Hannah Fadinger (11)

Gegenüber

Pauline, ein hübsches zwölfjähriges Mädchen, besuchte wie ihre Freundinnen die 2. Klasse des Gymnasiums und war wie fast jedes andere Mädchen. Sie hatte vieles, was ein Kind in ihrem Alter so begehrt: Inline-Skates, Scooter, Brettspiele, CDs, MP3-Player und viele Bücher. Aber eines hatte sie nicht: einen Vater.

Als sie ein halbes Jahr alt gewesen war, war er von zu Hause weggegangen. Nur ein paar Fotos von ihm waren ihr geblieben. Immer wenn Pauline sie ansah, dachte sie: »Mein Vater ist bestimmt berühmt in Wien! Und wenn er hier wäre, würde er sicher allerhand mit mir unternehmen.«

Oft wünschte sie sich, ihren Vater zu treffen, aber ihre Mutter ließ das nicht zu. »Wahrscheinlich hat Mutter ihn fortgejagt, mit ihrer ewigen Nörgelei! Er hätte mich sicher gerne mitgenommen und denkt wahrscheinlich sooft an mich wie ich an ihn.« Ihre Mutter machte ihr das Leben sehr schwer. Hätte sie einen Vater, würde der sie bestimmt verteidigen. Ja, ohne Vater war es unpraktisch. Fast alle Kinder aus ihrer Klasse hatten Väter – zumindest am Wochenende – und sprachen oft von ihnen. Kein Kind hatte als Baby seinen Vater zuletzt gesehen. Nur Pauline. Sie stellte sich ein Treffen mit ihm ganz toll vor: Sie würden Eis essen gehen und ins Theater, dann noch an der Donau entlang, und Vater würde den Arm um sie legen und sie wären so glücklich. Aber das blieb wahrscheinlich nur ein Traum. Ach, wie sehnlich wünschte sich Pauline eine Begegnung mit ihrem Vater …

Eines Tages konnte Pauline nicht mehr anders. Sie fragte ihre Großmutter, ob sie nicht doch nach Wien fahren dürfe, so sehr wollte sie zu ihrem Vater. Ihre Großmutter zögerte etwas, rief aber ihren Vater an. Als Pauline hörte, dass sie ihn in einer Woche besuchen dürfe, machte sie einen Freudensprung. »Das wird bestimmt der schönste Tag in meinem Leben!«, dachte das Mädchen. Die nächste Woche konnte gar nicht schnell genug kommen!

Als Pauline in den Zug kletterte, war sie so glücklich wie nie zuvor. Aufgeregt holte sie immer wieder das Foto hervor, auf dem ihr Vater sie als Baby auf dem Arm hielt. Wie er wohl jetzt aussah?

Nach zwei Stunden stieg sie in Wien aus. Auf dem Bahnsteig wartete ein großer, schwarzhaariger Mann. Pauline wusste: Nun stand sie ihrem Vater zum ersten Mal seit elf Jahren gegenüber. Ihr Vater begrüßte sie freundlich. Er führte sie in die Oper, und sie sahen sich den »Nussknacker« an. Während der Prinz mit dem Mäusekönig kämpfte, malte sich Pauline aus, wie nun ihr Leben verlaufen würde. Vielleicht würde ihr Vater sie einmal im Monat besuchen. Oder sie würde zu ihm fahren für ein Wochenende. Ja, und sie würden viel miteinander unternehmen, und Pauline könnte in der Schule von ihm erzählen und würde gleich sein wie alle. Mit ihm konnte sie sogar über ihre Mutter schimpfen. Alles würde sich für sie ändern, denn nun hatte sie ja einen Vater.

Strahlend ging Pauline mit ihm quer über den Platz ins Sacher, wo sie Fogosch mit Erdäpfeln aßen. Pauline hatte diesen Namen noch nie gehört, aber der Fisch schmeckte wunderbar. Dann gab es noch ein Eis, ganz wie sie es sich vorgestellt hatte. Ihre Mutter erlaubte ihr nur selten eines, weil es so ungesund war. Pauline redete über die Schule und er über seinen Beruf als Pilot. Vater erzählte von den Städten, in denen er schon gewesen war, von Paris, London, New York und Hongkong. »Vielleicht nimmt er mich auf seine nächste Reise mit«, dachte das Mädchen. Das war der glücklichste Moment in Paulines ganzem Leben.

Sie wünschte sich, dass der Tag nie vorbei wäre, aber bald ging ihr Zug zurück nach Graz. Sie verabschiedete sich weinend von ihrem Vater und stieg erst in den Waggon, als der Lautsprecher die Abfahrt ankündigte. Sie war sehr, sehr traurig darüber, schon heimfahren zu müssen. Nur der Gedanke, ihren Vater bald wieder zu sehen, munterte sie ein bisschen auf.

Zu Hause wollte ihre Mutter jedes kleinste Detail von ihrem Besuch in Wien wissen, aber Pauline verschwand gleich in ihr Zimmer. Sie stellte das Geschenk des Vaters, eine Porzellanfigur, einen Mann, der ein Mädchen an der Hand hielt, auf den Nachttisch. In der Schule erzählte sie ihren Freundinnen von ihrem Vater, und alle staunten.

Schon eine Woche nach dem Treffen fand Pauline einen Brief aus Wien in der Post. »Oh, wahrscheinlich eine Einladung«, freute sich das Mädchen und war überglücklich. Sie öffnete den Brief und las:


Liebe Pauline!

Die Begegnung mit dir war sehr schön, und ich habe mich gefreut, dich besser kennen zu lernen. Aber meine Familie möchte nicht, dass ich mich weiterhin mit dir treffe, und deswegen wird es wahrscheinlich bei diesem einen Mal bleiben.

Dein Vater


Tränen stiegen in Paulines Augen. Sie fühlte sich schrecklich. Immer wieder las sie den Brief durch, als ob sie ein »Scherz! Sehen wir uns übermorgen wieder?« überlesen hätte. Sie wollte es nicht glauben. Wie konnte Vater ihr das antun?

Tränen rollten ihr über die Wangen. Pauline hatte schon rote Augen, aber das Weinen hörte nicht auf. Die Freude war so schön gewesen, und nun war die Trauer viel schlimmer als zuvor, als sie noch keinen Vater hatte.