Milena Schedle (11)

Vermisst

»Das gibt’s doch nicht!«, stöhnte Julia schockiert. »Das gibt’s doch nur im Film!«

Doch sie war nicht die Einzige. Auch die anderen der Mädchenbande »Die mutigen Fünf« wussten weder ein noch aus vor Verzweiflung. Ja, das waren sie. Die mutigen Fünf. Julia, Laura, Lena, Elena und Anna. Die Fünf hatten sich zusammen für eine Woche Schreibzeit, ein Camp, in dem man Geschichten schrieb, angemeldet und waren zusammen hierher gefahren. Bloß Anna musste noch etwas mit ihren Eltern erledigen und sagte, sie würde nachkommen. Doch sie blieb verschwunden. Sie hatten sich keine übermäßigen Sorgen gemacht. Vielleicht hatten sich Annas Eltern verfahren, und Anna würde später ankommen. Doch sie kam nicht. Als der Begrüßungsabend vorbei war und alle auf ihre Zimmer gingen, beschlossen sie, aufzubleiben, bis Anna kommen würde. Damit sie nicht einschliefen, stellten sie den Fernseher an.

Sie fanden auch einen witzigen Film, aber plötzlich wurde er unterbrochen.

Ein Mann in Polizeiuniform kam ins Bild und sagte ernst: »Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Hier eine Vermisstenanzeige: Die Grazer Kriminalpolizei sucht die elfjährige Anna Huber, die heute, den 19.08.2006, seit 15.30 Uhr vermisst wird. Laut Frau Huber sollte sie vor der Reise in ein Literaturcamp in der Nähe von Graz noch schnell einige Besorgungen erledigen. Davon kehrte sie nicht zurück. Anna Huber hat braunes Haar und dunkelbraune Augen und war mit Bluejeans, einem gelben Pullover und roten Sandalen bekleidet. Auf Anna Huber hat man eine Belohnung von 2000 Euro ausgesetzt. Informationen über die Verschwundene nimmt jede Polizeidienststelle entgegen. Doch Vorsicht:«, der Polizist setzte eine bedeutungsvolle Miene auf, »Es wird nämlich vermutet, dass Anna Huber von dem unbekannten Kidnapper geschnappt wurde, der in Österreich bereits siebenmal zugeschlagen hat. Einen schönen Abend noch, auf Wiedersehen.«

Der Film ging wieder weiter.

Doch niemand hatte darauf Lust. Sie waren schockiert und besorgt. Und sie hatten Angst. Große Angst. Sie sperrten die Türe zweimal ab und verbarrikadierten das Fenster. Danach fühlten sie sich etwas sicherer. Aber Sorgen machten sie sich trotzdem noch.

Sie schliefen direkt neben dem Betreuerzimmer. Die Wände waren dünn. Sie hörten die Betreuer reden. Nach ihren Stimmen zu schließen, hatten sie auch gerade die Vermisstenanzeige gesehen.

Man hörte die Angst aus ihrem Tonfall. »Das ist schrecklich! Wie bringen wir es nur Annas Freundinnen bei?«

»Gar nicht natürlich! Sie würden nur Albträume bekommen.«

»Doch. Sie müssen es wissen. Sie haben ein gutes Recht zu erfahren, warum ihre Freundin wahrscheinlich nicht mehr kommen wird.«


Wenig später huschte Johanna, eine der Betreuerinnen, zu ihnen hinein. Sie wollte etwas sagen, aber Lena kam ihr zuvor.

»Wir wissen, was du sagen willst. Wir haben’s auch gesehen.«

Johanna sah sie erstaunt an, dann seufzte sie und ließ sich auf dem Bett nieder, das für Anna bestimmt gewesen wäre. »Wirklich tragisch. Ich hoffe nur, dass sie nicht wirklich diesem Kidnapper in die Hände gefallen ist.«

»Und was, wenn doch?«, rief Laura ängstlich.

»Wir müssen sie suchen!«, sagte Julia, in der allmählich Abenteuerlust hochkam.

Aber Johanna wurde auf einmal sehr bestimmt. »Ihr tut gar nichts! Das ist kein lustiges Detektivspiel. Dieser Kidnapper ist gefährlich. Er hat schon sieben, eventuell achtmal jemanden entführt und wird sich wohl nicht zieren, es ein neuntes Mal zu tun. Also lasst die Finger davon! Gute Nacht!« Mit diesen Worten verließ Johanna das Zimmer.

Die Mädchen konnten aber noch lange nicht einschlafen. Was ging da vor?


Um dieselbe Zeit saß Anna weinend in einer dunklen Zelle. In ihrem Kopf spielte sich noch einmal alles ab. Sie war in ein Geschäft gegangen, um eine Zahnbürste zu kaufen. Dort waren ein Verkäufer und eine Verkäuferin gewesen. Der Verkäufer hatte die Frau angewiesen, in den hinteren Teil des Ladens zu gehen und einen Kaffee zu trinken, derweilen würde er sich um Anna kümmern. Kaum war die Verkäuferin verschwunden, hatte der Verkäufer die Rollos vor den Ladenfenstern heruntergezogen, einen Revolver aus der Hosentasche genommen und Anna befohlen, vor ihm herzugehen. Sie waren durch eine Falltüre im Boden gekrochen, Anna immer mit dem Pistolenlauf im Rücken. Sie hatte nicht gewagt wegzulaufen, wohin denn auch? Der Fremde hatte sie in einen Wagen gelotst, der auf einem Parkplatz stand, zu dem sie kamen, als sie weiter durch die Falltür und einen Gang entlang gingen. Sie waren weggefahren, in einen Wald, in dem ein großes, dunkles Haus stand. In dieses Haus hatte der Mann viele winzige Zellen gebaut. Und nun saß Anna in einer und wusste nicht, was sie tun sollte. Doch da kam ihr eine Idee: Sie zog ihr Handy aus der Tasche. In ihrer Aufregung und Angst konnte sie sich nicht mehr an die Nummer der Polizei erinnern und vergaß auch darauf, dass es vielleicht gescheiter gewesen wäre, ihre Eltern anzurufen, sie dachte nur an ihre Freunde. Sie hatte Elenas Nummer gespeichert und rief sie jetzt an.


Mitten in der Nacht wurden die Mädchen davon geweckt, dass Elenas Handy klingelte. Versschlafen hob Elena ab.

Eine ängstliche Stimme sprach: »Elena, hier ist Anna. Hör zu, ich bin gekidnappt worden und sitze jetzt in einem Haus fest, dass wahrscheinlich in einem Wald bei Graz ist. Ich habe bis jetzt noch nicht einmal Wasser und Brot bekommen und weiß nicht, was ich tun soll. Überlegt euch was, okay? Tschüss!«

Es klickte. Kreidebleich erzählte Elena den anderen, was sie gehört hatte. Sie waren entgeistert. Was sollten sie schon tun?


Derweilen war Anna wieder eingefallen, dass sie eigentlich ihre Eltern hätte anrufen können. Sie wollte es nachholen, doch jetzt war der Akku leer. Also konnte sie nichts anderes tun, als auf ihre Freunde zu hoffen. Wie unbequem es in der Zelle war! Trotzdem schlief Anna schnell ein. Der Schreck und die Angst hatten sie sehr müde gemacht.

Am nächsten Tag stand neben Anna ein Glas Wasser und ein Stück hartes Brot. Der Kidnapper schien nicht mehr da zu sein. Von draußen hörte sie Stimmen. Ihre Freunde, die mutigen Fünf? Nein natürlich nicht! Es waren Wanderer. Zuerst überlegte Anna, ob sie rufen sollte, doch was konnten Wanderer schon unternehmen? Die Türe war bestimmt verschlossen, und Dietriche gehörten nicht unbedingt zur Wanderausrüstung. Weil Anna nichts einfiel, was sie sonst tun sollte, verschlang sie hungrig das Brot und lauschte den Leuten.

»Hier ist es wirklich schön, oder?«

»Jaja, Sabine. Der Leechwald. Den sollten wir uns zum Wandern merken.«

Anna hätte fast einen Luftsprung gemacht vor Freude. Sie war also im Leechwald! Dort gingen die mutigen Fünf oft hin, um ein Picknick zu machen. Besonders gut kannten sich die Freundinnen zwar nicht aus, denn der Wald war groß, aber vielleicht würden sie Anna doch finden. Das musste sie ihnen gleich berichten. Doch halt! Der Akku war ja leer. Was sollte sie nur machen?


In der Zwischenzeit hatten die Mädchen jede Freizeit besprochen, wie sie Anna finden könnten. Es war bestimmt nicht besonders klug, abzuhauen und alle Wälder zu erkunden, die es in Graz gab. Gerade als sie so besprachen, ging die Türe auf und Johanna kam herein.

»Wir haben das Programm geändert. Damit wir wieder auf fröhliche Gedanken kommen, fahren wir in den Leechwald, um dort zu schreiben. Das wird sicher schön.«

Die Mädchen fanden diese Idee großartig, denn so konnten sie wenigstens diesen Wald erkunden und nach Anna suchen.


»So, da wären wir«, meinte Johanna eine halbe Stunde später, als sie im Leechwald angekommen waren. Julia, Laura, Lena und Elena gingen tiefer in den Wald hinein, angeblich, weil es ihnen so heiß war und tiefer im Wald kühler war. Bald tauchte ein dunkles Haus zwischen den Bäumen auf. Lena ging auf die hintere Seite, um zu sehen, ob es vielleicht ein Fenster gab. Und sie fand eines, mit einem Gitter davor. Sie winkte die anderen zu sich und gemeinsam lugten sie in das Zimmer. Doch es war kein Zimmer. Eher eine Zelle. Dunkel und leer. Nur in einer Ecke hockte jemand. Und dieser jemand war …

»Anna!«, riefen sie fast gleichzeitig.

Laura steckte ihre Hand zwischen die Gitterstäbe und klopfte wild an die Scheibe.

Anna sah auf und kam freudestrahlend zum Fenster. Es war einen Spalt breit offen.

»Anna, wie geht’s dir?«, fragte Lena.

»Nicht besonders gut. Ich bin hungrig, durstig und jeden Tag kommt der Kidnapper und sagt etwas Gemeines«, antwortete Anna.

»Ist er hier?«, wollte Julia wissen.

»Nein, ich habe sein Auto wegfahren hören. Sonst schließt er es in so eine Art Garage, wegen des Nummernschildes. So war es jedenfalls, als er mich hierher gebracht hat. Ich konnte mir die Nummer nicht merken, weil ich so aufgelöst war.«

Die Mädchen waren so beschäftigt mit ihrem Gespräch, dass sie erst sehr spät bemerkten, dass sich Autogeräusche näherten. Als sie es wahrnahmen, versteckten sie sich auf der rechten Seite des Hauses. Schon bald sahen sie das Auto und den Kidnapper. Er ging zu Annas Fenster und grinste boshaft.

»Fertig. Der Erpresserbrief an deine Eltern ist im Briefkasten. Wenn sie in zwei Tagen nicht das Lösegeld bezahlen, werde ich sehr ungemütlich.«

Er fuchtelte mit der Pistole vor dem Gitterfenster herum. In diesem Moment warfen sich Julia und Laura auf ihn. Julia schaffte es, die Pistole zu bekommen und schleuderte sie in weitem Bogen tief in den Wald. Da hörte man auch schon die Polizeisirenen. Elena hatte sie verständigt. Der Kidnapper sprang in sein Auto und wollte losfahren, doch Lena hatte mit ihrem Taschenmesser die Reifen zerstochen. Die Polizisten nahmen ihm die Schlüssel zu den Zellen ab und ließen die anderen Kinder heraus, die der Kidnapper bei den anderen sieben Entführungen verschleppt hatte. Da kamen auch noch die Betreuer und die anderen Kinder der Schreibzeit angerannt, die das Polizeiauto ebenfalls gesehen hatten. Und so ging es ab zum Gericht. Dort gestand der Kidnapper alles, er wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt, und die Kinder konnten zu ihren Eltern zurück. Die vier Mädchen aber kamen in die Zeitung und wurden überall gelobt. So konnten die Fünf noch eine lustige Schreibwoche genießen.