Antonia Kranzelbinder (10)

Hilfe, wo ist mein Spiegelbild?

»Iris, aufstehen!«, dröhnte es in meine Ohren.

»Warum muss ich, noch mal, Sonntagsmorgen so früh aus den Federn?«, überlegte ich. Ach ja, Vaters Chef, Herr Timens, kam heute zu Besuch. Warum konnte ich nicht einfach den ganzen Tag im Bett bleiben und so tun, als wäre ich nicht da? Aber nein, ich musste ja unbedingt auf dem Klavier etwas vorspielen.

Meine Gedanken wurden durch ein ärgerliches Rufen gestört: »Iris! Steh jetzt endlich auf! Herr Timens kommt in einer halben Stunde!« Meine Mutter stampfte die Treppe hinauf und öffnete schwungvoll meine Zimmertür.

Ich richtete mich im Bett auf. Meine Mama holte aus dem Schrank mein rosa Rüschenkleid, das ich gar nicht mochte. Aber seit einiger Zeit regte ich mich nicht mehr über das Jucken, das ich bekam, wenn ich es trug, auf, denn es half eh’ nichts. Meine Mutter überreichte es mir, und ich kleidete mich an. Endlich war alles bereit: Herr Timens konnte kommen.

Und er kam in seiner ganzen Pracht. Er fuhr eine schwarze Limousine, die Vater so lange bewunderte, bis meiner lieben Mutter endlich auffiel, dass unser Gast schon schlotterte vor Kälte. So kam es dazu, dass Herr Timens mit seinen dreckigen Lederschuhen unser Haus beschmutzte.

Ich ging noch einmal zum Spiegel, um zu prüfen, ob meine Haare richtig saßen. Doch als ich in den Spiegel sah, sah ich – NICHTS! Keine lächelnde Iris, nur eine leere Glaswand! Vor Schreck fiel ich über mein selbst gebasteltes Puppenhaus und landete auf der Nase. Nur nichts anmerken lassen, riet ich mir und ging ein wenig bleich in unser Wohnzimmer, um Herrn Timens zu begrüßen. Ihm gefiel mein Klavierstück sehr, und somit waren meine Eltern auch zufrieden. Als es Abend war, ging Herr Timens, und ich legte mich schlafen.

Am nächsten Morgen hüpfte ich aus dem Bett, wie ich es seit Monaten nicht mehr getan hatte, gab meiner Mama einen flüchtigen Abschiedskuss und rannte aus dem Haus. Aber nicht in die Schule, sondern zu meinen beiden Freunden, Sarah und Florian.

Als ich an der Haustür anklopfte, steckte eine müde Sarah ihren Kopf aus der Haustür: »Seit wann stehst denn du so früh auf?«, fragte sie mich.

»Keine Fragen, ich muss euch etwas erzählen!«, sagte ich.

Sarah öffnete die Tür und ließ mich hinein.

Wir gingen in ihr Kinderzimmer, und ich setzte mich auf den Schreibtischsessel und erzählte, was gestern passiert war.

»Was – dein Spiegelbild ist weg?«, fragte Florian verwirrt und Sarah staunte nur.

Und ich sagte: »Ja, ihr könnt selbst schauen!«, und ich stellte mich vor den großen Wandspiegel, der auf der blauen Tapete hing, und so wie gestern Abend sah man nichts.

»Aber dann müssen wir es ja suchen!«, sagte Sarah.

»Ja, das wäre sehr lieb von euch, wenn ihr mir beim Suchen helfen würdet!«, antwortete ich.

»Aber denkt doch mal an den Schatten von Peter Pan!«, maulte Florian.

»Wenn du uns nicht hilfst, wirst du nie erfahren, warum das Spiegelbild ausgebrochen ist!«, sagte ich zuckersüß.

»Okay, ich helf’ euch, aber langsam müssen wir uns auf den Weg in die Schule machen!«, antwortete Florian.

»Zum Glück haben wir heute nur fünf Stunden!«, rief Sarah und lief auf mein Zuhause zu.

Florian und ich liefen hinterher.

Wir schmissen unsere Schultaschen auf den Flur, und Sarah wollte schon anfangen zu suchen, aber ich hielt sie auf: »Warte, so einfach geht das wirklich nicht. Ich habe in der Mathematikstunde einen Plan zusammengestellt, denn die war wirklich nicht interessant. Sarah, du siehst in meinem Zimmer noch einmal genau nach. Wenn du dort nichts findest, kommst du zu uns herunter, weil Florian und ich hier suchen, und sonst suchen wir alle im Keller. Ach ja, und das Wichtigste: Wenn ihr es seht, stört es nicht, sondern sagt es mir, denn ich werde mich mit ihm noch am besten verstehen, in Ordnung?«, fragte ich in die kleine Runde um mich herum.

»Okay«, antworteten meine Freunde, und Sarah huschte schon die Treppe hinauf.

Florian und ich suchten unten nach meinem Spiegelbild, leider ohne Erfolg, und auch Sarah hatte nichts gefunden außer ein paar Kleidungsstücken, von denen ich gar nicht gewusst hatte, sie doppelt zu besitzen. Sehr merkwürdig.

Im Keller hatten wir noch weniger Erfolg als im Obergeschoss. Dort fanden wir ein paar leere Bierflaschen und jede Menge Rattenmist. Völlig erschöpft ließen wir uns auf der Wohnzimmerbank nieder. Es vergingen einige Minuten, aber plötzlich schoss mir eine Idee durch den Kopf.

Ich sprang auf. Der Dachboden!

»Es ist auf dem Dachboden!«, rief ich und lief zur Treppe.

Sarah verstand sofort und huschte hinterher. Florian machte ein verwirrtes Gesicht, folgte uns aber. Als wir allesamt oben waren, sahen wir es wirklich. Es saß auf einer Schachtel zwischen drei Spiegeln und weinte.

»Warum weint es?«, fragte Sarah mich vorsichtig.

Ich hob nur ratlos die Schultern und ging langsam auf es zu. Es war leicht durchsichtig und hatte das Gewand an, welches ich vorgestern getragen hatte.

»Siri, warum weinst du?«, fragte ich und stellte mich hinter es.

Es drehte sich zu mir um und antwortete mit hoher Stimme: »Ich darf nicht mehr dein Spiegelbild sein, weil du so wenig in den Spiegel schaust. Das große Spiegelbild, das ist unsere Königin, hat gesagt, du bräuchtest mich nicht.«

»Aber ich hätte doch so gerne ein Spiegelbild!«, sagte ich zum Trost.

Doch plötzlich lächelte mein Spiegelbild: »Das waren Zauberworte! DANKE!«, rief es, und dann war es verschwunden.

Wir alle staunten, als wir die Begegnung mit meinem Spiegelbild hinter uns hatten.

»Warum wusstest du, dass es Siri heißt?«, fragte Florian.

»Na, weil es mein Spiegelbild ist, und da dachte ich mir, der Name von ihm wird auch verkehrtrum geschrieben.«

Als wir die Treppe ’runtergingen, ergriff Sarah das Wort: »Wo ist das Spiegelbild eigentlich jetzt?«, fragte sie.

»Na, im Spiegel natürlich«, antwortete Florian.

»Warum besuchen wir es nicht?«, fragte Sarah weiter.

»Wir besuchen es dann, wenn wir die Wohnung meiner lieben, ordentlichen Mutter aufgeräumt haben«, sagte ich und lächelte.