorgen machen, ob dich der Wind nicht wegweht. Oder kannst du irgendwie beweisen, dass du mit diesen Zahnstochern«, er deutete auf ihre Hände, »so viele Jungs besiegt hast? Wo sind denn deine Medaillen?«
Ein blondes Mädchen mit Brille trat einen Schritt auf ihn zu: »Ich habe sie gesehen, Martin, als ich bei ihr zu Hause war.«
Der Junge klappte den Mund auf und wieder zu. Wahrscheinlich fiel ihm keine passende Antwort ein. »Na gut«, brummte er nach einer Weile, »und wieso bist du dann so ein Feigling, Sarah?«, wandte er sich wieder dem kurzhaarigen Mädchen zu. »Ich habe dich schon so oft in der Pause angeben gehört, dass du mich im Raufen besiegen könntest. Wieso hast du’s dann nicht gemacht?«
Sarah seufzte, »Erstens habe ich erst darüber gesprochen, wenn du gefragt hast, und zweitens brauch’ ich mir nichts beweisen. Es gibt keinen Grund, warum ich versuchen sollte, dich zu schlagen. Ich würde nur Ärger kriegen.«
»Seht ihr es? Sie hat Angst, Ärger zu kriegen. Das würde vielleicht erklären, warum du so eine brave Schülerin spielst«, sprach Martin weiter. »Ja, Frau Lehrerin, nein danke, Frau Lehrerin, kann ich bitte noch eine extra-lange Hausaufgabe bekommen, damit ich meine Noten verbessere, Frau Lehrerin?«, äffte er sie nach. Er lachte laut auf, doch als er merkte, dass keines der Kinder mitlachte, verstummte er wieder.
»Halt den Schnabel, Blechgusche«, rief eine Jungenstimme, »Mach dir nichts daraus, Sarah. Er ist nur eifersüchtig.«
Sarah zuckte mit den Schultern.
Ich wusste, was sie meinte. »Er ist nur eifersüchtig.« wäre auch für mich kein guter Trost gewesen.
»Sieh mal einer an. Ein neues Liebespaar. Wann findet denn die Hochzeit statt?«
»Ich glaube nicht, dass Thomas und Sarah vorhaben, zu heiraten, aber falls es so ist, bist du sicher nicht eingeladen.« Damit wusch das blonde Mädchen mit der Brille das Grinsen aus Martins Gesicht.
»Gut«, sagte er. »Ihr seid wohl alle auf der Seite unserer Superheldin. Denkt doch, was ihr wollt. Aber ich warne euch: Sie ist nur eine kleine Streberin und Lügnerin. Ein oder zwei Sachen, die sie erzählt, klingen noch realistisch, aber zum Beispiel das mit dem Hai! So eine kleine Narbe kann doch gar nichts beweisen! Aber was habe ich hier überhaupt noch zu suchen; ihr seid doch alle hoffnungslose Fälle!« Er drehte sich um, und von den wütenden Blicken der Kinder verfolgt, machte er einige Schritte.
»Was soll ich machen?« Sarah ging einen Schritt nach vorne und starrte ihn an.
Er wandte sich zu ihr.
»Was soll ich machen, um dir zu beweisen, dass ich die Wahrheit erzählt habe?«
Martin lächelte.
Ich glaube, er hatte auf diesen Satz gewartet.
»Wir können doch wetten. Siehst du diese Mauer?« Er deutete auf die halb verfallene Burgmauer, die den Hof umgab. Viele Steine fehlten, daher entstanden mehrere große Lücken, von denen manche bis zum Boden des Hofes reichten. »Hier, in dieser Lücke, sieht es fast so aus, als hätte jemand die Mauer auseinander genommen, um hinaufzukommen. Hier kletterst du hinauf und bei der nächsten Lücke da hinten wieder nach unten. Natürlich kannst du gleich nach einem Meter aufgeben und umkehren, in dem Fall musst du aber … äh … «
»Eine Nacktschnecke essen!«, rief eines von den Kindern. »Ups! Entschuldigung, Sarah.«
»Genau, eine Nacktschnecke essen«, sagte Martin.
»Iiih, eine Nacktschnecke!«, dachte ich. Als ich hier einzog, kroch eine von ihnen direkt durch mein Netz, zerstörte es und bedeckte alles mit Schleim. Nicht einmal meine Lieblingsecke zum Schlafen verschonte sie.
Sarah drehte den Kopf zur Burgmauer: »Und was ist, wenn mich jemand sieht?«
»Heute ist Montag. Normalerweise haben sie geschlossen, aber die Lehrerin hat sich mit ihnen verabredet. Heute kommt niemand außer uns. Und die Autos, die vorbeifahren, bemerken dich wahrscheinlich nicht. Die Straße ist zu weit entfernt«, sagte jemand.
Sarah nickte langsam.
»Tu es nicht!«, rief das blonde Mädchen. »Fällst du auf diese Seite, brichst du dir beide Beine. Fällst du auf die andere, kullerst du den Berg herunter und bist entweder tot oder für den Rest deines Lebens gelähmt. Und dazu musst du noch eine Nacktschnecke essen!«
»Elena, lass mich«, sagte Sarah. Als sie jedoch sah, wie ihre Freundin den Kopf senkte, entschuldigte sie sich. »Ich weiß, du hast Recht, aber ich kann es nicht mehr aushalten, wie er sich benimmt. Außerdem macht mir Klettern Spaß.«
Elena lächelte nicht und Sarah wandte sich zu Martin: »Und wenn ich es schaffe, gibst du zu, dass ich kein Angsthase bin, und musst selber eine Nacktschnecke essen? Also gut. Einverstanden.«
»Nein, Sarah, nicht«, riefen die meisten der Kinder, »der ist es doch nicht wert!«
Ich seufzte. Sie hätte sich nicht provozieren lassen sollen. Sie machte einige unsichere Schritte zu der Lücke in der Mauer und schaute sich um.
»Ich lass‘ dich nicht gehen!«, rief Elena und rannte zu ihr, »Noch ein Schritt und ich sag‘ es der Lehrerin.«
»Ich dachte, du bist meine beste Freundin.«
»Gerade deswegen.«
»Bitte, lass mich gehen.« Sarah umarmte ihre Freundin: »Hier, halte meinen Rucksack. Geh erst Hilfe holen, wenn es zu gefährlich wird.«
»Das ist es aber jetzt schon.«
»Elena, bitte.«
»Und versprichst du mir, dass du vorsichtig bist?«
»Ja.«
»Also gut.«
Sarah rannte los und sprang. Mit den Händen hielt sie sich fest und zog ihren ganzen Körper nach oben. Bald stand sie in der Lücke. Sie erholte sich einen Moment lang, hielt sich dann an ein paar Steinen fest und kletterte weiter. Als sie oben ankam, setzte sie sich erschöpft hin. Hier war die Mauer so schmal, dass sie sich rittlings setzen konnte, mit dem linken Bein in den Hof und dem rechten auf der anderen Seite. Die Kinder applaudierten.
»Psst!«, rief jemand, »Was ist, wenn uns zum Beispiel der Souvenirhändler oder sonst jemand hört?!«
Sarah fand inzwischen eine Methode, um weiter zu kommen. Sie schob beide Arme nach vorne, legte die Hände auf die Steine, hob ihren Po und rückte mit ihm ein wenig nach vorne. Die Kinder gingen der Mauer entlang, um immer unter Sarah zu stehen. Diese schrie erschrocken auf, als sich ein Stein unter ihren Händen löste und außen hinunter fiel. Unten im Hof rannte Elena zu Martin.
»Du Trottel!«, rief sie und gab ihm eine Ohrfeige. »Du hast meine beste Freundin so gut wie umgebracht!«
»Autsch!«, zischte er und legte seine Hand auf die rote Wange. »Okay, Sarah, du hast schon bewiesen, dass du mutig bist. Du kannst umkehren und ’runterklettern.«
Sie schüttelte den Kopf. »Die Nacktschnecke musst du auch nicht essen. Bitte … komm ’runter.«
»Die Mauer ist zu dünn hier, ich würde beim Umdrehen ’runterfallen. Und rückwärts klettern traue ich mich nicht.«
Langsam bewegte sie sich noch einige Meter nach vorne.
Ich krabbelte die Mauer hoch und setzte mich auf ihre Schulter. Die Mauer wurde breiter und Sarah musste die Position wechseln. Sie biss sich in die Unterlippe und begann, sich aufzurichten. Sie kniete sich hin und kroch auf allen vieren weiter.
»Kannst du dich jetzt umdrehen?«, rief eines von den Kindern.
»Ja, schon, aber ich glaube, da liegt ein kürzerer Weg vor mir als hinter mir.«
Das stimmte. Es fehlte nur noch ein kurzes Stück zur nächsten Lücke. Sarah atmete tief ein und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dabei rutschte ihre andere Hand an einem wackeligen Stein ab und sie kippte auf ihre linke Schulter um. Weil es nun sehr schwer für mich war, mich festzuhalten, krabbelte ich ihr über das Ohr ins Haar. Ich sah, wie sie versuchte, sich aufzurichten und dabei noch einmal abrutschte. Sie fiel hinunter und wäre im Hof gelandet, wäre ihr Gürtel nicht an einem spitzen, herausstehenden Stein hängen geblieben. Sie schrie auf und zappelte mit den Füßen. Sie konnte sich nur mit einer Hand an einem schmalen Vorsprung festhalten.
»Ich hol’ Hilfe«, schrie Elena und rannte los.
»Mist«, flüsterte Martin und schüttelte den Kopf.
Die übrigen Kinder machten einige Schritte nach hinten und starrten Sarah an.
Mir kam eine Idee. Falls sich dieses Mädchen vor Spinnen fürchtete, würde es bestimmt nicht funktionieren, aber einen Versuch war es wert. Langsam krabbelte ich ihr über das Gesicht. Sie zuckte und ich war mir sicher, dass sie mich bemerkt hatte, ich sprang in einen Spalt zwischen zwei Steinen und rannte zu einem nächsten. Sarah schob die Finger der rechten Hand in den ersten Spalt und probierte, ob sie sich festhalten konnte – ja. Ich krabbelte von einem Stein zum anderen und zeigte ihr alle Stellen, an denen sie sich halten konnte, die sie ohne mich sicher nicht bemerkt hätte. Bald kniete sie wieder oben auf der Mauer.
»Danke«, flüsterte sie mir leise zu.
Die Kinder jubelten.
Sarah kroch wieder auf allen vieren, bis sie die große Lücke erreichte. Vorsichtig drehte sie sich um und kletterte in den Hof. Unten angekommen, fing sie vor Erleichterung an zu weinen. Elena lief zu ihr und umarmte sie.
»Ich dachte, dass du Hilfe mitbringen wolltest.«
»Ja, aber ich hatte solche Angst um dich, dass ich nicht wusste, wo unsere Lehrerin steckt. Also wollte ich den Souvenirverkäufer holen, aber bis er begriff, dass er mitkommen soll, sah ich durchs Fenster, dass du wieder hinaufgekommen bist.«
Sarah drehte sich um, als sie merkte, dass ihr jemand auf die Schulter klopfte. »Du, das war wirklich mutig von dir«, sagte Martin. »Jetzt tut es mir Leid, dass ich dich da hinaufgeschickt habe.«
»Und? Hast du vielleicht etwas vergessen?«
»Was denn?«
Sie lachte nur, sah sich um, hob eine Nacktschnecke vom Boden auf und stopfte sie ihm in den Mund.