Nicole Spörle (11)

Die Seele des Waldes

Ein Wirbelwind fegte über Malburs Kopf hinweg. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück. Heute war ihr erster Hexenreigen. Das war etwas ganz Besonderes. Jedes Jahr um diese Zeit fand das Spektakel statt. Es wurde zu Ehren des Begründers der großen Hexengemeinschaft aufgeführt. Der Wirbelwind nahm die Gestalt einer jungen Frau mit langen schlohweißen Haaren an. Aufgeregt trat Malbur von einem Fuß auf den anderen. Die weiße Gestalt war die Hexenvorsitzende Mirabes, und die Mächtigste unter ihnen.

Sie sprach: »Heute wird, wie ihr sicher schon wisst, jemand Neues in unsere Hexengemeinschaft aufgenommen. Malbur Bittersons Mutter, die unserem werten Ältestenrat angehört, hat um die Erlaubnis gebeten, dass wir ihre Tochter aufnehmen. Wer ist dafür?«

Alle hoben ihre Hände. Mirabes reichte der erleichterten Malbur den traditionellen Weihbecher. Sie hob ihn an die Lippen und trank. Plötzlich versank die Welt in weichen Schatten. Ihr letzter Gedanke für diesen Abend war: Jetzt gehöre ich endlich dazu.

Sie konnte es noch gar nicht fassen, dass alles so reibungslos verlaufen war. Oder war es das gar nicht? Ihr Gedächtnis reichte nur bis zu diesem merkwürdigen Hexensud. Sie hatte ein paar Schrammen und einige blauen Flecken. Folgen einer Schlägerei? Nachdenklich wischte sie sich eine Strähne aus der Stirn. Irgendetwas war vorgefallen, an das sie sich nicht erinnern konnte. Es lag ihr auf der Zunge, aber immer, wenn sie es aussprechen wollte, entglitt es ihr wieder. Sie musste Mirabes fragen, und zwar schnell. Wenn irgendjemand ein Problem mit ihr hatte, dann würde er auf jede nur erdenkliche Art versuchen, ihr zu schaden, wenn nicht sogar sie umzubringen. Für diesen Fall war es sehr wichtig, das zu wissen. Der Hass war bei vielen Hexen stark ausgeprägt. Stärker als jedes andere Gefühl. Deshalb war die Lage ja auch so gefährlich. Ihre Glieder schmerzten, trotzdem nahm sie den langen Weg auf sich und rannte zu Mirabes Haus. Die Hexe erwartete sie schon. Sie hielt eine Kristallkugel in der einen Hand und strich mit der anderen Hand sanft darüber. Wie eine Mutter über den Kopf ihres neugeborenen Kindes.

»Komm herein«, sprach sie. »Du willst sicher wissen, was gestern Abend vorgefallen ist. Ich zeige es dir.«

Und mit diesen Worten erschien ein Bild auf der Kugel. Sie sah sich selbst, wie sie erschrocken dastand, während ein Gewittermeck auf sie zusauste. Gewittermecks waren hochgefährliche, bösartige Kreaturen. Aber es waren schon seit vielen tausend Jahren keine mehr an diesem Ort gewesen. Das letzte Mal hatte auf ihr Auftreten hin der Dämon Musaya, eine der gefährlichsten Kreaturen der Welt, seine Armeen gegen den Tauwald geführt. Damals hatte das verheerende Folgen gehabt, die sogar jetzt noch von den umherstreifenden Barden besungen wurden. Wenn das wieder geschehen sollte, die Anzeichen dafür waren sehr deutlich, dann waren sie verloren.

»Der Waldgeist«, flüsterte Mirabes. »Er ist unsere einzige Hoffnung. Rufe den Waldgeist, er könnte uns helfen. Hoffentlich hat er gute Laune. Alle Hoffnung ruht auf deinen Schultern.«

Malbur nickte und rannte davon in Richtung Baumgrenze. Sie wirbelte mit ihren Fußtritten Moos und Laub auf, während sie den Baumreihen folgte. Der Ruf eines Käuzchens drang durch ein kleines Birkenwäldchen zu ihr herüber. Sonst war alles still. Totenstill.

Zart berührten ihre Fingerkuppen den Stein. Ein Gesicht erschien auf der rauen Fläche. Es sah sehr alt aus. Aber aus seinen Augen blitzten Hochmut und Schalk. Es war der Waldgeist Temprian.

»Oh, Temprian, Seele des Waldes, und mein Herr und Gebieter, ich, ein armseliges bisschen Gewürm deiner Erde, flehe dich an, mir eine Bitte zu gewähren.«

Temprian dachte angestrengt nach. »Nun gut, was hast du auf dem Herzen?«

»Steht uns bei und werdet Anführer unserer Armee gegen die Bestie Musaya.«

Er schaute sie verdutzt an. »Musaya, dieser alte Schlingel, heckt er wieder etwas aus?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Ich weiß nicht, aber erstmal muss ich aus diesem verdammten Stein heraus, hast du einen geeigneten Körper für mich?«

»Nein. Doch ja, habe ich!«

Der Metzger des Dorfes, der gleichzeitig Tierzüchter war, hatte einen besonders stattlichen Ochsen großgezogen. Er hatte bestimmt nichts dagegen, wenn sie sich den Körper dieses Prachtexemplars einmal ausliehen. Außerdem war es ja auch in seinem Interesse, den schrecklichen Musaya zu vernichten. Mit einem kleinen Zaubertrick, der das Tier noch etwas vergrößern sollte, würde dieser Körper ihn schier unbesiegbar machen. Temprian verkleinerte seinen Fels so weit, dass es Malbur möglich wurde, ihn zu tragen. Sie lief zum Metzger und bat um den Ochsen. Erst, als sie ihren Grund erläuterte, gab er das Tier widerwillig her. »Ich werde ihn im Gefecht ganz besonders beschützen«, tröstete Malbur ihn.

Um den Zauber durchzuführen, ließ der Metzger sie in seinen Hof. Sie traten hinaus und begannen. Zuerst musste der Ochse weiter wachsen. Dazu rasselte Malbur eine komplizierte Abfolge von Quietschlauten und Gesten herunter. Dieser dehnte sich aus, wuchs und wuchs, bis er mehr als die Hälfte des Hofes einnahm. Atemlos schaute Malbur zu ihm empor. Er wollte sie zwischen die Hörner nehmen. Doch da fuhr der Waldgeist in seinen Körper, und er zog seinen Kopf wieder zurück.

Nun begannen sie, eine Armee aufzustellen. Alle jungen Männer, wenn sie zu Hause irgendwie zu entbehren waren, wurden zum Militär geladen. Doch keiner wurde gezwungen. Sie wussten, dass sie jetzt nur noch für sich selbst und für ihre Familien kämpften. Eine Hand voll Männer, ihrem Befehlshaber treu bis auf den Tod, gegen Scharen von Söldnern, die nur auf ihrer Seite blieben, wenn der Preis stimmte. Die Taktik Temprians sei ganz einfach, sagte dieser mit trockenem Sarkasmus. »Wir machen sie fertig, töten Musaya, und ich suche mir einen neuen Stein.«

Niemand lachte. Warum auch, es war ein dummer Witz gewesen. Natürlich wussten alle, dass das nicht so einfach ging. Aber keiner von ihnen war ein guter Stratege oder gar kampferprobt. So fiel niemandem etwas Besseres ein. Nach den Besprechungen, deren Ergebnisse sehr zweifelhaft waren, kam Folgendes heraus: Sie würden ihr Heer darauf verwenden, die Krieger abzulenken. Und der Waldgeist und Malbur würden mit Mirabes Hilfe zu Musaya hervordringen und diesen zur Strecke bringen. Das war zwar kein sonderlich guter Plan, aber es musste reichen. Müde warf Malbur sich auf ihr Bett und schlief wider Erwarten schnell ein.

Tief in der Nacht heulte plötzlich ein Horn. Und dann noch eines und noch eines. Musaya führte seine Truppen gegen den Tauwald. Die Zeit des Kampfes war gekommen. Draußen hing ein seltsamer gelblicher Nebel über den Straßen, stieg zum Himmel auf und verdunkelte den Mond. Ein merkwürdiger Geruch nach Schwefel und verglühtem Holz lag in der Luft, und aus der Ferne ertönte ein furchtbares Kreischen, wie von Kreide, die auf feuchtem Stein reibt. Malbur hielt sich die Ohren zu und sprang auf Temprians breiten Rücken. Er stand auf dem Dorfplatz und kommandierte wild hin- und herlaufende Leute herum. Das schien ihm zu gefallen. Malbur hätte gern mehr über dieses seltsame Wesen gewusst. Ob er der einzige oder letzte seiner Art war oder ob es noch andere Exemplare seiner Gattung gab. Leider war viel zu wenig über diese Kreaturen bekannt, und Temprian nach möglichen Artgenossen zu fragen, stand jetzt bestimmt ganz hinten auf der Liste mit Dingen, die sie noch zu tun hatte.

Dann schälten sich die Reihen ihrer Feinde aus dem gelblichen Nebel. Es waren gehörnte große Kreaturen mit langen dolchartigen Zähnen. Temprian stampfte los. Er wütete furchtbar unter den Reihen seiner Angreifer. Seine Hörner spießten die Feinde auf, seine Hufen zertrümmerten ihnen die Köpfe. Tote Gestalten hingen von seinem stolzem Haupt herunter. Mit einem Ruck schüttelte er sie ab. Angeekelt wich Malbur auf seinem Rücken zurück. Sie verstand das nicht. Diese Armee sollte eigentlich aus Söldnern bestehen, hatten ihre Spione gesagt. Moment, endlich begriff sie! Die Söldner waren im Herzen der Armee, um Musaya zu beschützen. Über den zweiten, äußeren Wall hatte keine Menschenseele etwas erfahren. So war es für Musaya am sichersten gewesen. Der Mut verließ sie, aber sie musste stark sein. Sie musste es versuchen. Sie musste kämpfen! Doch Temprian war viel zu groß. Er würde Aufsehen erregen. Da fasste sie einen Entschluss. »Temprian, vernichte sie! Ich geh’ allein zu Musaya«, sprach sie.

Ein besorgter Laut entrang sich seiner Kehle.

Doch da wurde sie auch schon vom Toben des Kampfes verschluckt. Niemand beachtete sie, sie war ja nur ein Mädchen. So drang sie ungehindert bis zum Herzen der Armee vor. Einmal versuchte ein Söldner, sie zu stoppen und in sein Zelt zu ziehen. Doch sie schickte ihm einen kleinen Zauber entgegen, und er ging bezwungen in die Knie. Aber je näher sie Musaya kam, desto vorsichtiger wurden die Männer. Durch die letzte Reihe kam sie fast nicht hindurch. Mit geballter Kraft ließ sie einen Spalt im Boden erscheinen. Der Zauber riss das Gras entzwei, und die Männer fielen hinein. So hatte sie Musaya gleichzeitig vom Nachschub abgeschnitten.

Vor ihr stand eine riesige Sänfte auf dem Boden. Ihre Träger, es mussten Kreaturen mit übermenschlichen Kräften sein, waren verschwunden. Langsam ging sie auf die Sänfte zu. Die vier Kreaturen, die sich von hinten an sie heranschlichen, und in den Farben der Sänfte gekleidet waren, bemerkte sie nicht. Sie sprangen vor und wollten ihr den Mund zuhalten, doch Malbur wehrte sich durch Zauberei. Dem hatten die Monster nichts entgegen zu setzen. Röchelnd gingen sie in die Knie. Bei Gott, sie war wirklich begabt!

Sie wusste nicht, dass sie nach Mirabes die mächtigste Hexe im Wald war. Schon bevor sie zur Hexe geweiht wurde, hatte sie viel geübt.

Die Vorhänge der Sänfte waren zugezogen. Überall an ihren roten Wänden waren Verzierungen aus Gold. Malbur drückte die Tür auf. Sie war nicht verschlossen. Die Sänfte war in zwei Räume aufgeteilt. Der Erste war eine geräumige Diele. Eine schwere Eichenholztür ließ darauf schließen, dass es dort einen weiten Raum gab. Die armen Träger. Dies alles musste ein furchtbares Gewicht haben. Leise ging sie noch einmal alle Zaubersprüche durch, die sie gelernt hatte. Sie zögerte – dann trat sie durch die Tür. Sie hatte alles erwartet, nur das nicht. Es war – nichts. Niemand war zu sehen. Nur in der Ecke stand ein Käfig mit einem gelben Wellensittich. Er zwitscherte laut. Plötzlich fiel ihr Blick auf ein Buch, das aufgeschlagen auf dem Schreibtisch lag. Es enthielt ein Kapitel mit dem Namen »Der Waldgeist – einer oder viele?« Neugierig trat sie darauf zu, als sie plötzlich von einer Pranke mit langen, messerscharfen Krallen zu Boden gedrückt wurde. Wie wild schoss sie mit Zaubern um sich, aber alle wurden von dieser Kreatur, sie zweifelte nun nicht mehr daran, dass es Musaya war, einfach verschluckt. Da fiel ihr etwas Merkwürdiges auf: Der Vogelkäfig war leer. Man hatte ihr eine Falle gestellt. Ihr leichtes Durchdringen, die Leere der Räume, alles von ihren Feinden so eingefädelt! Sie hatte sich übertölpeln lassen. Alles war aus.

Plötzlich spürte sie einen kühlen Luftzug über ihre Wangen streichen, und ein Wirbelsturm schlug neben ihr ein. Mirabes! Die hatte sie ja ganz vergessen. Mirabes nahm ihre gewohnte Gestalt an und nickte Malbur zu. Gemeinsam erschufen sie eine gewaltige Druckwelle, die den Dämon zurückschleuderte. Endlich hatte Malbur die Gelegenheit, sein Gesicht zu sehen – wenn dort eins gewesen wäre. An dieser Stelle klaffte ein Loch. Er kam taumelnd wieder auf die Beine und wurde erneut von einer Druckwelle erfasst. Einen Moment lang war er orientierungslos. Blitzschnell zog Mirabes ein Schwert unter dem Umhang hervor und stieß es ihm in die Brust, doch der lachte nur. Plötzlich bebte die Erde, und im nächsten Moment brachen zwei Hörner durch die gegenüberliegende Wand. Malbur konnte sich gerade noch auf den Boden werfen, doch Mirabes und Musaya waren zu langsam. Die gewaltigen Hörner spießten sie auf. Entsetzt schüttelte Temprian den Kopf. Der Kampf war vorbei, aber er hatte Opfer gefordert, sowohl unter den Hexen, als auch unter den Menschen. Und dann war da noch Mirabes.

Die Hexen wählten einstimmig Malbur zu ihrer neuen Königin. Gemeinsam mit ihren neuen Untertanen schuf sie Mirabes ein wundervolles Grabmal. Niemand würde ihren Mut je vergessen. Dennoch, die Schlacht war gewonnen. Sie waren gerettet.