Henriette Brykczynski (9)

Hundeangst

Vor drei Tagen war Max mit seinen Eltern hier in Friedensheim in das kleine Dorfhäuschen gezogen, und noch immer hatte er sich das Dorf nicht angesehen. Und das lag nur daran, dass die Nachbarn so einen riesigen, doofen Hund hatten, der immer, wenn Max nur aus dem Fenster sah, am Zaun lang sprang und ganz furchterregend bellte. Immer wenn seine Eltern ihn fragten, ob er nicht etwas mit ihnen unternehmen wolle, musste er sich eine neue gute Ausrede ausdenken.

Einmal fragte seine Mutter ihn: »Max, willst du zum Baggersee? Ich komme dann in einer Stunde nach.«

»Nein, ich möchte gerne noch mein Zimmer ein wenig einrichten«, war die Antwort.

Max ging nach oben in sein Zimmer und überlegte, was der Hund wohl mit ihm machen würde. Wenn Max am Zaun lang gehen würde, würde der Hund über den Zaun springen, sich in seinem Hosenbein festbeißen, und dann würde er Max in die Unterwelt ziehen und ihn dort auffressen. Oder schlimmer noch: Er würde ihn vorher noch seinen Hundefreunden vorstellen, schreckliche Witze über ihn und andere erzählen, und dann würden sie ihn gemeinsam auffressen.

Nein, das würde Max sich nicht bieten lassen. Er würde erst gar nicht hinausgehen. Und wenn er es müsste, würde ihm schon irgendein Grund einfallen, dass er entweder erst gar nicht heraus musste oder dass seine Mutter mitkam.


Die Ferien waren nun bald herum, und Max musste in einer Woche in die Schule. Jetzt musste er sich wirklich etwas überlegen. Er war noch kein einziges Mal draußen gewesen. Nur einmal ganz kurz im Garten. Aber ’raus war Max natürlich nicht durch die Haustür, sondern durch das Fenster, weit entfernt von der Haustür. Aber kaum als der Junge draußen war, fing der Hund sofort wieder an zu bellen, und Max konnte sehen, dass der Hund schon wieder am Zaun entlang sprang. Sofort sprang Max schreiend durch das Fenster.

Auch mit dem Schlafen hatte Max Probleme, denn er träumte fast jede Nacht Albträume vom schrecklichsten Ungeheuer der Welt. Es hatte die Gestalt eines roten, lang- und schlappohrigen Wolfs. Er sah genauso aus wie der Hund des Nachbarn, die Reißzähne und die Größe waren die einzigen Unterschiede.

Ein ganz schrecklicher Traum war: Wenn seine Eltern gerade einkaufen waren, machte sich das Ungeheuer, das sonst so groß wie ein Haus war, ganz klein, kam zu ihm ins Zimmer hinauf und holte ihn zu ihm in die Hölle, wo es am kältesten Punkt mindestens 100 Grad Celsius waren.

Dort kamen dann die Teufel und anderen Werwölfe und bissen ihn mit ihren Reißzähnen oder stachen ihn mit ihrem Dreizack. Der Oberteufel piekste ihn auf seinen Dreizack und hielt ihn über das Feuer, und dann briet er ihn darüber.

Am Ende jeden Traumes wurde er aufgefressen oder zermahlen.


MORGEN! Morgen musste Max in die Schule, und er hatte noch keine Idee, wie er am zweiten Tag in die Schule kommen würde. Morgen würde seine Mutter mitkommen, um ihn in der Schule anzumelden und ihn in seine Klasse zu bringen. Als er am Abend die Nachbarin mit ihrem »Monster« an der Leine nach Hause kommen sah, hatte er plötzlich die Idee: Er wird einfach warten, bis die Nachbarin die Morgenrunde mit dem »Ungeheuer« machen würde. Denn Hunde müssen, wie man weiß, dreimal oder mehr am Tag spazieren geführt werden. Und wenn die Nachbarin mit dem Hund circa zwei Minuten weg war, würde er sich aus seinem Zimmer schleichen, in dem er sich versteckte, falls die Nachbarin etwas zu spät losgehen würde, und er in die Schule rennen musste. Er wollte nicht, dass seine Mutter wusste, dass er Angst vor dem Hund hatte.

Am ersten Schultag brachte seine Mutter ihn in die Schule. Da brauchte er keine Angst vor dem riesigen Ungeheuer zu haben. Doch am zweiten Schultag musste seine Mutter arbeiten gehen, und er musste allein in die Schule. Aber er hatte sich zum Glück einen Plan ausgedacht, den er genau so anwenden konnte, nur dass er sich nicht in seinem Zimmer zu verstecken brauchte. Es war schon fünf nach neun. Max rannte zur Schule, wobei er überlegte, ob er noch mit der Ausrede durchkommen würde, dass er verschlafen hatte und dann auch noch dachte, sie hätten zur zweiten Stunde Schulbeginn.

Als er in der Schule angekommen war, war es schon zehn Minuten vor halb zehn. In der Klasse fragte die Lehrerin gerade, ob jemand wüsste, wo Max ist. Da kam Max herein.

Die Lehrerin fragte ihn: »Max, warum kommst du so spät? Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr.«

Dann erzählte er doch die Ausrede, die er sich auf dem Weg überlegt hatte, weil ihm nichts anderes einfiel. Den Rest des Schultages nannten ihn alle Kinder aus seiner Klasse nur noch »Zu-Spät-Kommer«. Als die Schule vorbei war, wusste Max, dass es so nicht weitergeht.

Die nächsten Tage klappte es sehr gut. Seine Mutter brachte ihn jeden Tag mit dem Auto bei der Schule vor der Arbeit vorbei. Aber jetzt hätte Max auch genauso gut allein in die Schule gehen können, denn das »Monster« sprang und rannte nun nicht mehr am Zaun entlang, sondern lag den ganzen Tag nur faul davor. Und dick war es auch noch. Das Ungeheuer sah so sogar richtig niedlich aus. Aber das war bestimmt nur ein fauler Trick von dem Monster. Eines Tages kam Max fröhlich aus der Schule nach Hause. Doch dies war sofort wieder vorbei, als seine Mutter ihm sagte, dass er zu den Nachbarn ’rübergehen und ein Paket abholen sollte. Das Ungeheuer sprang zwar nicht mehr am Zaun entlang, aber auf das Grundstück gehen wollte er trotzdem nicht. Also ging er nach zehn Minuten zu seiner Mutter und erzählte ihr, dass die Nachbarn nicht da gewesen seien.

Etwa eine Woche später (als Max gerade in der Schule war) kam die Nachbarin ’rüber und fragte, ob sie denn keinen Zettel bekommen hatten, dass ein Paket für sie drüben ist. Dann besprachen die beiden Frauen noch etwas über den Hund.

Als Max zwei Wochen später aus der Schule nach Hause kam, sagte seine Mutter zu ihm: »Max, komm, wir gehen zu den Nachbarn ’rüber.«

Max ging ängstlich an der Hand seiner Mutter. Der Hund lag nicht mehr vor dem Zaun! Max schaute sich nach dem Ungeheuer um, denn er wollte nicht von dem Monster von hinten angesprungen werden. Die Nachbarin führte sie dann hinter das Haus in den Garten. Dort lag das Ungeheuer mit fünf kleinen Welpen.

Die Nachbarin sagte: »Max, du kannst dir eines aussuchen und es in vier Wochen mit zu dir nehmen.«

Max suchte sich das Kleinste aus, mit zwei weißen Flecken auf dem Bauch.