Lorenz Müller (13)

Das Buch

Erik ging durch die Gänge der Bibliothek. Der Staub lag auf den Regalreihen, da sich schon seit Jahrzehnten niemand mehr um die Bücher gekümmert hatte, die hier ihr Dasein fristeten. Erik schauderte unwillkürlich, als er daran dachte, was hier an altem Wissen lag. Alle Bücher, die je geschrieben worden waren. Jedenfalls sagten das die Bibliothekare. Nun hatte er das Regal erreicht, das er suchte. Er ging an ihm entlang und zählte die Bücher. 23, 24, 25, 26, 27 – da war es. Das Buch, das er suchte. Die Position hatte er von einem betrunkenen ehemaligen Bibliothekar erfahren. Erik zog das Buch aus dem Regal und sah sofort, dass es schon seit Jahrhunderten nicht mehr gelesen worden war. Er las den Titel auf dem Einband. Der lautete: Das Geheimnis der Unsterblichkeit. Er hatte sehr lange danach gesucht. Die Bibliothekare verboten kein Buch. Doch sie sagten nie, wo sich ein Buch befand, von dem sie nicht wollten, dass es gelesen wurde.

Erik begann sich zu fragen, ob er mit diesem Buch tatsächlich unsterblich werden würde. Das wäre ein Traum! Er könnte sich für alles Zeit nehmen, was er tun wollte, da er über unendlich viel Zeit verfügen würde. Er steckte sich das Buch unter den Mantel. Er konnte ja nicht sicher sein, ob die Bibliothekare ihm das Buch nicht doch verbieten würden. Dann ging er durch die Gänge der Bibliothek zurück zum Eingang. Als ihm ein Bibliothekar entgegenlief, brach ihm der Schweiß aus. Doch der Mann schien sehr tief in ein Buch vertieft, denn er bemerkte Erik gar nicht. Jetzt erreichte er den Ausgang. Ein großes Tor war in die Wand eingelassen. Momentan stand es offen. Doch in drei Stunden, wenn die Sonne aufging, dann würde es sich schließen. Erik ging durch das Tor und kam in einen langen von Fackeln erhellten Gang. Von den Seiten des Gangs zweigten viele weitere Nebengänge und Türen ab, und das Ende des Gangs verlor sich in der Ferne. Nachdem er drei Gänge und vier Türen passiert hatte, bog Erik nach links ab. In diesem Gang gab es nur Türen und keine Abzweigungen. Nach kurzer Zeit hatte er seine Zimmertür erreicht und öffnete sie.

Sein Zimmer war ein düsterer Raum, dessen Einrichtung nur aus einem Schreibtisch und einem Bett bestand. Eine Kerze auf dem Tisch spendete Licht. Sie brannte immer. Wenn sie kurz davor war, auszugehen, wurde sie von den Hausdienern ausgewechselt. Seine Kleidung lag um das Bett herum am Boden. Er war ein niedriger Kopist, ausgewählt worden war er deshalb, weil er eine schöne Schrift hatte. Bald wäre es aus mit der Schreiberei, bald wäre er unsterblich. Er legte das Buch auf den Tisch und schlug die erste Seite auf. Seltsame Schriftzeichen bedeckten die ganze Seite. Das Buch war in einer Geheimschrift verfasst!

Erik sprang auf und schlug voller Wut auf den Tisch. Von der Erschütterung wurde die Kerze umgeworfen, sie fiel direkt auf das Buch. Das alte Papier begann sofort zu brennen. Erik schlug wild auf die Flammen ein, doch es gelang ihm nicht, das Buch zu retten. Im Gegenteil, durch seine wilden Schläge wurden auch die Seiten zerbröselt, die nur angekokelt gewesen waren. Nachdem das Buch verbrannt war, sank Erik auf dem Stuhl zusammen. Fünf Jahre hatte er danach gesucht. Und jetzt, da er es gefunden hatte, verbrannte es einfach. Er wusste, dass es kein zweites Exemplar dieses Buches gab. Noch einmal sah er auf die Asche. Dieses Buch war wohl nicht unsterblich gewesen.