Teodora Toc (11)

Die Bibliothek

Schon immer stand die Bibliothek da, auf der Müllerstraße. So einsam zwischen zwei alten Eichen, so traurig und dunkel. Die dunkelgrünen Vorhänge waren immer zugezogen, sodass man drinnen nie etwas sehen konnte. Auf einer großen Tür aus Holz stand mit fast unsichtbaren Buchstaben »Bibliothek Wedling«.

Wenn die Sonne schien, lag die Bibliothek in Schatten. Schaute man in ihre Richtung, spürte man eine seltsame Kälte.

Marie stand davor. Nicht ein einziges Mal sah sie jemanden hinein- oder herausgehen.

Es regnete. Marie brauchte ein Buch, dass sie für die Schule lesen musste. Es hieß »Weltweit«. Sie suchte schon den ganzen Tag in den Büchereien, aber jedes Mal, wenn sie das Buch von einer Bibliothekarin verlangte, zuckte diese mit den Schultern und schaute Marie verwirrt an. Das Mädchen fragte sich, was sie nur tun könne. Eine Mitschülerin anrufen und das Buch ausleihen? Nein, dachte sie, das hieße, ich müsse es schnell lesen, damit ich es zurückgebe, dazu aber habe ich keine Lust. Marie hasste Bücher, besonders die Pflichtliteratur. Sie fand es Zeitverschwendung, Buchstaben, Wörter, Sätze und volle Seiten zu lesen, wenn es doch Fernseher gab, wo doch eine Menge gute Sendungen liefen. In den Büchern musste sie sich alles vorstellen, was sie aber schwer fand.

Auf einmal schoss es Marie durch den Kopf, dass sie ja vor dieser merkwürdigen Bibliothek in der Müllerstraße stand. Ihr lief ein Schauer über den Rücken, wenn sie nur daran dachte, da hinein treten zu müssen. Weil aber Marie das Buch unbedingt brauchte, entschloss sie sich, in die Bibliothek zu gehen, nach dem Buch zu fragen, obwohl sie niemanden hier sah.

Marie drückte auf die Klinke. Die Tür war offen. Das Mädchen trat hinein. Es schloss die Tür hinter sich. In der Bibliothek herrschte Totenstille. Nichts bewegte sich, keine Geräusche waren zu hören.

»Hallo! Ist jemand da?«, rief Marie.

Sie bekam aber keine Antwort, nur das Echo ihrer eigenen Wörter war zu hören. Langsam schritt sie vorwärts.

»Ich bräuchte das Buch ›Weltweit‹, ist es hier zu haben?«

Wieder nichts, außer dem Echo, oder doch? Hatte sich nicht etwas in den Raum bewegt? Marie lauschte aufmerksam. Nein, sie hatte sich geirrt. Sie wollte zurück, das Gebäude jagte ihr einen Schrecken ein, die Totenstille und die Finsternis. Doch gerade als sie sich umdrehte, hörte sie wieder das Geräusch. Marie blieb stehen und lauschte. Ja, da war es, das Geräusch. Etwas flüsterte. Marie folgte ihm. Sie gelangte in einen riesigen Raum, da gab es eine Menge Regale, voll mit staubigen Büchern. Es roch nach Schimmel. Ein Lichtlein brannte in der Finsternis. Das Mädchen näherte sich. Als sie ganz nahe war, erschrak sie. Ein offenes Buch schwebte durch die Luft und verbreitete einen hellen Schein. In der Mitte hatte es einen Mund, und die Augen, die gezeichnet schienen, glänzten wie Diamanten.

»Was? Was bist du?«, fragte Marie aufgeregt.

»Ich bin ein Buch, merkt man es nicht, oder was?«, erwiderte es genervt.

»Wieso kannst du sprechen und schweben?«, gab Marie als Antwort.

»Bücher können doch sprechen, und außerdem schweben ihre Gedanken durch die Welt der Abenteuer. Ach, ihr Menschen, ihr denkt, dass nur ihr Verstand habt. Da irrt ihr euch sooo …«

»Ja, ja, merke ich schon. Was für ein Buch bist du denn?«

»›Weltweit‹, du hast doch nach mir gefragt.«

»In Ordnung, darf ich dich nach Hause nehmen und dich lesen?«

»Nein! Ich werde dir meine Geschichte erzählen, ich weiß schon, dass du Lesen nicht magst.«

»Stimmt, aber woher?«

»Ein Buch erkennt alle Gewohnheiten eines Menschen, wenn dieser mit dem Buch spricht, also, darf ich endlich meine Geschichte beginnen?«

»Natürlich«, antwortete Marie erleichtert.

Das nicht sehr dicke Buch begann, seine Geschichte zu schildern. Marie hörte aufmerksam und verzaubert zu. Als das Buch zu erzählen aufhörte, stand das Mädchen mit offenem Mund da.

»Was? Hab’ ich nicht schön erzählt?«, begann das Buch mit weinender Stimme.

»Doch, nur es war soo … so beeindruckend. Kann jedes Buch so schön erzählen?«

»Na ja … das hängt vom Inhalt jedes Buches ab …«

Marie sagte nichts mehr. Sie stand auf und wollte zurück.

Da rief das Buch: »Komm wieder!«

Das Mädchen nickte und murmelte ein »Danke!«, öffnete die Tür und ging hinaus.

Die Sonne schien, nur ein Paar Pfützen waren zu sehen. Marie sah die Bibliothek noch einmal an, diesmal fühlte sie keine Kälte mehr.